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Wieder einmal Sozialismus

Buchbesprechung von Atilio Boróns „Den Sozialismus neu denken“
Frederik Caselitz

Was ist denn nun eigentlich dieser Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Vielfach ausgerufen und oft beschworen, ist diese Frage dennoch nicht klar beantwortet worden. Heinz Dieterich versuchte sich bereits in einem gleichnamigen Buch an ihr und stellte Äquivalenzökonomie und direkte Demokratie in den Mittelpunkt. Mit Den Sozialismus neu denken widmet sich nun auch der argentinische Politökonom Atilio Borón dieser Frage. In den lateinamerikanischen Diskussionen über Sozialismus und Kapitalismus ist Borón sehr präsent und lieferte sich einen überaus interessanten Schlagabtausch mit Staatskritiker John Holloway und einen weiteren mit dem Empire-Theoretiker Antonio Negri. Dass nun endlich ein Buch von ihm auf Deutsch erhältlich ist, ist für die Diskussionen hierzulande sehr wichtig, da nun auch eine lateinamerikanische Perspektive zugänglich ist. Und genau dort setzt auch das Buch von Borón an. Er stellt sich in die Tradition der Dependenztheoretiker und fragt sich, warum die „Entwicklung“ – er benutzt diesen Begriff, ohne ihn genauer zu definieren – in Lateinamerika stagniert. Borón kommt zu einer einfachen These: Im Kapitalismus ist Entwicklung nicht möglich. Aus diesem Grund kritisiert er die Mitte-Links Regierungen, für ihn vor allem Argentinien und Brasilien, und fragt, „warum in Ländern wie Argentinien, Brasilien und Mexiko eine strahlende kapitalistische Zukunft weiterhin auf morgen verschoben ist, sich niemals konkretisiert, sondern im Gegenteil in immer weitere Ferne rückt“ (S. 21). 

Er unterstellt diesen Regierungen, sie würden nach wie vor neoliberale, vom IWF inspirierte Politiken umsetzen und ihre Sozialprogramme seien klientelistisch – in Venezuela Boróns Meinung nach offensichtlich nicht. Obwohl er zunächst behauptet, innerhalb des Kapitalismus gäbe es keine Alternative, legt er im zweiten Kapitel eine Alternative zum Neoliberalismus dar. Er zeigt in sieben Punkten einen „Fahrplan“, der klar an keynesianische und Dependenzideen erinnert. Er fordert die Regulation der Märkte, progressive Einkommenssteuern, Politik gegen Armut und nicht gegen die Armen, Streichung der Auslandsschulden, alles in allem einen regulierten Staatskapitalismus mit starkem Binnenmarkt. Also ist anscheinend doch eine „entwicklungsfördernde“ Alternative möglich und Lula, Kirchner usw. trauten sich einfach nicht, sie umzusetzen. Dieser Widerspruch in seiner Argumentation ist so offensichtlich, dass man die ganze Zeit darauf wartet, wie er ihn denn rechtfertigen wird – man wartet vergeblich. 

Im dritten Kapitel wirft er dann erneut dem Keynesianismus sein Scheitern vor und fordert einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Hier frage ich mich dann wirklich, warum er den „Fahrplan“ überhaupt geschrieben hat. Ist er nun nur gegen den Neoliberalismus oder gegen den Kapitalismus allgemein? Wenn es denn eine innersystemische Lösung gibt, warum ist dann eine außerhalb des Kapitalismus unbedingt nötig? Auch wenn seine Lösungswege quasi als Schritte zu verstehen sind (was machen wir als erstes und was langfristig?), so ist seine Rhetorik dabei doch etwas unverständlich. Wie dem auch sei, im Schlusskapitel kommt er dann zum eigentlichen Thema, wie man den Sozialismus neu zu denken habe. Das zentrale Argument ist, der Sozialismus müsse flexibel an die Bedingungen des jeweiligen Landes angepasst werden und somit aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Den Bedingungen entsprechend müsse es laut Borón einen Mix geben aus privaten, staatlichen und gemeinschaftlich verwalteten Wirtschaftsformen. 

Leitlinien des „neuen“ Sozialismus findet Borón dennoch, und zwar fordert er den Vorrang des Gebrauchswertes vor dem Tauschwert, eine neue Beziehung zur Natur, die Demokratisierung aller Sphären des sozialen Lebens und das Prinzip der Interkulturalität. Dabei verteidigt er die alten sozialistischen Ansätze auch gegen ihre linken Kritiker und zitiert häufig Chávez und Castro, denen er offensichtlich sehr nahe steht. Die sozialen Bewegungen hingegen warnt Borón, sich nicht gänzlich von Parteien als Organisationsform zu lösen: Nur wer die Macht erlangen möchte, könne auch die Welt verändern – eine Umkehrung der Hollowayschen These. (siehe Buchbesprechung ila 342) So schön sich die Ziele Boróns auch lesen, so verkürzt ist seine Kritik an der globalen Ordnung. Er beschäftigt sich nicht mit den Gründen dafür, warum nationale Ökonomien den Gebrauchswert unterordnen und die Natur zu einer Ware deklarieren, damit sie sich in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt durchsetzen können, sondern unterstellt quasi den Führern der Länder Bösartigkeit. Dabei schneiden insbesondere Lula und Kirchner sehr schlecht ab: Dass Borón ihre politischen Linien in einem Atemzug mit denen von Mexikos Calderón nennt, spricht Bände. 

Insbesondere Chávez und Castro dagegen werden als Vorbilder dargestellt. Dass das Projekt Bolivien gar nicht explizit erwähnt wird, ist auch bezeichnend, da es ja eindeutig weniger autoritär (sagen wir besser „etwas weniger“ – d. Säz.) regiert wird als die anderen „Sozialismen“. Treffend kritisiert Borón den orthodoxen Marxismus dafür, dass er sich nur auf die Arbeiterklasse fokussiere und die Vielzahl der Subjekte nicht anerkenne. Viel weiter als die Grundannahmen etwas zu relativieren ist Borón aber nicht gekommen. Hohe Zielsetzungen, aber wenig Grundlagenforschung darüber, warum die Ziele nicht erreicht worden sind. Seine Schlussfolgerung: Die „Kräfte der Linken aber (müssen) über genügend theoretische Klarheit verfügen, um die nationale und internationale Stimmung korrekt zu deuten“(S. 110). Diesem Anspruch wird das Buch selbst allerdings nicht ganz gerecht. Dennoch ist es ein wichtiger Beitrag über den Stand der linken Ansätze in Lateinamerika. 

Atilio Borón: Den Sozialismus neu denken. Hamburg, VSA Verlag, 2010, 119 Seiten, 12,80 Euro