ila

Venezuela von links unten

Einblicke in wenig beachtete Aspekte des bolivarianischen Alltags

Das bolivarianische Venezuela unter Hugo Chávez hat es gemeinhin nicht leicht in den Medien. Kritisiert werden Populismus, autoritäre Tendenzen, fragwürdige außenpolitische Bündnisse, die Verteilung der Erdöleinnahmen etc. pp. Um diese altbekannten – zum Teil berechtigten – Vorwürfe soll es jedoch im Folgenden nicht gehen. Ende 2010 erreichte uns ein Bericht, dessen Grundtenor nicht per se antichavistisch, sondern dem „bolivarianischen Prozess“ gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt ist; allerdings nimmt er bisher wenig dargestellte Probleme und Fehlentwicklungen in den Fokus. Die angesprochenen Themen, u.a. Morde und Straflosigkeit, die wenigen, aber sehr unterschiedlichen AnarchistInnen in Venezuela, die Missachtung von indigenen Rechten, die Situation von politischen Gefangenen und die Verfolgung linker Oppositioneller sowie patriarchale Kontinuitäten, fanden wir so interessant, dass wir sie unseren LeserInnen nicht vorenthalten möchten.

Nur einige Beispiele: „28 Morde in 36 Stunden“ oder „303 Morde in 21 Tagen“ lauteten Schlagzeilen in den Tageszeitungen von Caracas Ende November 2010. Die Mordrate beläuft sich im genannten Zeitraum somit auf 15 Fälle pro Tag. 2009 gab es im ganzen Land über 16 000 Morde, ca. 50 am Tag. 1998 waren es noch 4500 Morde im Jahr – eine enorme Steigerung unter einer „sozialistischen“ Regierung, die durch eine Vielzahl von Sozialprogrammen die Armut gesenkt, die Analphabetenrate auf nahezu null gedrückt und die medizinische Versorgung erheblich verbessert hat. 

Bei den Morden geht es oft um Drogen oder Raubüberfälle, bei denen Blackberrys, Motorräder etc. gewaltsam entwendet werden. Die Motive sind sehr vielschichtig: Dazu zählen die Zunahme des Drogenkonsums und -handels, Waffen- und Drogenschmuggel aus Kolumbien zur Destabilisierung von Venezuela, Straflosigkeit der Polizei und der sogenannten Gangs; einfache Antworten scheint es nicht zu geben. Laut einer Statistik der Regierung waren in den Jahren 2000 bis 2007 7243 Polizeibeamte und Militärs an Morden direkt beteiligt. In allen diesen Fällen gab es keine Anzeichen von Widerstand oder Konfrontationen, so die Staatsanwälte in ihrem Bericht. Nur 1237 wurden angeklagt und 412 wurden letztendlich verurteilt – das sind sechs Prozent. Die Straflosigkeit liegt somit bei weit über 90 Prozent.1 Dazu kommt die Korruption der Polizei. Geringe Löhne sowie eine hohe Militarisierung im Land (es gibt 123 verschiedene Polizeikörperschaften, Milizen, Guardia Nacional etc.) und die starke Polarisierung der Gesellschaft tragen ebenfalls dazu bei. Interessant wäre es zu untersuchen, welchen Einfluss die positive Vermittlung militärischer und patriarchaler Werte, wie das Idolisieren und Ikonisieren von Personen wie Chávez, Bolívar, Zamora, Sucre (Heldenfiguren der venezolanischen Geschichte, alles Militärs), auf die Gesellschaft hat. Im Zusammenhang mit der nichtvorhandenen Präsenz der Polizei bzw. der Dominanz von Gangs mit Duldung der Polizei konnte nur in einigen wenigen Orten durch die autonome Selbstorganisierung die Vorherrschaft von (Drogen)-Clans etwas gebrochen werden, wie etwa in dem Barrio 23 de Abril in Caracas. Während die rechte Opposition das Thema ausschlachtet und einen harten Sicherheitsdiskurs fährt, wird das Thema von der Regierung sowie den Chavistas und Internationalistas oft bagatellisiert. Doch es bleibt eine traurige Realität. 

Laut Schätzungen soll es nicht mehr als 100 AnarchistInnen in ganz Venezuela geben. Einer von ihnen, Rafael Uzcátegui, hat ein Buch geschrieben: „Venezuela: Die Revolution als Spektakel – eine anarchistische Kritik an der bolivarianischen Regierung”. Das Buch deckt Widersprüche, etwa in der Erdölpolitik, auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf Themen wie den Umgang mit den Indígenas oder auch die staatliche Repression. Aber, und das ist das Problem, Rafael U. veröffentlicht auf einer Website, die sich www.soberania.org nennt und auf der auch Neoliberale, QuerfrontlerInnen, Rechte bzw. Personen schreiben, die mit zum Teil rassistischen und sexistischen Karikaturen und Vergleichen arbeiten. Dort sind mehr als zweifelhafte Vergleiche zu finden, die sehr an totalitarismustheoretische Diskurse erinnern: zum Beispiel Chávez = Diktator, Chávez als Hijo de Putin (als „Sohn der Hure Putin“) und Putin als Tier abgebildet. Dann ist von den Sozialprogrammen von Chávez die Rede, die als „Führer“ (auf Deutsch!)-Programme in Anspielung auf Hitler bezeichnet werden. Unverhohlen wird das Regime in Venezuela als faschistisch bezeichnet, untermalt mit Fotos aus dem Warschauer Getto.2 Auf dieser Seite schreiben auch Ex-Guerilleros (FALN-FLN) wie etwa der 78-jährige Marxist Douglas Bravo.

Die libertäre Zeitung „El Libertario“ existiert seit 15 Jahren. Themen der letzten Ausgaben waren: Politische Repression, Indígenas, Umwelt, Anti-Wahl, Energiepolitik, Anarchismus, Arbeitskämpfe, Feminismus, Internationalismus. Wir trafen uns mit jemandem, der sich selbst eher als „Anarcho-Chavist“ sieht. Also jemand, der Anarchist ist, aber gleichzeitig Chávez unterstützt, weil er glaubt, dass nur durch ihn Freiräume entstanden sind und weiter existieren können, die es ermöglichen, dass sich langfristig eine größere Anzahl von Menschen an den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen beteiligen können und werden. Die lupenreinen AnarchistInnen bezeichnet er als zum Teil realitätsfern und bemängelt, dass sie praktisch keine Arbeit in den Barrios machen würden. Viele hätten den Kontakt zur Basis, den Menschen, verloren und somit auch ihren möglichen Einfluss. Ihre Kritik sei oft lesenswert, aber ihre Politik hätte sie noch mehr in die Marginalisierung getrieben. María, eine andere Anarchistin wiederum, meint, dass das so nicht stimme – sie hätte immer in den Barrios an der Basis gearbeitet. Ihrer Meinung nach seien sie einfach sehr wenige und hätten es deshalb auch schwer, vor allem weil in der Linken kommunistische, sozialistische und marxistische Gruppen und Ideen dominieren würden. Gleichzeitig ist für sie jedoch auch klar: Die Veröffentlichungspraxis auf jener Website sei nicht akzeptabel und auch nicht repräsentativ für die venezolanischen AnarchistInnen. 

María lebte mehrere Jahre in einer indigenen Gemeinde und berichtete von den Schwierigkeiten mit der Chávez-Regierung. Im Amazonasgebiet gab es starken Widerstand der Indígenas gegen eine riesige überirdische Elektrizitätsleitung, die Hunderte von Kilometern durch ihr Gebiet geht, um an Brasilien Strom zu verkaufen. Die Indígenas hatten zum Teil die Leitungen beschädigt und Sabotage geleistet; schließlich sei aber trotzdem alles gebaut worden. Vom Strom selber haben sie nie etwas abbekommen. Ganz gleich welche Regierung gerade am Ruder sei, diese Indígenas seien stets an einem Leben nach ihren Vorstellungen auf ihrem Gebiet gehindert worden. Etwa 47 indigene Nationen leben in über 2000 Gemeinden in Venezuela. Ihr Anteil beträgt 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung (26 Millionen). Immer wieder kam und kommt es zu Konflikten, weil die Regierung in den Indígenagebieten Militärbasen baut oder Rohstoffe fördert und somit nicht nur die Umwelt beeinträchtigt, sondern auch die Grundlagen ihrer Subsistenzwirtschaft zerstört. Bei der Rohstoffförderung (im nationalen Interesse der Regierung) werden zumeist die betroffenen Indígenagemeinden entweder gar nicht oder unzureichend informiert – und noch viel weniger vorab konsultiert.

Ein Beispiel sind die Umweltverschmutzungen durch Gasförderung bei den Kariñas im Bundesstaat Anzoategui, wo Methangas den Fluss Tascabaña verunreinigt und unbenutzbar gemacht hat. Die Gasförderung erfolgt hier durch den staatlichen Erölkonzern PDVSA. Ein anderes Beispiel betrifft die Kohleförderung im Bundesstaat Zulia auf einem Gebiet von 100 000 Hektar, wo die indigenen Gemeinden der Yupka, der Wayuu und der Bari leben. Der Konzern Carbozulia arbeitet dort mit dem holländischen Konzern Alkyon Hidraulic Consultancy and Research zusammen. Die Wayuu waren 2007 auf einem Interkontinentalen Treffen der ZapatistInnen in der Selva Lacandona in Chiapas (Mexiko), wo sie von ihrem Kampf gegen die Energiepolitik der Regierung berichteten. Von internationalistischen US-AmerikanerInnen, die noch nie in Venezuela gewesen waren, wurden sie zurechtgewiesen, wie sie es denn wagen könnten, so negativ über die bolivarianische Revolution zu reden. Sie seien ja wie Rechte. Die Wayuu entgegneten: „Wir sind weder Chavistas noch Anti-Chavistas. Wir sind Indígenas gegen Kapitalismus und Imperialismus und wollen auf unserem Land leben. Und wart ihr denn schon mal in den Indígenagemeinden in Venezuela? Nein? Ok, wieso redet ihr dann so, als ob es dort keine Probleme gäbe?“

Obwohl die Verfassung den Indígenas ihr Land offiziell zugesteht, hapert es an der Umsetzung. Von 2005 bis 2009 sind von der Regierung 40 kollektive Landtitel an 73 Indígenagemeinden vergeben worden. Das sind bei landesweit 2295 indigenen Gemeinden drei Prozent. In dem Tempo würde es noch 125 Jahre dauern, bis alle ihre offiziellen Landtitel besitzen. Und in einigen Gebieten passiert wenig bis gar nichts hinsichtlich der Übergabe von Land oder der Grenzziehung, so zum Beispiel in Amazonas, Bolívar, Delta Amacuro, Zulia und de Edos – alles Gebiete mit einem hohen Bevölkerungsanteil von Indígenas.

Rubén González steht als politischer Gefangener seit dem 24. September 2009 unter Hausarrest, seit Januar 2010 sitzt er im Gefängnis. Als Mitglied der sozialistischen Regierungspartei und als Funktionär der Gewerkschaft Sintraferrominera nahm er 2009 an einem 14-tägigen Streik der eisenverarbeitenden Staatsfirma CVG Ferrominera Orinoco C.A. teil. Die Arbeiter beschlossen den Streik, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen bzw. weil die Firmenleitung die Vereinbarungen des Tarifvertrages gebrochen hatte.  Ein „normaler“ Streik von ArbeiterInnen gegen die Unternehmensspitze –  ein Arbeitskonflikt, wie er auch an jedem anderen Ort der Welt hätte stattfinden können. Nachdem der Streik nach zwei Wochen abgebrochen worden war, wurden alle Forderungen der Arbeiter problemlos und vollständig erfüllt. Als Sprecher der Gewerkschaft wurde Rubén González als einziger verhaftet und angeklagt, einen „wilden Streik” organisiert und angeführt zu haben. Die Festnahme erfolgte quasi als abschreckende Maßnahme. González wurde außerdem aus der sozialistischen Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) ausgeschlossen. Ein hohes Parteimitglied aus dem Bundesstaat, wo der Streik stattfand, erklärte, dass es schließlich nicht angehe, in „einem Staatsbetrieb” zu streiken. Auch Chávez selbst hatte sich zu einer anderen Gelegenheit ähnlich zu eventuellen Streiks in Staatsbetrieben geäußert. Im Anschluss an eine Veranstaltung zur Freilassung von Rubén González an der Universität von Caracas (UCV) wurde eine Plattform für seine Unterstützung gegründet.

Die Zeitschrift „El Libertario“ nennt die Zahl von 130 ermordeten ArbeiterInnen in Arbeitskonflikten zwischen 2002 und Juli 2010, die entweder von Auftragsmördern oder der Polizei getötet worden sind. So soll die Polizei am 21. Januar 2009 während eines Arbeitskonfliktes bei dem Konzern Mitsubishi die beiden Arbeiter José Javier Marcano Hurtado und Pedro Jesús Suárez Barcelona ermordet haben. Als politischen Gefangenen sehen die Yupka-Indígena auch Sabino Romero, der seit 2009 einsitzt, weil er angeblich einen anderen Indígena erschossen haben soll. Die Yupka fordern jetzt, zusammen mit der Familie und der indigenen Nation des Erschossenen, seine Freilassung. Außerdem fordern sie ihr eigenes Rechtssystem ohne Interventionen von Seiten des Staates – ein Recht, das sogar in der neuen bolivarianischen Verfassung garantiert ist. Zu dem eigenen Rechtssystem gehört u.a. eine Form der Wiedergutmachung gegenüber den Familien der Betroffenen (in diesem Fall des Ermordeten), die das venezolanische Strafsystem so nicht kennt. In Caracas gab es Anfang November 2010 eine Demo von ca. 200 Indígenas, u.a. den Yupkas, die von der Regierung die Freilassung Sabino Romeros sowie zweier weiterer Indígenagefangenen forderten.

Zu staatlicher Repression kam es auch bei polizeilichen Hausräumungen. Von den über 200 besetzten Gebäuden in den letzten drei Jahren in Venezuela sind 127 geräumt worden. Besetzt werden oft leere Wohnkomplexe, die zum Teil riesig und nicht fertiggestellt sind, oder Häuser, die seit Jahren leer stehen. Bei einer Massenräumung am 20. März 2009 in El Kilómetro 1 an der Carretera El Tigre in der Stadt Bolívar (Bundesstaat Anzoategui), wo 1400 Familien geräumt wurden, erschossen Polizeieinheiten den 23-jährigen José Gregorio Hernández.

Auf einem Kongress zu Gender und Krediten wurde vorgestellt, wie die BANMUJER, eine Bank, die ausschließlich Kredite und Mikrokredite an Frauen vergibt, im Einzelnen funktioniert. Seit 2003 sind mehr als 100 000 Kredite an Kooperativen (mit zwei bis neun Frauen) vergeben worden, um deren ökonomische Unabhängigkeit zu fördern. Im Zuge der Kreditvergabe kommt es oft zu Gesprächen über die familiäre Situation der Frauen und über häusliche Gewalt durch ihre Ehemänner. Das führt am Ende des Vergabeprozesses häufig dazu, dass die Frauen ihre Ehemänner verlassen – dabei werden sie von den Teams der Bank, die für die Kredite zuständig sind, unterstützt. Der Kongress wurde vom CEM, dem Zentrum für Frauenstudien der UCV unterstützt. Das CEM veröffentlicht auch die Zeitschrift „Revista Venezolana de Estudios de la Mujer“, ein mehrmals im Jahr erscheinendes theoretisches Magazin, in dem die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft und die „patriarchale Revolution“ kritisiert, aber gleichzeitig der „Prozess“ und die Regierung Chávez unterstützt werden, weil die Herausgeberinnen glauben, dass in dieser Konstellation Veränderungen möglich seien.