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Lateinamerikanischer Kommunismus in den zwanziger Jahren

Ein interessanter Band mit Aufsätzen des 1996 verstorbenen Leipziger Historikers Jürgen Mothes
Reiner Tosstorff

Die Geschichte der lateinamerikanischen Linken erschöpft sich keineswegs in der cubanischen Revolution und der ihr folgenden Guerilla der sechziger Jahre oder in der Entwicklung in Chile unter der Regierung der Unidad Popular (1970-73). Schließlich bauten diese Bewegungen auf vorhergehenden auf, ohne die sie nicht denkbar gewesen wären. Und so sollte uns auch diese Geschichte interessieren.

Das gilt etwa für die infolge der Oktoberrevolution gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) und ihre Einwirkungen auf Lateinamerika. Diesem Thema hatte sich ganz der 1996 im Alter von 51 Jahren leider allzu früh verstorbene Leipziger Historiker Jürgen Mothes gewidmet. Ein Sammelband vereinigt nun eine Reihe seiner Aufsätze. Es ist der neueste Band in der „roten Reihe“ der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Beiträge zur Geschichte des Linkssozialismus und Kommunismus im Karl-Dietz-Verlag. Damit wird erfreulicherweise zum ersten Mal der Blick über Deutschland hinaus gerichtet.

Begonnen hatte Mothes mit seinen Forschungen noch in den siebziger Jahren, im Rahmen der „Leipziger Schule“ der vergleichenden Revolutionsforschung um Manfred Kossok und Walter Markov. Zur damaligen Zeit bestand kein freier Zugang zum Komintern-Archiv in Moskau. Trotzdem blieb er hartnäckig. Es gelang ihm noch, Veteranen der Komintern in Moskau und Havanna zu interviewen. Doch erst mit dem Ende der Sowjetunion war wirklicher Quellenzugang möglich. Allerdings ergab sich nun im Gefolge der politischen Umwälzungen auch ein neuer Fokus. „Parteiliche“ Zwänge, (oft genug nur scheinbare) Erfolge zu preisen und Fehler oder Versäumnisse unter den Tisch fallen zu lassen, existierten nun nicht mehr. Und so richtete sich sein Blick auf die unorthodoxen Strömungen, wie beim Peruaner José Carlos Mariátegui (1894-1930) oder beim Schweizer Komintern-Sekretär Jules Humbert-Droz (1891-1971), und damit auf die Bemühungen, sich der Realitäten der lateinamerikanischen Gesellschaft(en) als Ausgangspunkt für eine kommunistische Strategie zu versichern. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Zeit des Umschlags der Bewegung im Gefolge der Stalinisierung ab 1928/29.

Als DDR-Historiker, der als Hochschullehrer bei den Studierenden beliebt war, litt er aber nach 1990 auch an den Folgen der Abwicklungen. Nach der Vereinigung wurde pauschal der Ideologieverdacht erhoben, der natürlich ein Themengebiet wie „vergleichende Revolutionsforschung“ trotz weltweiter Anerkennung der „Leipziger Schule“ besonders treffen musste. Auch an der DDR-Lateinamerikanistik mit ihrem interdisziplinären Zentrum in Rostock bestand kein Interesse mehr. Unter großen Mühen gelang es ihm dennoch, die neuen Möglichkeiten nach der Archivöffnung zu einer Reihe von Arbeiten auszunutzen. Schließlich schien es dann 1996, durchaus auch durch Hilfestellung westdeutscher Historiker, doch noch möglich, dass er seine Forschungen zur Kommunistischen Internationale mit gesicherter Förderung zumindest für eine Reihe von Jahren weiterführen könnte. Die Anstrengungen einer damit verbundenen Reise nach Peru erwiesen sich dann jedoch als zuviel.

Der emeritierte Hannoveraner Soziologe Klaus Meschkat, der das auf die Initiative von Jürgen Mothes zurückgehende Biographien-Projekt zur Komintern mitgeleitet hat und selbst eine umfassende, leider nur auf Spanisch erschienene Dokumentation zur Komintern und Kolumbien erarbeitete, hat es nun unternommen, seine wichtigen Aufsätze der neunziger Jahre zu sammeln und hier vorzulegen. Dazu geben er und der Leipziger Historiker Hans Piazza Einführungen. Eine Bibliographie seiner Arbeiten sowie biographische Informationen runden den Band ab.

Es ist Mothes' Schicksal gewesen, dass hier nur ein begrenzter, allerdings wichtiger Zeitabschnitt des lateinamerikanischen Kommunismus erkundet wird. Zweifellos hätte er seinen Blick auf die ganze Zeit der Komintern gerichtet: von ihrer Entstehung, was in Lateinamerika vor allem die Auseinandersetzung mit dem bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dominierenden Anarchismus und Anarchosyndikalismus bedeutete, bis zu ihrer Auflösung 1943, im Zeichen der Allianz der Sowjetunion mit den Westmächten. Auch wenn die Geschichte des lateinamerikanischen Kommunismus heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, so ziemlich aus der akademischen Forschung verschwunden ist, zeigt sich hier bei seinen Aufsätzen, was dazu aus den Archiven herausgeholt werden kann. Das dient nicht nur rein wissenschaftlichen Interessen, sondern lässt sich auch anhand der Diskussionen über den gesellschaftlichen Charakter Lateinamerikas und die Traditionen der sozialen Bewegungen politisch fruchtbar machen. 

Jürgen Mothes, Lateinamerika und der „Generalstab der Weltrevolution“. Zur Lateinamerika-Politik der Komintern. Hrsg. von Klaus Meschkat. Reihe „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“, Band XIV. Karl Dietz Verlag, Berlin 2010. 264 S., geb., 24,90 Euro