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Wir sind kein Post-Krisen-Kollektiv

Interview mit Gastón Pepe von Cuatro Pesos de Propina aus Montevideo

Sie gelten als DIE Politband Uruguays, treten bei Gewerkschaftsmobilisierungen, Fabrikbesetzungen oder Großdemos auf: Cuatro Pesos de Propina – „Vier Pesos Trinkgeld“ – propagieren (ihre) Autonomie und sind dabei ganz schön erfolgreich und beliebt. Ihre Musik ist, abgesehen von dem einen oder anderen intimeren Stück, extrem tanzbar, die Texte ziemlich kritisch. Gastón Pepe ist Percussionist der Band. Andrés Renna traf ihn im Stadtteil Palermo, wo jeden Sonntag die afrouruguayischen Candombe-Umzüge stattfinden.

Andrés Renna

Cuatro Pesos de Propina gibt es seit dem Jahr 2003, stimmt's?

Eigentlich tat sich schon vor zehn Jahren eine Gruppe von Schulfreunden zusammen: ein Schlagzeuger, ein Gitarrist und ein Pianist. Dann kam der Sänger Diego dazu, 2003 stießen ich und weitere zur Band. Am Anfang wollten wir wirklich nur Musik machen, stundenlang, ohne nachzudenken oder sich Texte zu überlegen. Die Gruppe bekam ihre eigene Dynamik, langsam entwickelten sich die ersten Liedtexte. Und das Lied war es schließlich, das aus uns eine Band machte. Als wir z.B. an dem Stück „Latino“ arbeiteten, das auf unserer ersten CD „Se está complicando“ ist, hatte Diego ganz klare Vorstellungen: Er hatte einige Interviews gehört, in denen erzählt wurde, dass die Latinos in Europa nicht nach ihren Nationalitäten unterschieden, sondern alle in einen Topf geworfen würden. Hier hingegen wollen wir uns ständig von den anderen abgrenzen, anstatt zu sehen, was uns eint. Als also dieses Lied aufkam, bezog die Band unweigerlich Stellung. Das eröffnete uns eine weite Welt von Debatten, in der wir uns bis jetzt auch weiterhin bewegen.

Ich dachte immer, die Band sei ein Produkt der schweren Wirtschaftskrise Anfang der 2000er Jahre in Uruguay ...

Das sind zwar die Begleitumstände, aber wir sind kein Post-Krisen-Kollektiv. Natürlich stellten wir uns damals die Frage, warum wir Musik machen. Tatsächlich haben wir zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gesagt: um die Welt zu verändern! Das konntest du aber nicht zu oft sagen. Irgendwann haben wir dann selber Witze darüber gemacht. Aber um das ein wenig herunterzubrechen: Wir machen Musik, um über bestimmte Themen zu reden, über die nicht berichtet wird. Außerdem wollen wir das nicht auf einer CD aufnehmen, die dann von einer Plattenfirma verkauft wird, die dir sehr viel Geld klaut und immer Gewinn macht. Nein. Wenn ich dieses Lied schreibe und mir selber treu sein möchte, dann muss ich mich um alles selbst kümmern. In den Hardcore-Kreisen ging es ja schon immer darum, unabhängig zu sein; wir wollten aber im Unterschied zu ihnen von vielen Leuten gehört werden. Uns gefallen diese geschlossenen Kreise nicht, die immer nur ein Genre machen. Wir finden es toll, wenn viele Leute kommen und wir ihnen sagen, was wir zu sagen haben. 

Wir haben uns von Anfang an darum bemüht, in den alternativen Medien präsent zu sein und den großen Plattenlabeln eine klare Absage zu erteilen; außerdem haben wir auf allen möglichen Kundgebungen und Anlässen der sozialen Bewegungen gespielt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt waren wir um einiges radikaler als heute. Das war sehr gut und sehr intensiv. Wir traten für Gewerkschaften auf oder in Andenken an Raúl Sendic (Mitbegründer der uruguayischen Stadtguerilla MLN-Tupamaros, d. Red.), als es im Departement Artigas Landbesetzungen gab. Wir schrieben sofort ein Lied und wollten sofort die Besetzung vor Ort unterstützen, das geschah wie von selbst. Wir kommen sogar in einem Dokumentarfilm dieser Zuckerrohrarbeiter vor. Oder wenn wir davon erfuhren, dass ArbeiterInnen in Uruguay oder Argentinien eine Fabrik übernommen hatten, wollten wir sofort hin und sie mit unseren Auftritten unterstützen. Das war ganz toll, viele Netzwerke sind entstanden, die deiner Musik einen Sinn geben. 

Auch wenn sich am Anfang einige Dinge wie von selbst ergaben, hat die Band doch heutzutage in der Tat ihre Prinzipien?

Ja, wir haben als Band eine Reihe von Grundsätzen: sowohl politisch-ideologische Prinzipien als auch Regeln, wie wir nach innen funktionieren. Wir stimmen z.B. nicht ab, sondern entscheiden nach dem Konsensprinzip. Jeder Schritt, den wir unternehmen, ist genau beredet worden und es gibt keinerlei Hierarchien: vom Entstehen des Liedes bis hin zur Art und Weise, wie die Musik vertrieben wird. In ideologischer Hinsicht bedeutet das, dass jeder von den Cuatro Pesos de Propina seine musikalischen Projekte hat, aber unsere Band steht an erster Stelle, sie wird gehegt und gepflegt, denn sie ist für uns wie ein Instrument, das uns hilft, eine ganze Menge Aspekte aufrecht zu erhalten, die dein Alltag dich normalerweise vergessen lässt, z.B. an bestimmte Dinge zu glauben. Viele junge Leute engagieren sich ja für gar nichts mehr oder haben sehr individualistische Einstellungen. 

Es gibt kaum noch Gruppen, die einen unterstützen, und die Gruppe ist für uns sehr wichtig. Na ja, und wir wollen niemanden nerven, sondern Musik machen, Spaß haben, dabei gut klingen und die anderen gut in Schwung bringen. Musik hat schließlich etwas Heilendes, sie kann dich vor Freude aufschreien lassen oder zum Weinen bringen. Uns ist Kommunikation wichtig, und zwar als Dialog, d.h., es gibt eine Reaktion. Darüber hinaus möchten wir uns nicht zu sehr eingrenzen lassen, wir sind sehr eklektisch und gegen das Einheitsdenken. Zum Glück gehören wir keiner Partei an und sind frei von Stalinismus!

Um eine selbstverwaltete Band zu sein, ist viel Verantwortungsbewusstsein nötig.

Ja, das bedeutet viel Arbeit. Alle sagten uns, dass wir verrückt seien, dass wir damit nicht sehr weit kommen würden, wie wir denn eine Platte ohne Plattenvertrag mit einem Label herausbringen wollten, und ohne Platte wärst du nichts etc. Wir begannen aufzutreten und hatten noch keine Platte herausgebracht. Die kam erst später raus und wir verkauften 1800 CDs (die Auflage ist in Uruguay normalerweise 500). Damit waren wir sehr zufrieden, denn so etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Am Schluss sollten wir Recht behalten, dass es doch möglich ist. Wir verurteilen niemanden, der bei den Musikfirmen unter Vertrag ist oder mit Produktionsfirmen zusammen arbeitet – aber unser Ding ist das nicht. Es wird dir sehr viel abverlangt, wenn du unabhängig sein willst. Als unsere erste Platte herauskam, hast du uns eine Email geschickt, weil du sie erwerben wolltest, und die Band schickte sie dir per Fahrrad – der Sänger klingelte bei dir und verkaufte dir die CD!

Doch in dem Maße, wie die Band zurzeit wächst und Erfolg hat, wird die Selbstverwaltung doch immer komplizierter, oder?

Klar. Wir spielen z.B. nicht für Coca-Cola, Mc Donalds oder irgendein anderes multinationales Unternehmen. Und damit werden wir Probleme haben. Das ist nun mal so, sie haben das Geld. Dann musst du gucken, bis zu welchem Punkt du mitmachst oder eben nicht. René von Calle 13 hat z.B. gerade verkündet, innerhalb des Systems zu agieren und es von innen auszubeuten, was auch keine schlechte Idee ist. Früher waren wir in der Hinsicht noch etwas zugeknöpfter, viele Sachen lehnten wir ab, z.B. auch das Pilsen Rock (das größte Rockmusikfestival in Uruguay, d. Red.). Heute sind wir ein wenig älter, einige haben eine Familie gegründet, andere haben individuelle Projekte, und wir alle brauchen Geld zum Leben. Früher war das nicht so wichtig.

Eure letzte CD „Juan“ habt ihr in Argentinien herausgebracht – auch in einem unabhängigen Rahmen?

Ja, in Zusammenarbeit mit der „Vereinigung Unabhängiger Musiker“ (UMI); wir sind die erste uruguayische Band, die ihr beigetreten ist. Das Gute daran ist – wie bei jeder kollektiven Arbeit – die Netzwerkbildung. Wenn du z.B. über die UMI deine CD veröffentlichst, musst du weniger fürs Abmischen bezahlen etc. Im Moment sind wir gerade dabei, die Distribution unserer CDs zu regeln; in Uruguay verkaufen wir sie direkt an die Plattenläden und verlangen die Prozente, die wir wollen. Damit du eine Vorstellung hast: Ein Plattenlabel bietet dir zwischen 12 und 15 Pesos (44 bis 55 Cent) pro CD, wir verdienen hier hingegen 120 Pesos (4,40 Euro) pro CD.

Wie ordnet ihr euch musikalisch ein?

Wir machen eine Mischung und sind von unterschiedlichen Schulen beeinflusst, Mano Negra ist natürlich eine davon, die ganze globalisierungskritische Strömung, Ojos de Brujo ... Aber auch die Musik aus Montevideo: Eduardo Mateo, Jorge Lazaroff, die beide sehr avantgardistisch waren und ein wichtiges Erbe hinterlassen haben. Und wir bemühen uns sehr, dieses Erbe zu pflegen. Damit gehst du zu deinen Wurzeln zurück. In Montevideo ist es sehr schwierig, Wurzeln zu haben, aber es gibt schon welche. 

Jenseits aller Stile ist uns das Lied als solches wichtig: Das Lied, das mit einer Gitarre anfängt, zeigt dir, wohin der Weg geht. In der Hinsicht sind wir uns ziemlich einig, auch wenn wir das nicht immer sind. Wir arbeiten sehr stark daran, unsere eigene Identität als Band zu entwickeln, nichts einfach nur zu kopieren und uns von den guten Sachen was abzugucken. Es gibt nichts Schöneres als zu lernen.

Als ihr mit Musikmachen angefangen habt, regierte noch Jorge Batlle und das Land befand sich in einer schweren Krise. 2005 gewann die Linke die Wahlen. Wie seht ihr diesen Wandel?

Wenn du früher auf einem Konzert sagtest: „Batlle, du Arschloch“, waren alle mit dir einverstanden. Jetzt hat die Frente Amplio gewonnen und wenn du nun bestimmte Sachen sagst, kommen die Leute an: „Eh, doch nicht gegen die Linke!“ Wir sind bei vielen Anlässen aufgetreten, die von als radikal geltenden Leuten organisiert worden sind. Wir waren bei der Demo gegen den Bush-Besuch dabei, dann bei der Kundgebung gegen die Nunca-Más-Initiative der Regierung1 – eine Umarmung der Streitkräfte – und wir haben für die wenigen besetzten Fabriken gespielt sowie bei der Landbesetzung der Zuckerrohrarbeiter in Artigas. Damit haben wir als Band Stellung bezogen und uns weit aus dem Fenster gelehnt, das ist uns aber auch sehr wichtig. 

Eine Sache ist ein linker Wandel, eine andere Sache ist eine Sozialdemokratie, die einen sozialen Kapitalismus begründet. Sooft sie dir auch sagen, dass der soziale Kapitalismus solange bestehen muss, bis die Bedingungen für weitergehende Schritte gegeben sind, und dass das eine Weile dauern wird: Es gibt klare Anzeichen dafür, dass es sich hier nicht um eine wirkliche sozialistische Linke handelt. Und dann fühlen sie sich oft auch angegriffen, dabei bringen sie es doch fertig, die Gewerkschaften und den StudentInnenverband zu kooptieren. Die Leute beteiligen und engagieren sich nicht mehr, die Mobilisierungen sind schwächer geworden, die angebliche radikale Linke besteht aus immer weniger Leuten. 

Wie ist es in Uruguay unter der linken Regierung um die Kultur bestellt?

Eine neue Kaste von Leuten hat sich herausgebildet: halb fortschrittliche Leute, die gute Arbeit machen, gut drauf und offen sind und die eine neue Kulturpolitik ermöglichen, neue Foren für Poesie eröffnen und blablabla, das ist aber alles ganz schön snobistisch und verbürgerlicht. Andererseits überleben in der Stadt bestimmte Traditionen und scheinen ganz zeitlos zu sein. Der Candombe z.B.: Die Trommler gehen immer vom selben Ort zur selben Zeit los und das schon seit Ewigkeiten, dieselbe soziale Klasse spielt dort, der Brauch wird weitergegeben. Dort sind sie, kommen und gehen – egal, ob Linke, Rechte, Neofaschisten oder wer auch immer an der Regierung ist – die Typen gehen einfach jeden Sonntag raus, um zu trommeln. Und das sind wirklich Wurzeln. Natürlich gibt es auch viele andere tolle Sachen, die in Montevideo passieren. Wenn man hier lebt, ist man sich nicht immer dessen bewusst, wie wertvoll sie sind. Wenn ich den Fluss nach Argentinien überquere, treffe ich viele Leute, die total verrückt nach Uruguay und der uruguayischen Musik sind. 

Die linke Regierung hat einige interessante Ansätze in der Kulturpolitik, z.B. haben sie einen neuen Ort für die AfrourugayerInnen geschaffen. Des Weiteren wird alles unterstützt, was populare Kultur ist, Kulturzentren z.B., allerdings finde ich die Herangehensweise etwas merkwürdig. Natürlich kann jede Stadtverwaltung nur das tun, was im Bereich des Möglichen ist. Das Ding ist: Früher waren wir absolut untergetaucht, es gab zwar ein Kulturministerium, aber das war ein schwarzes Loch, man merkte gar nicht, dass es existierte. Als dann die Frente Amplio kam, sind unglaublich viele Dinge angestoßen worden. Auch wenn ich in vielen Dingen der aktuellen Regierung kritisch gegenüber stehe, muss ich doch sagen, dass natürlich viel passiert ist, was wiederum weitere Sachen ermöglicht hat. Aber es gibt noch viel zu tun.

Außerdem müssen sich alle an die Spielregeln halten, und die präsentieren dir das Land als Uruguay Productivo, als das „produktive“ Land, das den Sojaanbau akzeptiert, das sich nicht mit den GroßgrundbesitzerInnen anlegt, in dem die Reichen reich und die Armen arm bleiben und ab und zu ins Shopping-Center gehen dürfen. Die Menschen in Uruguay glauben, dass es ihnen gut geht, aber in Wirklichkeit geht es ihnen nicht gut. Und wenn du das aufbrechen möchtest – Zack! Kommt das Fallbeil runter. Wir sind vielleicht nur sehr wenige, die das so sehen, aber es ist wichtig dabei zu bleiben, d.h. die guten Dinge nicht zu leugnen, aber auf jeden Fall auch alles tiefergehend zu betrachten. 

Wir geben uns hier in Uruguay so progressiv und doch sind wir eine viel reaktionärere Gesellschaft, als es erscheint. Dabei lebt Uruguay in gewisser Hinsicht das Uruguay, das es leben möchte, das ist ja das Beschissene. Daher kommst du bei weiten Teilen der Mittelklasse mit deiner Kritik nicht an, dass wir uns in eine andere Richtung entwickeln müssten. Natürlich wollen wir uns auch nicht mit allen in unserer Gesellschaft anlegen, ich möchte mich auch nicht mit meinen NachbarInnen streiten. Wir sind zwar politisch nicht auf einer Wellenlänge, aber nun ja. Wir wollen keinen Ärger mit den Leuten, sondern wir wollen spielen. Die Musik ist schließlich eine andere Art von Kommunikation. Ich finde es toll, wenn die kleinen Jungs unsere Musik hören, wenn sie zu uns kommen und uns sagen, was sie davon halten, und dass das, was man macht, weiterhilft. Wir sind zwar keine Befreier von irgendwas, aber wir werfen manchmal wenigstens etwas in den Raum, das vielleicht etwas anderes anstößt.

  • 1. Versuch der Regierung Tabaré Vázquez zur „Aussöhnung“ mit der Vergangenheit: 2007 wollte er das „Nie Wieder“ auch auf Aktionen der Guerilla und des Widerstandes gegen die Militärs beziehen, kam damit aber nicht durch, zu groß waren die Proteste der Sozialen Bewegungen.

Das Interview führte Andrés Renna im Dezember 2010 in Montevideo. • Übersetzung: Britt Weyde

Discografie: Se está complicando, 2007 Juan, 2010