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Die einen helfen den anderen

Coumbite-Ökonomien in der haitianischen Dorfgesellschaft

Ausgerechnet auf Haiti soll es Formen solidarischer Kooperation geben, von denen der Rest der Welt etwas lernen kann? Die US-amerikanische Anthropologin Jennie Smith vertritt diese These in ihrem Buch When the Hands Are Many. Community Organization and Social Change in Rural Haiti und fordert damit die im globalen Norden vorherrschenden Meinungen über „Rückständigkeit“ und „Unterentwicklung“ des Landes unmittelbar heraus.

Malte Meyer

Schon vor dem Erdbeben und unabhängig von den Tropenstürmen wurde das offizielle Bild vom desaströsen Zustand Haitis noch durch die Benennung der Tatsache unterstrichen, dass die Mehrheit der Bevölkerung (ca. 70 Prozent) nach wie vor nicht in der Stadt lebt, sondern auf dem ökologisch stark in Mitleidenschaft gezogenen Land. Die Parzellen, die sich die ehemaligen schwarzen SklavInnen nach ihrer revolutionären Selbstbefreiung von den Franzosen angeeignet hatten, reichen schon aufgrund fortgesetzter Erbteilung kaum mehr zum Überleben aus – vom Verfall der (Welt-)Marktpreise für Kaffee oder von Bodenerosion und Verkarstung ganz zu schweigen. Aus Gründen wie diesen sehen zahlreiche ausländische BeobachterInnen, aber auch die meisten vor Ort tätigen Hilfsorganisationen kaum echte Perspektiven für jenes „ärmste Land der westlichen Hemisphäre“, als das Haiti in bürgerlichen Medien klischeehaft apostrophiert wird. Verweise auf Korruption, Ganggewalt und den Vodoukult tun in den Metropolen des Kapitals (und des Zynismus) ein übriges, um die haitianische Bevölkerung zu einer unmündigen und letztlich auch zur Selbstregierung unfähigen Masse von „Untermenschen“ zu stilisieren. So heißt es beispielsweise in einer Broschüre der US-amerikanischen Entwicklungsagentur USAID mit seltener Offenheit: „Noch immer herrscht eine Sklavenmentalität vor (…). Auf Haiti akzeptieren die Massen ihr Schicksal, kämpfen um ihr Überleben und kämpfen so hart, dass sie weder Zeit noch Energien haben, um sich für die Verbesserung ihrer Lage einzusetzen (sie sind in diesem Überlebensmodus gefangen). Ihr Leben ist von einfachem Gottvertrauen geprägt.“

Offene Rassismen wie diese, vor allem aber auch diskretere Formen neokolonialer Bevormundung waren es, die aus der US-amerikanischen NRO-Vertreterin und UN-Beobachterin Jennie Smith eine radikale Kritikerin hegemonialer westlicher Vorstellungen von „Entwicklung“ und „Demokratie“ gemacht haben. Anders als die meisten anderen NRO-MitarbeiterInnen oder AusländerInnen hat sie während ihres ersten mehrjährigen Haitiaufenthaltes Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre gemerkt, dass die Urteile wohlhabender „westlicher Helfer“ mehr über diese selbst als über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Angehörigen armer Bevölkerungsschichten verraten. Das Bild von wehrlosen, analphabetischen und noch dazu abergläubischen Opfern einer insgesamt verheerenden politischen und gesellschaftlichen Situation rechtfertigt eben nicht zuletzt Anwesenheit und Engagement von Wohltätern der internationalen Gemeinschaft. 

Aufgrund ihres ernsthaften Interesses an einer wirklichen Transformation der weltgesellschaftlichen Verhältnisse hat sich Smith deshalb vom (überwiegend weißen) Kosmos der Entwicklungszusammenarbeit immer weiter entfernt und irgendwann den Entschluss gefasst, doch lieber mit statt weiterhin von den HaitianerInnen leben zu wollen, die sie in Grand d'Anse, einem von kleinbäuerlicher Landwirtschaft geprägten Departement im Südwesten des Landes, kennen gelernt hat. Ihr Ziel, so schreibt sie in ihrem Buch, sei es gewesen, Weltsichten und Widerstandspraktiken jener Menschen ernst zu nehmen, denen der globale Norden seit Jahrhunderten Subjektivität und Handlungsfähigkeit abzusprechen versucht. Den von postmoderner Seite geäußerten Verdacht, Leute wie sie würden mit ihren Forschungsarbeiten über Formen bäuerlicher Kooperation so etwas ähnliches wie „Spionage“ betreiben, räumten haitianische NachbarInnen von Smith mit Ermahnungen der eindringlicheren Art beiseite: „Du schreibst das auf, Djeni!“ oder auch „Du erzählst ihnen gefälligst, was ich sage!“

Der auch für die NRO-Dissidentin selbst wohl überraschendste Befund besteht darin, dass Coumbite-Traditionen nach wie vor sehr wichtig sind. Ging der Mainstream der Literatur über Haiti bislang davon aus, dass solche Formen gegenseitiger Hilfe und kollektiver Landarbeit unter haitianischen KleinbäuerInnen fast oder völlig verschwunden sind, kann Smith nicht nur den Fortbestand dieser Tradition, sondern auch ihre Vitalität und vor allem Vielgestaltigkeit demonstrieren. Ohne dabei Widersprüche und Hierarchien innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaften auszublenden, gelingt es ihr sehr überzeugend, aus der Praxis gegenseitiger Hilfe, aber auch aus Liedern, Redensarten und populären Thematisierungen des Gegensatzes von Arm und Reich Ansätze für eine Transzendierung der herrschenden Verhältnisse herauszuarbeiten. „Während manche Leute jeden Tag eisgekühlte Getränke genießen“, zitiert sie TeilnehmerInnen einer Diskussion im Dorf Kayayo, „sollten andere nicht meilenweit laufen müssen, um dreckiges Wasser zu holen. (…) Ich hab' gehört, dass die Leute in La Gonâve bereits dazu übergegangen sind, grüne Mangos zu kochen, um zu überleben. Das ist keine Demokratie.“

Ein echter demokratischer Akt in diesem Sinne hingegen war es, dass sich die ehemaligen SklavInnen in Folge der haitianischen Revolution das Land ihrer Herren aneigneten. Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern (mit ihrer vom Großgrundbesitz geprägten Landwirtschaft) bildete sich so auf Haiti eine breite Schicht von Parzellenbauern heraus, deretwegen der Urbanisierungsgrad des Landes noch immer vergleichsweise niedrig ist. In den mehr als 200 Jahren nach der Selbstbefreiung der SklavInnen von Saint-Domingue haben sich die KleinbäuerInnen immer wieder gegen Versuche aus dem In- und Ausland zur Wehr gesetzt, ihnen ihren Landbesitz zu rauben. In der massenhaften Flucht vor den Versuchen zur Restauration der Plantagenwirtschaft, während der Piquet-Revolte in den 1840er Jahren, in den Caco-Rebellionen zu Beginn der US-Besatzung (1915-1934) und den befreiungstheologisch inspirierten Bewegungen gegen das Duvalier-Regime seit den 1970er Jahren nahm dieser Widerstand weithin sichtbare Formen an. Aber auch in Phasen scheinbarer Ruhe speiste er sich aus einer Alltagskultur, mit der sich die postrevolutionären MinifundistInnen ein ungewöhnliches Maß an praktischer wie symbolischer Autonomie gegenüber imperialistischer Herrschaft sichern konnten. Nicht zu Unrecht heißt es deshalb im Lied einer Bauernkooperative: „Sie können uns verbrennen und unsere Wurzeln kappen. Wenn es aber regnet, werden wir wieder sprießen.“

Die Grundformen gemeinschaftlicher Landarbeit in Haiti heißen Coumbite und Kové. Die Kreolisierung der französischen Vokabeln commune (Gemeinde, Gemeinschaft) und habiter (wohnen) bezeichnet dabei eine Gruppenarbeit, die durchaus Festcharakter hat. Während der gemeinsamen Bodenbestellung wird nicht nur gesungen, sondern auch Alkohol getrunken. Und nach getaner Arbeit serviert die Familie des Gastgebers ein Festmahl. Was nach bürgerlich-materialistischen Maßstäben nur als eine Entlohnungsvariante erscheint, wird von den teilnehmenden BäuerInnen als praktizierte Form von Gemeinschaftlichkeit verstanden. In der Kové hingegen spielt tatsächlich Geld eine Rolle und von Feierlaune kann wohl nicht gesprochen werden, wenn die Früchte der gemeinsamen Arbeit nur in Proportion zur „individuellen“ Leistung verteilt werden. Nicht von ungefähr stammt Kové auch vom französischen Ausdruck für Schinderei ab. Im Spannungsfeld von Coumbite und Kové gibt es auf Haiti eine ganze Vielfalt von Formen kollektiver Reziprozität, die sich nicht nur auf die unmittelbare Feldarbeit, sondern – wie etwa im Fall der Sosyeté – als eine Art Lebensversicherung auch auf notwendige Instandsetzungsarbeiten oder Beerdigungszeremonien beziehen. Von herausragender symbolischer Bedeutung ist beispielsweise das kollektive Sparen für die Feier des Jahrestages der Unabhängigkeit und Befreiung Haitis am 1. Januar. In einer der unzähligen Atribisyon-Gruppen arbeiten HaitianerInnen über das Jahr hinweg immer wieder nach ihren Fähigkeiten zusammen, um am Nationalfeiertag ein großes Festessen ausrichten zu können, zu dem – als Symbol des Menschseins – unbedingt auch der Verzehr von ansonsten kaum erschwinglichem Fleisch gehört. „Indem sie das tun, leisten die Mitglieder einer atribisyon zugleich eine implizite Kritik der Entbehrungen und Ungewissheiten, die das Landleben im heutigen Haiti kennzeichnen. Mehr noch: Sie entwerfen ein Bild davon, wie das Leben sein sollte, wie Menschen leben können sollten.“

Die Erfahrungen mit kollektiven Formen von Landarbeit und dem stark ausgeprägten historisch-politischen Bewusstsein, die Jennie Smith in einem scheinbar so abgelegenen haitianischen Dorf wie Tisous gesammelt hat, widersprechen vehement der auch in NRO-Kreisen verbreiteten Vorstellung, der real existierende Egalitarismus lasse sich auch nur irgendwie mit dem Treiben kopfloser Krebse vergleichen, die sich in ihrem Bemühen, dem Korb zu entkommen, immer nur wieder gegenseitig herunterziehen. Besser sollte die Weltsicht haitianischer BäuerInnen als fundamentale Herausforderung engstirniger Wohlstandsperspektiven verstanden werden. „Von grundlegender Bedeutung ist die von einem haitianischen Sprichwort auf den Punkt gebrachte Erkenntnis: ‚Der große Ast an der Spitze des Baums denkt, dass er den besten Überblick hätte, übersieht dabei aber die Sichtweise der kleinen Knospe, die vom Wind hin- und hergeweht wird.'“ Internationale Basiszusammenarbeit jenseits offizieller NRO-Rhetorik erfordert, wenn man dem großartigen Plädoyer von Jennie Smith folgt, die schmerzhafte Loslösung von eurozentrischen Selbstverständlichkeiten. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Weigerung, von Menschen zu lernen, die zwar ärmer, aber nur nach bürgerlichen Maßstäben „weniger gebildet“ sind als man selbst.

Jennie M. Smith: When the Hands Are Many. Community Organization and Social Change in Haiti, Ithaca 2001