ila

Radikalreformistisches und emanzipatorisches Projekt

Robert Lessmann gibt mit „Das neue Bolivien“ einen detaillierten Einblick in die Struktur des Landes und Morales' Projekt der Neugründung
Frederik Caselitz

Bolivien genoss als ärmstes Land Südamerikas traditionell wenig internationale Aufmerksamkeit. Vorbildcharakter für andere Länder hatte es nicht, scheiterten doch die meisten Präsidenten schon nach sehr kurzer Zeit an den Problemen und Herausforderungen ihres Amtes. Dies änderte sich schlagartig, als der ehemalige Cocabauer Evo Morales mit seinem Einzug in den Präsidentenpalast die internationale Bühne betrat. Nicht nur ist er der erste indigene Präsident Südamerikas, er stammt auch aus der Mitte der sozialen Bewegungen und ist mit seiner Biographie keinesfalls ein Vertreter der lokalen Politikerkaste. Kaum verwunderlich, dass sein Projekt der Neugründung Boliviens nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß. Mehr noch, das Land befand sich mehrmals am Rande des Abgrunds, als die vergleichsweise reichen Bundesstaaten des Tieflandes mit Abspaltung drohten. Robert Lessmann, Publizist und Consultant sowie Lehrbeauftragter an der Universität Köln, liefert mit „Das neue Bolivien“ eine solide Einführung in die bolivianische Politik und die unter Morales eingeleiteten grundlegenden Umorientierungen.

Der neue Präsident setzte sich ein ehrgeiziges Ziel: 500 Jahre Unterdrückung der indigenen Bevölkerung sollten beendet werden. Lesssmann setzt an der Geschichte Bolviens an, um das Projekt von Evo Morales und seine Unterstützung durch die indigenen Bevölkerungsmehrheit zu verdeutlichen.
Um die in der Kolonialzeit errichteten Strukturen der Unterdrückung begreifbar zu machen, beginnt Lessmann seinen historischen Abriss bei den Hochkulturen noch vor der Inkazeit. Immer wieder weist er auf die Bedeutung der bis heute erhaltenen indigenen Strukturen hin, so etwa die ayllus, die Produktions- und Lebensgemeinschaften der andinen Dörfer, und analysiert ihren Einfluss und ihre Veränderung bis in die heutige Zeit. Sein journalistischer Stil sorgt allerdings dafür, dass sich dieses Buch keinesfalls wie eine trockene wissenschaftliche Abhandlung liest, sondern wie eine lebendige Reportage.

Nach einer historischen Einführung in die Tiwanaku- und Inkakultur zeigt der Autor den Verlauf der Conquista auf und hebt insbesondere die Instrumentalisierung der indigenen Infrastruktur hervor, die von den Spaniern übernommen wurde, um das Land zu kontrollieren. Er zeigt, dass neben dem kolonialistischen Modell indigene Organisationsformen weiter existierten und ein einheitlicher Nationalstaat zu keiner Zeit durchgesetzt wurde.

Das anschließende Kapitel trägt den aussagekräftigen Namen „Zwei gescheiterte Modelle“ und behandelt die Zeit nach der Revolution von 1952 bis zum Amtsantritt von Evo Morales. Mit den zwei Modellen meint Lessmann zum einen den zunächst versuchten gelenkten Staatskapitalismus und zum anderen den darauf folgenden Neoliberalismus. 18 Präsidenten versuchten seit 1971 bis 2006 ihr Glück, viele davon mit mächtiger Unterstützung aus den USA. Während keiner der Präsidenten stabile Lösungen für die Probleme des Landes präsentieren konnte, gewannen die sozialen Bewegungen und die Organisationen der Kokabauern allmählich starken Zulauf und konnten ab den 90er Jahren immer wieder unsoziale Projekte der lokalen und nationalen Regierungen zu Fall bringen, wie im Jahr 2000 im so genannten Wasserkrieg die Privatisierung der Wasserversorgung von Cochabamba. Diese neuen sozialen Bewegungen und Organisationen legten den Grundstein für den späteren Erfolg von Evo Morales. 

Im zweiten Teil des Buches befasst sich Lessman ausschließlich mit Morales' bisheriger Amtszeit und den angestrebten Veränderungen. Die Regierung von Morales unterzieht er dabei einer kritischen Würdigung. Zwar ist er dem Projekt als Ganzem positiv gesinnt, diskutiert aber auch mögliche taktische Fehler.
Zunächst beschreibt der Autor den Verfassungsprozess und wie die eigentlichen Ziele der geplanten neuen Verfassung allmählich unter die Räder kamen. Der Regierung wirft er vor, auf Druck der rechten Opposition von wichtigen Grundpfeilern abgewichen zu sein, ohne aber die Hauptargumente der Opposition aus der Welt geräumt zu haben.

Ähnlich spannungsreich geht es weiter im Kapitel über Gemeindejustiz und Selbstjustiz. Die Praktiken der indigenen Gemeinden rufen vielerorts die Kritik hervor, sie könnten unter Umständen sogar die Todesstrafe bedeuten. Lessmann bleibt bei seiner Beschreibung allerdings differenziert und sieht die Einbindung der indigenen Justiz in die Verfassung als Möglichkeit, diese Systeme mit einem Rechtsstaat in Einklang zu bringen. Er fordert vor allem erst einmal, dass man sich mit diesen Rechtsystemen auseinandersetzt. Er schlussfolgert: „Der Verfassungsprozess stellt in dieser Hinsicht eine große Chance dar, die besten Systeme zu übernehmen und nicht wünschenswerte Praktiken zu eliminieren.“
Auch beim Anbau der Kokapflanze stehen die traditionellen Praktiken Boliviens im Widerspruch zum herrschenden Paradigma, Kokaanbau mit Kokainproduktion gleichzusetzen. Morales versucht dem Konflikt durch die Kampagne Coca Si – Cocaína No aus dem Weg zu gehen. Mit Erfolg, wie Lessmanns meint.

Außenpolitisch gestaltet sich die „Kokafrage“ schwieriger. Die Regierung würde das Kokablatt gerne von der UN-Liste der verbotenen Substanzen streichen, aber das ist wegen des Vetorechts der USA verfahrensmäßig kaum möglich. Die Regierung versucht es daher mit kleinen Schritten, da ohnehin international versucht wird, ihr aus der Kokapolitik einen Strick zu drehen. So sollen etwa Paragraphen gestrichen werden, die das Kokakauen verbieten. 

Auch dem Konzept der Autonomie widmet das Buch ein Kapitel. Die oppositionellen reichen Regionen wie Santa Cruz versuchen, sich den geplanten Änderungen durch Morales durchaus auch gewaltsam zu widersetzen und fordern Unabhängigkeit für ihre Regionen. Oligarchie und Oberschicht sehen sich von der Regierung Morales bedroht und wollen den förderalen Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen um jeden Preis verhindern. Dem entgegen steht ein von der Morales-Regierung getragenes Autonomiekonzept, das basisorientiert ist und von den indigenen Gemeinden, ihren Organisationen und den Gewerkschaften entworfen wird. Hier soll Selbstverwaltung auf Gemeindeebene eine (zentral)staatliche gesellschaftliche Bestimmung ersetzen. Lessmann stellt beide Konzepte der Autonomie kurz und übersichtlich da, wird aber der Bedeutung des basisorientierten Ansatzes nicht ganz gerecht, da er ihn nur sehr knapp anschneidet. 

Die Frage, inwieweit die Sozialbewegungen eigene Organisationsformen durchsetzen können, ist einer der entscheidenden Faktoren für eine Neugründung Boliviens. Diese Neugründung ist für Lessmann bislang zwar noch vage geblieben, dennoch ist sie für ihn ein „radikalreformistisches und emanzipatorisches Projekt“, das an den Grundfesten der gesellschaftlichen Strukturen rüttelt. In Evo Morales' Wahlsieg von 2009, den der alte und neue Präsident mit den Worten „der Indio ist noch immer da“ feierte, sieht Lessmann, dass ein Zerfall des Landes zunächst abgewendet wurde und das Projekt der Neugründung weitergeht. 

Das Buch „Das neue Bolivien“ ist insgesamt eine sehr gelungene Einführung in die politische und gesellschaftliche Struktur Boliviens. Man braucht keine Vorkenntnisse, da der Autor die Prozesse chronologisch aufarbeitet und grundlegend erklärt. Das Buch ist sehr gut strukturiert und verständlich geschrieben, so daß die Fülle der Informationen gut zu verarbeiten ist. Damit ist das Buch allen zu empfehlen, die die Grundlagen der Regierung Morales verstehen möchten. 

Robert Lessmann: Das neue Bolivien. Evo Morales und seine demokratische Revolution, Rotpunktverlag, Zürich 2010, 250 Seiten, 21,50 Euro