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Schriftsteller, Chronist, Militante

„Verschwundene“ Autoren: Rodolfo Walsh (1927-1977)
Erich Hackl

Diese Aktion wäre Rodolfo Walsh eine Reportage wert gewesen: Am Abend des 24. März dieses Jahres, gegen 22 Uhr, startete der Künstler Gabriel Serulnicoff von der ehemaligen Mechanikerschule der Kriegsmarine mit einer Schubkarre zu einem siebzehn Kilometer langen Marsch. In der Karre ein Eimer mit Kleister, ein Tapezierbesen, eine dicke Rolle mit Plakaten. Ihnen aufgedruckt zwei Wendungen aus dem Satz, mit dem Walsh an einem anderen 24. März, nämlich 1977, seinen Offenen Brief an die Militärjunta beendet hatte: „ohne Hoffnung, gehört zu werden, in der Gewissheit, verfolgt zu werden“, zog er darin eine Bilanz der Verwüstungen, die die Diktatur im ersten Jahr ihrer Herrschaft in Wirtschaft und Politik sowie in der Verfolgung der linken Opposition angerichtet hatte.

Serulnicoff legte bei seinem nächtlichen Plakatieren dieselbe Strecke zurück, auf der – in umgekehrter Richtung – Walshs Leichnam durch Buenos Aires transportiert worden war: die Avenida del Libertador in südöstlicher Richtung hinauf, dann durch Leandro N. Alem und Avenida de Mayo zur Calle Entre Ríos. Als er an seinem Ziel eintraf, an der Ecke Entre Ríos/San Juan, war der 33. Todestag des bedeutenden Schriftstellers und Journalisten schon angebrochen. Hier in der Nähe des Bahnhofs Constitución war Walsh von zehn Männern eines Einsatzkommandos der Grupo de tarea 3.2.2 angegriffen worden. Man hatte ihn lebend haben, dann bis an sein Ende foltern wollen, er hatte sich mit einer kleinen Pistole zur Wehr gesetzt. „So kam er“, nach einer zutreffenden Formulierung des österreichischen Autors Leo Federmair, „mit dem Tod davon.“

Einer derjenigen, die an dieser Stelle auf Serulnicoff gewartet hatten, war der junge Schriftsteller Juan Diego Incardona. Er brachte den Offenen Brief zum Vortrag, der in der Genauigkeit seiner Exempel, in der Schärfe seiner Formulierungen und in der Klarheit seiner Gedanken einen Höhepunkt engagierter Publizistik darstellt, aber er hätte genausogut aus Walshs Hauptwerk Operación Masacre lesen können, das unter dem Titel „Das Massaker von San Martín“ dieser Tage zum zweiten Mal auf Deutsch erscheint und einen Wendepunkt in Walshs Biografie und in seinem literarischen Schaffen darstellt. „Operación Masacre hat mein Leben verändert. Bei der Arbeit daran war ich nicht nur persönlich bestürzt; mir wurde auch klar, dass eine bedrohliche äußere Welt existiert.“ 

Es ist die Chronik eines Verbrechens, auf das er Ende 1956 durch Zufall gestoßen war, in seinem Stammcafé in La Plata. Sechs Monate zuvor hatten sich peronistisch gestimmte Militärs gegen die Regierung der sogenannten Befreiungsrevolution der Generale Aramburu und Rojas erhoben, die im September 1955 Perón gestürzt hatten. Der Aufstand misslang, das Regime reagierte hart und unversöhnlich, und auf Befehl des Polizeidirektors der Provinz Buenos Aires wurden zwölf unschuldige Zivilisten auf einer Müllhalde der Ortschaft José León Suárez exekutiert. Das erfuhr Walsh, während er Schach spielte, und er erfuhr auch, dass mindestens einer der Erschossenen am Leben war. So begannen seine Nachforschungen, so entstand der „Tatsachenbericht nach den Aussagen Erschossener“ (wie der Untertitel der deutschen Erstausgabe lautet), der zuerst in kleinen Blättern erschien, weil die großen Zeitungen die Wahrheit scheuten, und in Buchform immer wieder neu aufgelegt – und mit jedesmal bittereren Einsichten und Ergänzungen versehen – wurde. Da war Walsh nicht mehr der unbeschwerte Verfasser von Kriminalgeschichten, der an den Rechtsstaat glaubt und weder von Perón noch von den Peronisten, noch von der Revolution etwas wissen will.

Internationalen Ruhm erlangte er nach 1959, als er in Havanna zusammen mit seinem Landsmann Jorge Masetti die kubanische Presseagentur Prensa Latina aufbaute. Dabei gelang es ihm, ein chiffriertes Telex der US-amerikanischen Botschaft in Guatemala abzufangen und zu entschlüsseln. Es enthielt Einzelheiten über den Plan, mit Exilkubanern und Söldnern aus anderen Ländern auf der Insel zu landen.

Walshs große Reportagen – auf Operación Masacre folgten Crimen Satanowsky (1958) und ¿Quién mató a Rosendo? (1968; auf Deutsch unter dem Titel „Wer erschoß Rosendo G.?“ erschienen), zwei Fallbeispiele für die Verschmelzung von Politik, Korruption und Mord – bestechen durch die Sorgfalt der Recherche ebenso wie durch die sprachliche Anverwandlung des Erfahrenen und natürlich auch durch seinen Mut, um den er zeitlebens wenig Aufhebens gemacht hat. In einer Tagebuchaufzeichnung vom Dezember 1970 heißt es: „Wenn unsereins mutig wäre, würde er sich den FAR, den FAP, den FAL [also einer der frühen peronistischen Guerillabewegungen Argentiniens] anschließen und andere Schriftsteller über sich schreiben lassen, aber die Leute sind in dem, was sie schreiben, für gewöhnlich derart fahrlässig, dass es gescheiter ist, die Berichterstattung über sich selbst nicht aus den Händen zu geben. How false?“
Das Zitat lässt den Zwiespalt spüren, der den Spross irischer Einwanderer sein Erwachsenenleben lang begleitet hat: den zwischen der Neigung zur „reinen“, zur fiktiven Literatur und dem ebenso starken Bedürfnis nach der Reportage, der Denuncia, dem Testimonio, also dem realen Leben anderer und den realen Mächten, die dieses Leben eingrenzen und gefährden. 

Dazu kam seine wachsende Einsicht, dass die politischen Verhältnisse ein persönliches Engagement, über das des Chronisten hinaus, erforderlich machten. „Meine Beziehung zur Literatur erfolgt in zwei Etappen: eine der Überschätzung und Mythifikation bis 1967, als ich schon zwei Erzählbände veröffentlicht habe und an einem Roman zu schreiben beginne; die zweite der Abwertung und der allmählichen Distanzierung ab 1968, als die politische Arbeit eine Alternative zum Schreiben bildet.“ Trotzdem behielt Walsh beide Aspekte seines literarischen Schaffens bis zuletzt im Auge: Im März 1977 hatte er nicht nur den Offenen Brief an die Junta, sondern auch eine Erzählung mit dem Titel Juan se fue por el río (Juan verschwand am Fluss) fertiggestellt. Samt anderen Manuskripten fiel sie den Militärs in die Hände, die nach seinem Tod das bescheidene Häuschen in San Vicente, ca. vierzig Kilometer südlich der Hauptstadt, plünderten, in dem Walsh mit seiner Lebensgefährtin Lilia Ferreyra, als pensionierter Englischlehrer getarnt, die letzten Wochen verbracht hatte. Martín Grass, ein Überlebender des Konzentrationslagers, das in einem Trakt der Mechanikerschule existierte, sah dort nicht nur den toten Schriftsteller mit der von Garben aus Maschinenpistolen zerfetzten Brust, sondern auch eine Mappe mit dieser Erzählung. Er ist, neben Lilia, ihr einziger Leser geblieben.

Im Vorwort zur argentinischen Buchausgabe hat Osvaldo Bayer angemerkt, dass Operación Masacre der Prolog zur kommenden nationalen Tragödie sei. „Aramburu und Rojas werden der Prolog von Videla und Massera sein. Rodolfo Walsh wird sich von einem Zeugen in einen Protagonisten verwandeln. Er wird, wie seine Gestalten von José León Suárez, durch Schüsse ermordet werden.“ Tatsächlich haben die Aufdeckung des Massakers und ihre Folgenlosigkeit den Autor zur so genannten Nationalen Linken geführt, für die der Kampf gegen den Imperialismus mit dem Ziel eines geeinten Kontinents unter sozialistischen Vorzeichen – der Patria Grande – nur auf nationaler Ebene, im Fall von Argentinien im Zusammenspiel mit den peronistisch gesinnten Massen geführt werden kann. Deshalb, später, nach seiner Rückkehr aus Cuba, Walshs herausragende Tätigkeit als Direktor der Gewerkschaftszeitung CGT (dem Organ der dissidenten, nicht-korrupten peronistischen Gewerkschaft Confederación General del Trabajo de los Argentinos) und als Redakteur der Tageszeitung Noticias, die bis zu ihrem Verbot Mitte 1974 von der Partido Montonero herausgegeben wurde. Deshalb ist er auch, schon ein Jahr vorher, in diese Organisation eingetreten, in der er für den Nachrichtendienst zuständig sein sollte. 

Später wird er den Führungsstab wiederholt kritisieren – einmal, weil dieser seine Warnung Ende 1975 in den Wind schlug, beim vorhersehbaren Militärputsch handle es sich um mehr als nur um einen von vielen Staatsstreichen in der Geschichte des Landes, nämlich um die Installierung einer neuen Staatsform, die nicht nur die komplette Vernichtung der linken Opposition, sondern auch die praktische Durchsetzung einer Wirtschaftsdoktrin anstrebte, die die soziale Deklassierung von Millionen Argentiniern zur Folge haben würde; ein anderes Mal, weil die Führer durch ihr militaristisches Konzept und triumphalistisches Gehabe im Widerstand gegen die übermächtige Diktatur die eigene Basis – Zehntausende junge Leute – der Folter und dem Tod überantworteten. 

Eine von diesen Zehntausenden war Walshs Tochter María Victoria. Sie erschoss sich am Morgen des 29. September 1976 nach anderthalbstündigem Kampf gegen 150 schwer bewaffnete Soldaten auf der Dachterrasse ihres Hauses, nachdem sie den Männern zugerufen hatte: „Ihr bringt uns nicht um. Wir haben zu sterben beschlossen.“ Sie war Mitglied im Range eines Zweiten Offiziers der Montoneros gewesen, und während sie hinter der Brüstung die Pistole gegen ihre Schläfe richtete, lag ihre anderthalbjährige Tochter im Schlafzimmer auf dem Bett. Davon hat Walsh in einem „Brief an meine Freunde“ berichtet. „Vicky hätte andere Wege wählen können, die nicht weniger ehrlos gewesen wären, aber der, den sie wählte, war der gerechteste, großzügigste, vernünftigste. Ihr hellsichtiger Tod ist eine Synthese ihres kurzen schönen Lebens. Sie lebte nicht für sich, sie lebte für andere, und diese anderen sind Millionen. Nur ihr Tod, ihr ruhmreicher Tod gehört ganz ihr, und in diesem Stolz sehe ich mich bestätigt und werde durch sie wiedergeboren.“ (vgl. die Dokumentation des kompletten Briefes auf S.29) Man sollte das Pathos dieser Worte nicht geringschätzen. Sie gelten auch dem, der sie in die Welt gesetzt hat.

Erich Hackl ist Schriftsteller und Übersetzer sowie Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand gedrängter Autorinnen und Autoren. Seine letzte Erzählung „Als ob ein Engel“ (Diogenes, Zürich 2007) erzählt in beeindruckender Weise die Geschichte der im April 1977 in Argentinien verschwundenen Gisela Tenenbaum (vgl. ila 310).