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Einstürzende Männerwelten

Der Autor Osvaldo Soriano (1943-1997)

Er ist wohl immer noch der beliebteste argentinische Autor, vielleicht auch der bescheidenste und bestimmt einer der solidarischsten: Osvaldo Soriano. Dass seine Romane Bestseller waren, war ihm eher peinlich. Und dass manche argentinische Intellektuelle ihren Neid auf seine Popularität in dünkelhafte Kritik verkehrten, tat ihm weh. Er litt darunter, dass sie ihm seine angeblich zu simple Schreibweise als Ergebnis unzureichender Schulbildung und ergo mangelnde Kunst vorwarfen. Doch nicht er selbst, andere wehrten sich für ihn. „Die drei größten argentinischen Autoren“, sagte der Schriftsteller Ricardo Piglia einmal mit einem unüberhörbaren Seitenhieb auf jene Akademikerschelte, „haben die Grundschule nicht beendet: Roberto Arlt, Jorge Luis Borges und Osvaldo Soriano.“ Vernichtender für dessen KritikerInnen konnte die Rehabilitierung Sorianos nicht ausfallen. Denn der Autodidakt Soriano hat immer die richtigen Worte gefunden, Worte, die dazu noch jeder auf Anhieb verstand.

Gaby Küppers

Allein schon die Titel von Osvaldo Sorianos Romanen! Una sombra ya pronto serás (Schon bald wirst Du ein Schatten sein), A sus plantas rendido un león (Zu seinen Füßen ergeben ein Löwe) oder No habrá más penas ni olvido (Es wird weder Kummer noch Vergessen geben) – Zeilen aus Tangos, aus Heldenepen, Sprichwörtern, schmunzelnd gerade so am Pathos vorbeigeschrammt. Zitate aus Texten, zu denen der junge Osvaldo Zugang hatte. Geboren 1943 in Mar del Plata, reist er mit seinem Vater, Inspektor des Abwasseramtes, viel durch die argentinische Provinz, wohnt in San Luis, Córdoba, Tandil und Cipoletti, nie in Buenos Aires. Kino und Fußball sind die einzigen Freizeitvergnügen. Buchhandlungen hat er nie gesehen, bis zum Alter von 20 nie etwas anderes als Schulbücher gelesen. In San Lorenzo träumt er davon, Fußballstar zu werden, doch seine kaum begonnene Karriere endet nach einer Beinverletzung. Stattdessen wird er Sportjournalist in Tandil.

Sorianos Helden sind Männer, die wie er in der Provinz verwurzelt sind. Männer, die in Klapperkisten unterwegs sind, zwischen Bahía Blanca und Colonia Vela, Verlierer, die nicht aufgeben und die die Träume derer von unten haben. So stehen im ersten Kapitel seines ersten Romans, „Traurig, einsam und endgültig“ (sp. 1973, dt. 1978), Stan Laurel und Charly Chaplin an der Reling und blicken auf eine im Nebel verborgene Küste. Helden, die den kleinen Soriano – sein Vater nannte ihn mit Familiennamen – beschäftigten, wenn er abends aus dem Kino trat. Im zweiten Kapitel des Romans dann marschiert der alte Stan in Philippe Marlowes Büro, und noch einige Seiten weiter treffen wir den Detektiv wieder, wie er sich eine Zigarette anzündet und sich dem Grab Stan Laurels nähert. Dort bemerkt er einen Mann: „Er schien etwa dreißig Jahre alt zu sein, war nicht groß, auch nicht klein, und stand breitbeinig auf ziemlich krummen Beinen da. (....) Das Gesicht des Mannes war rund, er hatte nur wenig Haar, das ihn kaum gegen den einsetzenden Nieselregen schützt. Seine kurze Nase war gerötet. (...) Ohne eigentlich dick zu sein, passte sein Bauch nicht zu dem übrigen Körper. (...) Er sprach ein so schlechtes Englisch, daß Marlowe sich sehr bemühen musste, um den Sinn des Satzes zu erfassen“ (S. 43-44). Der Mann heißt Soriano und gleicht, wie Fotos zeigen, dem Schriftsteller aufs Haar. Eitel war er offenbar nicht.

Phantasie trifft auf Wirklichkeit, oder umgekehrt, jedenfalls kommen der Detektiv und der Schriftsteller ins Gespräch über den toten Stummfilmdarsteller, verabreden sich und geraten unversehens in einen Sog von Ereignissen, die sich zu einer atemberaubenden Slapstick-Komödie nach allen Regeln der Kunst der großen Komiker auswächst und auf deren Parkett so mancher ausrutscht – selbst der faschistoide John Wayne kriegt sein Fett ab. Ein großartiges Debut.

Aber war es wirklich originell? Es war. Sorianos Roman war sicher nicht der einzige, der Kinostoffe verarbeitete. Aber er hatte dabei eine sehr eigene Sichtweise. Die ProtagonistInnen von Sorianos Landsmann und Zeitgenossen Manuel Puig etwa himmeln in La traición de Rita Hayworth (Verraten von Rita Hayworth), Boquitas Pintadas (Der schönste Tango der Welt) oder „Der Kuss der Spinnenfrau“ den Glamour der Hollywoodstars an. Soriano versetzt sich in die Antihelden. Ihn interessieren nicht die Kleinbürger, deren Illusionen, deren Selbstmitleid und deren Ressentiments. Ihn interessieren die Außenseiter, die mit anderen leiden und weder die Chance noch den Wunsch haben, Teil des Systems zu sein. Laurel und Hardy brachten die Leute zum Lachen, indem sie auf ihren Verfolgungsjagden Eigentum zerstörten und die Autoritäten lächerlich machten – indem sie also eigentlich die Grundfesten des Kapitalismus angriffen. 

In Sorianos Erstling stecken bereits alle Themen und Techniken seiner sämtlichen Romane. So unterschiedlich sie auch daherkommen, es sind immer Geschichten über Wirklichkeiten, in denen die Ordnung schon zerstört ist, wenn die Helden die Bühne betreten, stets gespickt mit schwarzem Humor und grotesken Übersteigerungen. Romane, die Brutalität und Humor zusammenbringen konnten. Und die unendlich argentinisch sind.

„Du hast Infiltrierte“, ist der erste Satz in Sorianos zweitem Roman, No habrá más penas ni olvido. Besser kann man das Drama und die Paranoia des Peronismus Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre nicht auf den Punkt bringen. In dem Roman gibt es nur Peronisten, alle agieren in “Seinem“ Namen, in der Hoffnung, „Sein“ Wohlgefallen zu finden. Aber sie misstrauen sich gegenseitig zutiefst – so wie Perón selbst 1973-74 unter seinen AnhängerInnen die Richtigen und die Falschen auszumachen versuchte und begann, den linken Peronismus zu liquidieren. Und sie lösen damit in Colonia Vela einen Bürgerkrieg, Mord und Totschlag aus. Als Soriano 1975, noch vor dem Putsch, Argentinien in Richtung Brüssel verließ, hatte er das Manuskript bereits im Gepäck. 1977 interessiert sich ein Verleger und sagt wieder ab, aus politischen Gründen, wie Soriano in seiner intensiven Kor-respondenz mit seinem in Deutschland exilierten Freund Osvaldo Bayer vermutet. 

Erst 1980 fand sich ein spanischer Verleger bereit, den mit unglaublicher erzählerischer Konsequenz und Lakonie beschriebenen Weg in die Katastrophe herauszubringen. Zwei Jahre später erscheint er endlich auch in Argentinien und wird dort innerhalb von Wochen zum Bestseller. 1983 wird Soriano deswegen auf die Buchmesse nach Buenos Aires eingeladen. Im März kehrt er von seinem zweiten Exilort Paris in die Heimat zurück, die ihn nie verlassen hat. Soriano hat nie die argentinische Staatsbürgerschaft abgegeben, nie Asyl beantragt. Die Zeilen aus einem Gardel-Tango, die mit dem Romantitel schließen, erfüllen sich nur zum Teil: „Mein geliebtes Buenos Aires, wenn ich dich wiedersehe, gibt es kein Leid und kein Vergessen mehr.“ Viele Freunde, denen er in der Exilzeitschrift Sin censura („Ohne Zensur“) von Paris aus zu helfen versuchte, sind ermordet.

1982 war Cuarteles de invierno („Winterquartiere“, 1982) erschienen, ein weiterer Bestseller, Soriano ist plötzlich der meistgelesene Autor Argentiniens. In der Bundesrepublik mit „Das Autogramm“ betitelt (in der DDR erschien das Buch unter dem Originaltitel „Winterquartiere“), wurde er vor allem durch die Verfilmung des deutsch-jüdisch-uruguayischen Regisseurs Peter Lilienthal zum bekanntesten Roman Sorianos hierzulande. Der Filmemacher dürfte wenig Mühe gehabt haben, aus dem Roman ein Drehbuch zu machen. Soriano schreibt absolut filmisch – tatsächlich kamen drei seiner Romane ins Kino: „Das Autogramm“, No habrá más penas ni olvido und Una sombra ya pronto serás, beide von Héctor Oliveira verfilmt. Mit dem „Autogramm“ im deutschen Titel ist eine zunächst verweigerte Unterschrift gemeint, die zwei in die Provinzstadt Colonia Vela eingeladene abgetakelte Stars, einen alternden Boxer und einen Tangosänger, ins Visier der Militärdiktatur bringt. Eine Parabel auf den Alltag der Militärdiktatur, über (Männer-)Freundschaft und Verteidigung der Würde gegen die Brutalität des Regimes, wie sie sonst in keinem Buche steht. Sorianos Gestalten laufen über die Straße, sitzen mit am Tisch. Keiner schreibt Dialoge wie er. Kein Satz kommt gedrechselt daher, kein Satz verrät die Kunst, die es braucht, so zu schreiben, als würde man den Text hören. 

In „Der Koffer oder die Revolution der Gorillas“ (A sus plantas rendido un león, sp. 1986, dt.1990) macht der Ausbruch des Malvinenkriegs den falschen argentinischen Konsul Bertoldi in dem erfundenen afrikanischen Staat Bongwutsi zum Staatsfeind. Währenddessen plant ein abgesetzter sozialistischer Revolutionär seine Rückkehr nach Bongwutsi. Aus realistischen Einzelbeobachtungen komponiert Soriano mit leichter Hand eine absolut surreale Situation und bringt temporeich die literarische Slapstick-Komödie zur Perfektion.

In Una sombra ya pronto serás (1990) nähert er sich den argentinischen Traumata am Ende der 80er Jahre von einer anderen Seite. Es ist wohl sein schwärzester Roman, in dem die Karikatur ins Visionäre umschlägt und die Figuren mehr als in seinen anderen Romanen Chiffren zu sein scheinen für die heraufkommende Katastrophe einer Gesellschaft, die Sein und Schein nicht mehr auseinanderzuhalten weiß. 

Nach El ojo de la patria (Das Auge des Vaterlandes, 1992), einer weiteren turbulenten Romankomödie über argentinische Spione, Totgeglaubte und Nationalhelden, blieb La hora sin sombra (Die Stunde ohne Schatten, 1995) Sorianos letzter Roman. Er ist wie Una sombra ya pronto serás eine Art autobiographisches Roadmovie, eine schriftstellerische Annäherung an die Eltern. Was als Suche nach dem Vater daherkommt, der sterbenskrank aus dem Krankenhaus entwischt, ist tiefgründig, aber auch eine Auseinandersetzung mit der anderen großen Abwesenden, der Mutter, die Ehemann und Sohn früh verließ und bald darauf starb. Nicht zufällig ist diese Mutter ein Model aus der Palmolivwerbung, ein Wesen, von dem man nur das Äußere kennt. 

Die Passagen zur Figur der Mutter sind eine späte (Selbst)Erkenntnis, warum Soriano fast immer nur frauenfreie Welten beschreibt. Erstmals in A sus plantas... tauchen Frauen als handelnde Personen auf, romantragend wurden sie nie bei ihm. Soriano wusste selbst, dass sie in seinen Texten blass, unerklärlich blieben. Fremd wie die Mutter, die er kaum kannte. Umgekehrt machte er Frauen aber auch nicht zu Projektionsflächen, zu Männerphantasien. Seine Sache war vielmehr die Beschreibung einstürzender Männerwelten. Seine Fußballer, Boxer, Säufer, gescheiterten Schauspieler und Detektive leibten und lebten, waren immer unterwegs in Bussen und Zügen, bestenfalls in halb kaputten Autos. Seine Männergestalten versuchten stets, absurde Abenteuer zu bestehen, um eine Welt zu flicken, die längst in Scherben liegt. Er dekonstruierte Helden, um sie zu verstehen.

Im Januar 1997 starb Osvaldo Soriano an Lungenkrebs. So einer wie er kam nicht wieder. 
Zum zehnten Todestag lud die Tageszeitung Página 12, wo er in den letzten Jahren fester und beliebter Kolumnist gewesen war, FreundInnen, KritikerInnen und SchriftstellerInnen ein, ihre Erinnerungen an Osvaldo Soriano niederzuschreiben. Das Echo war immens (s.u.). 2004 startete der Verlag Seix Barral eine Neuauflage aller seiner Werke in der Biblioteca Soriano, mit Vorworten bekannter Kollegen, Interviews mit Soriano, Kommentaren. Davon ist heute in argentinischen Buchhandlungen so gut wie kein Exemplar mehr aufzutreiben. Auch in Deutschland sind seine übersetzten Romane vergriffen. Dabei ist keines seiner Themen verstaubt. Zwar sind die Anlässe glücklicherweise nicht mehr aktuell. Doch er griff das auf, was in der Luft lag, und übersetzte es in Parabeln, die weit über Peronismus und Militärdiktatur hinausreichen, immer auf Seiten der Opfer, immer darum bemüht, ihnen ihre menschliche Würde zu sichern