ila

Doppelt ausgegrenzt

Jüdische Prostituierte in Argentinien und Brasilien

Wenn Menschen hoffen, prekären Lebensbedingungen durch Migration zu entkommen, gibt es immer auch Leute, die das ausnutzen, um junge Frauen als Prostituierte in die ersehnten Einreiseländer zu vermitteln. Wobei diese „Vermittlung“ in vielen Fällen zwielichtig ist: Immer wieder wird mit falschen Versprechungen operiert oder verschwiegen, worin die versprochene Arbeit in den Zielländern besteht. Und wenn die Frauen erstmal in den Fängen der Zuhälterringe sind, ist es kaum möglich wieder auszusteigen. Dies gilt heute und galt vor hundert Jahren, wie der folgende Beitrag über ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte der jüdischen Einwanderung in Lateinamerika zeigt. 

Gert Eisenbürger

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchten immer wieder elegante Männer in den jüdischen Siedlungen (shtetl) des Russischen Reiches auf und erzählten, sie seien in Argentinien oder Brasilien zu Geld gekommen und seien nun zurückgekehrt, um ein jüdisches Mädchen zu heiraten und es mit in die Neue Welt zu nehmen. Viele der angesprochenen Frauen hofften, durch eine solche Verbindung ihrem elenden Leben zu entkommen, und gingen auf die Angebote ein. Die feinen Männer suchten aber keine Ehefrauen, sondern waren Anwerber der jüdischen Zuhältermafia.

Wegen der grassierenden antisemitischen Gewalt sahen Ende des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich immer mehr Juden und Jüdinnen in der Migration nach „Amerika“ die einzige Möglichkeit, ein friedliches und besseres Leben zu führen. Doch dazu brauchte es in aller Regel Papiere, Visa und Geld – alles Voraussetzungen, die für die verarmte jüdische Bevölkerung nur schwer zu erfüllen waren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kontrollierten zwei Vereinigungen die Prostitution und Bordelle Warschaus, einer davon bestand aus katholischen Zuhältern, der andere aus jüdischen. Nach dem französischen Vornamen Alphonse wurden Zuhälter damals in Warschau „Alphonsen“ genannt. Die jüdischen Alphonsen beschäftigten fast ausschließlich jüdische Frauen, die für sie anschaffen gingen. Als in diesem Milieu bekannt wurde, dass in den Einwanderungsländern Südamerikas, vor allem in Argentinien, ein enormer Männerüberschuss herrschte, weil sich die Männer – egal ob aus Süd- oder aus Osteuropa – zunächst alleine einschifften, sah man da ein überaus verlockendes Geschäftsfeld. Jüdische Zuhälter aus Warschau gingen nach Argentinien und Brasilien und eröffneten die ersten Bordelle. Das war dort relativ leicht möglich, während die Prostitution in den puritanischen USA reglementiert und kriminalisiert wurde. 

Zur Koordination ihrer Geschäfte gründeten die jüdischen Alphonsen in Buenos Aires ganz offiziell die Sociedad de Socorros Mutuos Varsovia (Gesellschaft für gegenseitige Hilfe Warschau). Nach Protesten polnischer Diplomaten änderten sie das später in Zwi Migdal, den Namen eines Gründungsmitglieds. Die Organisation betrieb Bordelle und Bars in Buenos Aires, Rio de Janeiro, São Paulo, Montevideo und weiteren Städten des südlichen Lateinamerika. 1913 soll Zwi Migdal in Rio de Janeiro laut Wikipedia 431 Bordelle und andere Etablissements kontrolliert haben, für Buenos Aires wird für Ende der zwanziger Jahre in Nora Glickmans 2000 erschienenen Buch The Jewish White Slave Trade and the Untold Story of Raquel Liberman die Zahl von mehr als 2000 Bordellen und Lokalen genannt. Neben der Zwi Migdal waren noch andere kleinere jüdische Gruppen, wie die Ashquenazim Society im Milieu der argentinischen Hauptstadt aktiv.

Da die Zwi Migdal fast ausschließlich jüdische Prostituierte in ihren Bordellen anschaffen ließ, kam der Organisation des ständigen Nachschubs jüdischer Frauen aus Osteuropa eine zentrale Bedeutung zu. Die jüdisch-brasilianische Historikerin Beatriz Kushnir nennt in ihrem Buch Baile de máscaras. Mulheres Judias e Prostituição (1996) für den Zeitraum 1867 bis 1900 die Zahl von jährlich durchschnittlich 554 jüdischen Prostituierten, die über den Hafen von Rio de Janeiro in Brasilien einreisten. In Buenos Aires dürfte die Zahl noch höher gelegen haben. Um dies zu gewährleisten, traten die eingangs erwähnten Anwerber in Aktion, die Frauen in den shtetl, aber auch in den Hafenstädten mit Ehe- oder sonstigen Versprechen köderten. Natürlich mussten sich die Frauen für die Bezahlung der Schiffspassagen erstmal verschulden und waren der Zwi Migdal damit bereits weitgehend ausgeliefert. 

Da die jüdische Tradition Prostitution verbietet nicht nur wie beim Christentum aus moralischen Gründen, sondern auch aus der Befürchtung, dadurch Angriffe auf die jüdische Gemeinschaft zu provozieren –, gab es im europäischen Judentum erhebliche Widerstände gegen das Treiben der Zwi Migdal. Eine herausragende Rolle kam dabei Bertha Pappenheim (1850-1936) zu, der langjährigen Vorsitzenden des 1904 in Berlin gegründeten „Jüdischen Frauenbundes“. Sie hatte bereits 1902 eine Konferenz zur Bekämpfung des „Mädchenhandels“ organisiert und mehrere Berichte über die Lage der jüdischen Frauen und den Handel mit Frauen aus Galizien publiziert, eine Region im Westen der heutigen Ukraine, die damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Neben ihrer publizistischen Tätigkeit gründete Bertha Pappenheim mehrere Vereine gegen den Frauenhandel sowie ein Netz sozialer Einrichtungen in Deutschland, in denen von Prostitution bedrohte Mädchen und Frauen aus Osteuropa unterkommen konnten. Das „Jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels“ versuchte noch im Hamburger Hafen, Frauen von der Einschiffung nach Argentinien oder Brasilien abzuhalten. Ähnlich agierten jüdische Organisationen auch in Großbritannien. 

Auch die jüdische Linke, namentlich der im Russischen Reich bedeutende „Allgemeine Jüdische Arbeiterbund“ kämpfte gegen die Aktivitäten der Zwi Migdal. Während der Revolution von 1905 stürmten und verwüsteten Bundisten in Warschau zahlreiche Bordelle und Bars. Bei den Angriffen, die als „Alphonsenpogrom“ bekannt wurden, starben nach Angaben der New York Times vom 26. Mai 1905 mindestens acht Menschen. Die jüdischen Gemeinden in Argentinien und Brasilien verurteilten die Aktivitäten der Zwi Migdal ebenfalls scharf und verwehrten sowohl den Zuhältern wie auch den in der Prostitution tätigen Frauen den Zugang zu den Synagogen und jüdischen Einrichtungen.

Für die allgemein als polacas (Polinnen) bezeichneten jüdischen Huren in Argentinien, Brasilien und Uruguay, bedeutete dies eine doppelte Ausgrenzung, sowohl durch die Gesellschaften der Einwanderungsländer wie auch durch die jüdischen Organisationen. Die Konsequenz davon war, dass die Frauen noch stärker von der Zwi Migdal und den anderen Zuhälterringen abhängig waren. Viele der Frauen – und auch manche Zuhälter – waren religiös und in den Traditionen des Judentums verankert. Die Zwi Migdal errichtete in Argentinien eigene Friedhöfe, Synagogen und soziale Einrichtungen. Zum einen kam sie damit den Bedürfnissen der Frauen und ihrer Mitglieder entgegen, zum anderen waren derartige Aktivitäten auch der formale Rahmen für ihre sonstigen Aktivitäten.

Um jüdisch leben und beerdigt werden zu können und sich gegenseitig in Notsituationen zu unterstützen, gründeten jüdische Prostituierte 1906 in Rio de Janeiro die „Israelitische Vereinigung für Wohltätigkeit, Beerdingungen und Religion“ (ABFRI). Hauptanliegen der Gruppe war die Einrichtung eines jüdischen Friedhofs, auf dem Prostituierte würdig bestattet werden konnten. Zu den im Statut der Organisation festgeschriebenen Zielen gehörten die „Gründung einer Synagoge, einer kostenlosen Grundschule für beide Geschlechter, Unterstützung von Kostenübernahmen für kranke und invalide Mitglieder, Beerdigung der Mitglieder, Grabpflege und Messen gemäß jüdischem Ritus“ (vgl. ila 239). Um die Kontrolle der ABFRI gab es offensichtlich Konflikte zwischen den Huren und den Zuhältern. Tauchte im Gründungsstatut das Wort für Mitglieder nur in der weiblichen Fassung (associadas) auf, wurde das Statut 1914 dahingehend geändert, dass dem Vorstand der ABFRI nur Männer angehören durften, ein Passus, der 1932 gestrichen wurde. Eine ähnliche Organisation wie die ABFRI, wurde 1924 mit der SIBRFI in São Paulo gegründet. Diese legte 1926 in ihrer Satzung fest, dass dem Vorstand nur Frauen angehören durften. Die ABFRI in Rio de Janeiro bestand bis 1974, im Jahr 1970 fand das letzte Begräbnis auf ihrem Friedhof statt.

Der Niedergang der Zwi Migdal begann 1930, als es in Argentinien zu einem spektakulären Prozess gegen 108 Mitglieder der Organisation kam. Die ehemalige Prostituierte Raquel Liberman wollte aus dem Milieu aussteigen und eröffnete ein Antiquitätengeschäft in Buenos Aires. Weil sie das nicht dulden wollten, überfielen Schläger der Zwi Migdal den Laden. Raquel Liberman ließ sich nicht einschüchtern, sondern zeigte die Täter an und sagte gegen die Organisation aus. Weil sich der politische Wind nach dem Sturz des liberalen Präsidenten Hipólito Yrigoyen gedreht hatte, wurde die argentinische Justiz entgegen ihrer früheren Praxis in diesem Fall aktiv und verurteilte die Führer der Organisation zu langjährigen Haftstrafen. 

Quellen: Kushnir, Beatriz: Baile de máscaras. Mulheres Judias e Prostituição, Rio de Janeiro 1996 • Kleppe, Katharina: Judentum und Prostitution in der Ära der „white slavery“, 2000: http://www.grin.com/e-book/103440/judentum-und-prostitution-in-der-aera-der-white-slavery • Panther, Peter (d. i. Kurt Tucholsky): Mädchenhandel in Buenos Aires, in: Die Weltbühne, 5.7.1927 • Jews fighting Jews in Warsaw, 8 Dead, in: New York Times, 26.5.1905 • Küppers, Gaby: Ein eigener Platz zum Sterben, in: ila 239, Oktober 2000 • Hart, Klaus: Jüdische Prostituierte in Brasilien, 2005 •http://de.wikipedia.org/wiki/Bertha_Pappenheim • http://en.wikipedia.org/wiki/Zwi_Migdal