ila

Einer von zweihunderttausend

Abschied von dem haitianischen Schriftsteller Georges Anglade (1944-2010)
Gert Eisenbürger

Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen sind bei dem Erdbeben in Haiti etwa zweihunderttausend Menschen ums Leben gekommen. Eine Zahl, die ebenso unvorstellbar wie abstrakt ist. Die einzelnen Schicksale treten dahinter zurück. Das wurde mir vor einigen Jahren an einer anderen Zahl bewusst, den dreißigtausend „Verschwundenen“ während der letzten argentinischen Militärdiktatur. Ich hatte diese Zahl schon oft erwähnt oder geschrieben, als ich zum ersten Mal Familienangehörige argentinischer Verschwundener traf. Sie zeigten mir Fotos und erzählten von dem Sohn, der Schwester oder dem Lebensgefährten, von deren Leben vor ihrer Entführung und Ermordung. Sie berichteten auch, wie sich ihr eigenes Lebens durch das „Verschwinden“ des ihnen nahestehenden Menschen verändert hatte. Plötzlich bekamen einige dieser Dreißigtausend für mich ein Gesicht und die Zahl eine ganz andere Dimension.

Die vermutlich zweihunderttausend Opfer des Erdbebens in Haiti hörten für mich auf, abstrakt zu sein, als ich wenige Tage nach der Katastrophe im Internet die Website des auf haitianische Literatur spezialisierten litradukt-Verlages (vgl. ila 321) aufrief. Die erste Nachricht auf der Startseite betraf keine Lesereise oder aktuelle Neuerscheinung, sondern lautete: „Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass unser Autor Georges Anglade und seine Ehefrau Mireille bei dem verheerenden Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen sind. Unser Mitgefühl gilt ihren Angehörigen und ihrem Land, für das sie sich so sehr eingesetzt haben.“

Im ersten Moment war ich nur verstört. Das konnte doch nicht sein, ausgerechnet dieser vor Humor sprühende Schriftsteller, dem Gefängnis und Folter der Duvalier-Diktatur seinen Spott nicht hatten nehmen können, den es in den neunziger Jahren von seinem Lehrstuhl für Geographie an der Universität Montreal in die haitianische Politik und als Minister für Raumordnung ins Kabinett des gerade aus dem Exil zurückgekehrten Präsidenten Aristide gezogen hatte, der sich später, um einige Hoffnungen ärmer und viele Geschichten reicher, aus der Politik zurückzog und wunderschöne Literatur schrieb, war von den Trümmern eines zusammenstürzenden Hauses erschlagen worden, als er sein Heimatland besuchte. 

Georges Anglade und seine Frau Mireille, eine bekannte Sozialwissenschaftlerin und Autorin von „L'autre moitié du développement“, dem Standardwerk über die Rolle der Frau im Wirtschaftsleben Haitis (1986), waren zu Recherchen für neue Bücher vor einigen Monaten von Montreal nach Haiti gereist. Im letzten Jahr hatte Georges Anglades deutscher Übersetzer, Peter Trier, bei der ila angefragt, ob wir uns in Bonn an der Organisation einer Lesung mit Georges Anglade beteiligen könnten. Dieser käme nach Deutschland und das Institut Schuman, das französische Kulturinstitut in Bonn, sei interessiert, ihn einzuladen, wenn es einen lokalen Partner gäbe. Ich sagte damals gerne für die ila zu, weil ich den Autor einige Monate zuvor für mich entdeckt hatte und neugierig war, ihn persönlich kennenzulernen. Wegen Terminproblemen des Instituts Schuman kam die Lesung in Bonn leider dann doch nicht zustande. Ich wollte mich dennoch mit meinen Möglichkeiten dafür einsetzen, seine Literatur hier in Deutschland etwas bekannter zu machen. In der ila 317 hatte ich seine im Oktober 2007 erschienene brillante kleine Politsatire „Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt“ besprochen. Seinen 2008 herausgekommenen opulenten Erzählungenband „Das Lachen Haitis“ wollte ich mir eigentlich für unser seit langem im Herbst 2010 geplantes Schwerpunktheft zu Haiti und der Dominikanischen Republik aufbewahren, in dem wir auch einen seiner Texte publizieren wollen.

Die bevorzugte literarische Form Georges Anglades waren die lodyans, kurze Erzählungen, die es in dieser Form nur in Haiti gibt. Ursprünglich als orale Literatur der SklavInnen auf den Zuckerrohrplantagen entstanden, wurden diese meist satirischen Geschichten in Haiti zur beliebtesten Form, das alltägliche Geschehen und die politischen Entwicklungen zu kommentieren. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begannen Zeitungen in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince erstmals, lodyans zu veröffentlichen, die fortan als mündliche und schriftliche Literaturform existierten. Wesentliches Kennzeichen dieser literarischen Miniaturen ist ihr Humor. Wobei das mit dem Humor immer so eine Sache ist: Es gibt lodyans, die sind einfach nur lustig, bei anderen bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn sich hinter der Pointe bittere Erfahrungen verstecken.

Das Buch „Das Lachen Haitis“ erhält auf 312 Buchseiten insgesamt 90 lodyans, in denen Georges Anglade ein Panorama Haitis im 20. Jahrhundert ausbreitet. Die Gliederung der Texte ergibt sich aus dem Lebensweg des Autors. Der erste und zweifellos lustigste Teil des Buches sind Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend in der Provinzstadt Quina. Mit liebevollem Spott beschreibt er lokale Begebenheiten und Händel oder er karikiert – mitunter etwas boshafter – die lokale Prominenz. Bei aller exotischen Kulisse fühlte ich mich bei der einen oder anderen Geschichte frappierend an Episoden aus meiner Kindheit und Jugend erinnert. Offensichtlich gibt es durchaus Parallelen zwischen den kleinstädtischen Milieus in der haitianischen und der rheinland-pfälzischen Provinz.

Im zweiten Kapitel mit der Überschrift „Port-aux-Morts“ ist dann überwiegend „Schluss mit lustig“. Denn in diesen Geschichten erzählt Georges Anglade von seinen Studienjahren in Port-au-Prince während der Duvalier-Diktatur. Es ist eine bleierne Zeit, in der Angst und Gewalt omnipräsent sind. In einigen dieser lodyans führt Anglade die LeserInnen in die Kerker der Diktatur. Manches davon ist nur schwer zu ertragen, anderes, etwa die Erzählung „Totensignale“ über die täglichen Übungen der Musiker der Militärkapelle direkt über seiner Zelle, berührt auf eine ganz eigene Weise.

Nédgé ist ein überwiegend von MigrantInnen bewohntes Stadtviertel der frankokanadischen Metropole Montreal, in der es eine sehr große haitianische Gemeinde gibt. Mit „Nédgé“ sind die Geschichten des dritten Teils dieses Buches überschrieben, Episoden aus dem Leben der HaitianerInnen in der Diaspora. Mehr als eine Million Menschen haitianischer Abstammung haben sich in den USA und in Kanada niedergelassen. In einem Zeitungsartikel schrieb Anglade dazu einmal, Haiti sei das einzige Land, dessen kompletter Mittelstand im Ausland lebe. In den Geschichten aus Montreal gibt es skurrile Begebenheiten, viel Melancholie und die immer wieder durchscheinende Verletztheit ob der latenten Ablehnung und des Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft. Eine der schönsten lodyans des Buches ist „Aus Kindermund“, in der der Autor beschreibt, wie in einem Hort des Viertels Kinder zusammenkommen, deren Eltern und Großeltern vor den Kriegs- und Verfolgungsgeschichten des vergangenen Jahrhunderts von Chile bis Haiti, von Nordirland bis zu den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geflohen waren. Die Kinder tragen diese Erfahrungen in sich und dennoch wächst mit ihnen eine neue hoffnungsvolle Generation heran.

Das letzte, „Gelobtes Land“ überschriebene Kapitel widmet sich der jüngeren Vergangenheit, den Erwartungen und Enttäuschungen der HaitianerInnen in den Jahren nach dem Ende der Duvalier-Diktatur, wo es endlich aufwärts zu gehen schien, wo aber politische Grabenkämpfe, Naturkatastrophen und vor allem der Widerstand der kleinen wirtschaftlichen Elite gegen gesellschaftliche Veränderungen immer wieder alles zunichte machen. Hier schreibt jemand, der sein Land liebt und daran leidet, dass dessen Perspektiven so düster sind, der aber auch das positive Potential erkennt. Die Erzählung „Das Licht und das Ende des Tunnels“ wird zu einem politisch-moralischen Manifest. Er setzt sich darin mit den Mythen und Vorurteilen über Haiti, die eine Umfrage in den USA zutage brachte, auseinander: 

„Für 27 Prozent der Befragten ist Haiti vor allen Dingen ein ‚armes Land' mit versiegten materiellen und menschlichen Ressourcen. Wenn man dem Kehrreim ,vom ärmsten Land und dem einzigen WEL (am wenigsten entwickelten Land) des amerikanischen Kontinents' auch kaum widersprechen kann, so genügen zwei Argumente, um die scheinbar so unerschütterlichen Gewissheiten ins Wanken zu bringen: Zunächst ist die haitianische Diaspora als möglicher Teil des Landes eine absolut außergewöhnliche Konzentration menschlicher und finanzieller Ressourcen, und zweitens kann das Überlebens-Know-how einen vorteilhaften Ausgangspunkt für den Aufschwung darstellen ... Ein armes Land? Ja, aber sicher nicht so mittellos, wie allgemein angenommen wird, wenn...

18 Prozent denken, dass Haiti vor allem ein ‚gespaltenes Land' mit gegensätzlichen und unversöhnlichen politischen Lagern ist. Die unseligen und unaufhörlichen politischen Konflikte täuschen sicherlich darüber hinweg, dass die haitianische Bevölkerung dasselbe Demokratieideal teilt. Man findet sogar selten ein Land, in dem eine so massive Einigkeit herrscht, dass es zu 70 Prozent für dieselbe Option stimmen kann. Aber es gibt eine blockierende Minderheit ... Ein gespaltenes Land? Ja, aber zwischen den Herren, die weniger als 5 Prozent ausmachen, und den über 95 Prozent Sklaven wie in Saint Domingue ... Die Demokratie und die Modernisierung können in Gang kommen, wenn...

Für 14 Prozent der Antwortgeber ist Haiti ein „zerfallenes Land“, ein Land ohne gesunden Menschenverstand. Der Eindruck ist geprägt von vier Millionen zerstreut lebender Bauern, von Dörfern ohne Ordnung, von einer Hauptstadt, in der zwei Millionen Slumbewohner sich aufs Geratewohl irgendwo ansiedeln. Verwilderte Anbauflächen und folkloristische Märkte, heißt es... Die drei Seiten besagten, dass sich hinter dieser Sicht nur die Unfähigkeit verbirgt, die Ordnungen, die in der Armut existieren, die Logik, die ihnen zugrunde liegt, und ihr Potential für den Neuanfang und den Aufschwung zu beschreiben ... Ein zerfallenes Land? Sicherlich, aber nicht chaotisch und erst recht nicht anarchisch. Ein Land, das noch Erstaunen erregen wird, wenn ...“ (Auslassungszeichen und Absätze im Original).

Eine Stimme, die solche Sätze formuliert und all jenen entgegenschleudert, die erklären, die HaitianerInnen seien ja nicht fähig, sich selbst zu regieren, das Land müsse ein Protektorat mit fortgesetzter internationaler Militärbesatzung werden, braucht Haiti heute mehr denn je. Georges Anglades Stimme ist für immer verstummt, uns bleiben seine Geschichten über das Lachen Haitis, das hoffentlich niemals verstummen wird.