Statt im Kindergarten vor der Glotze
In beständiger Angst, entdeckt zu werden, leben und arbeiten mindestens eine Million Menschen in Deutschland in der Illegalität. Davon sind, schätzt die GEW, drei bis fünf Prozent Kinder und Jugendliche. Diese Kinder sind entweder mit ihren Eltern eingereist, zumeist mit einem Touristenvisum, und dann mit ihrer Familie hier geblieben, oder die bereits in Deutschland lebenden Eltern/Mütter haben ihre Kinder nach einiger Zeit aus dem Heimatland nachgeholt. In anderen Fällen ist die ganze Familie nach der Ablehnung eines Asylantrages abgetaucht. Zahlreiche Kinder sind gar nicht erst eingereist, denn sie wurden in Deutschland von Müttern ohne Papiere geboren. Woher sie auch kommen – die Existenz all dieser Kinder wird vom Gesetzgeber einfach ignoriert.
Ein großes Problem ergibt sich, wenn ein illegalisiertes Kind das Kindergartenalter erreicht hat. Für Kinder ohne Papiere gibt es nämlich, anders als beim Schulbesuch, keinen rechtlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Die Schwierigkeiten, ein Kind ohne Papiere in einem Kindergarten unterzubringen, werden z.B. in der Studie „Menschen ohne Papiere in Köln“ sehr anschaulich geschildert. Für die Anmeldung in einem öffentlichen Kindergarten müssen von den Eltern neben den Namensangaben und der Wohnadresse auch ihre Ausweise sowie häufig eine Meldebescheinigung vorgelegt werden. Nach der Anmeldung und Verfügung über einen Kindergartenplatz teilt der Träger des Kindergartens dem örtlichen Jugendamt den Namen sowie die Wohnadresse des Kindes mit. Von der Stadt wird dann geprüft, ob das Kind in Köln angemeldet ist. Sollte dies nicht der Fall sein, werden die Daten an das Ausländeramt weitergegeben. Wann die Polizei dann vor der Tür stehen wird, ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber auch in Städten ohne diese zentrale Datenabgleichung ist es unmöglich, ein Kind in einem öffentlichen Kindergarten anzumelden, denn die LeiterInnen von Kindergärten in öffentlicher Trägerschaft unterliegen der Meldepflicht, wenn sie bei der Aufnahme entsprechende Kenntnisse über den „illegalen“ Aufenthalt eines Kindes haben. Sie müssen nach § 87 des Aufenthaltsgesetzes die zuständige Ausländerbehörde unverzüglich informieren.
Die freien Träger sind dazu hingegen nicht verpflichtet. Dafür gibt es hier das Problem der fehlenden Einkommensnachweise. Da sie ihr Einkommen nicht nachweisen können, müssten die Eltern den Höchstbetrag bezahlen, der in Köln derzeit für eine Halbtagsbetreuung bei 164,46 Euro, für eine Ganztagsbetreuung bei 256,366 Euro monatlich plus Essensgeld liegt. In Berlin liegt der Höchstbetrag für eine Halbtagsbetreuung bei 188 Euro, in Düsseldorf bei 200 Euro! Diese Summen monatlich zu stemmen, ist so gut wie unmöglich für eine Familie, die vom „schwarz“ Putzen in deutschen Haushalten leben muss. Die Meldepflicht bei den öffentlichen Trägern und die fehlenden Einkommensnachweise für private Kindergärten führen dazu, dass viele Eltern ohne Aufenthaltsstatus aus Angst vor einer Abschiebung ihre Kinder weder in einem Kindergarten noch in einer Schule anmelden. Die Kinder müssen dann in der Wohnung bleiben und verbringen die meiste Zeit vor der Glotze. Manchmal gelingt es engagierten Beratungsstellen mit großer Mühe, einen Kindergartenplatz in einer privaten Kita zu organisieren. Diese „Glücksfälle“ sind jedoch leider nur Ausnahmen und nicht die Regel.
Das Recht auf Bildung für alle Kinder ist in zahlreichen, auch von Deutschland unterzeichneten internationalen Menschenrechtsverträgen festgeschrieben, z. B. in der UN-Kinderrechtskonvention. „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an.“ Aus diesen internationalen Verträgen folgt für alle staatlichen Stellen in Deutschland die Pflicht, sicherzustellen, dass alle Kinder, die in Deutschland leben, Zugang zur Bildung haben. Die Einlösung dieser Verpflichtung steht jedoch noch aus. Der UN-Sonderberichterstatter für Bildung, Vernor Muñoz, kritisierte daher in seinem jüngsten Bericht (21. März 2007) die oft unklare Bildungssituation von Kindern der illegal in Deutschland lebenden Familien. Er stellte fest, dass diese Kinder von dem in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen verankerten „Recht auf Bildung“ vollständig ausgeschlossen sind. Muñoz weist auch darauf hin, dass das deutsche Ausländerrecht mit seiner in Europa einzigartigen Meldepflicht im Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention stehe und in der Praxis verhindere, dass das Menschenrecht auf Bildung wahrgenommen werden kann.
Immer wieder wird von staatlichen Stellen betont, dass die unveräußerlichen Menschenrechte selbstverständlich auch für Menschen ohne Papiere gelten. Aber nach der praktizierten Rechtslage haben sie keine Gültigkeit, denn Ordnungsrecht hat in Deutschland Priorität vor Menschenrecht. Wenn zum Beispiel eine Familie bei der Anmeldung eines Kindes im Kindergarten entdeckt wird, muss sie raus. Normalerweise steht dann mitten in der Nacht oder am frühen Morgen die Polizei vor der Tür, und die ganze Familie wird innerhalb kürzester Zeit abgeschoben.
Um für alle Kinder ohne Papiere deren Recht auf Bildung sicherzustellen, muss wenigstens die Meldepflicht für öffentliche Schulen, Kindergärten und andere Einrichtungen der Jugendhilfe abgeschafft werden. Auch im Zusammenhang mit der Finanzierung von Kindergartenplätzen ist die Meldepflicht der dabei beteiligten Jugendämter gegenüber den Ausländerbehörden aufzuheben. So ermittelte in Bonn z.B. die Staatsanwaltschaft gegen MitarbeiterInnen des Jugendamtes, weil sie Kinder ohne Papiere nicht dem Ausländeramt gemeldet hätten (siehe ila 289: „Eiertänze in Bonn. Keine Solidarität mit Kindern ohne Aufenthaltsstatus“). Es wird höchste Zeit für eine Änderung der Gesetze, denn Isolierung und Angst gefährden Gesundheit und Entwicklung eines Kindes massiv. Die Menschenrechte für Kinder ohne Papiere müssen auch in Deutschland endlich realisiert werden, denn die Kinderrechtskonvention verpflichtet in Artikel 2, Kinder ohne Papiere vor den Folgen eines Lebens in der Illegalität zu schützen: „Kein Kind darf wegen des Status seiner Eltern diskriminiert werden.“
Studie „Menschen ohne Papiere in Köln“ www.stadt-koeln.de/2/soziales/01589/