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Immer noch und wieder im Umbruch

Zwei neue Bücher über soziale Bewegungen und den Kampf gegen Straflosigkeit in Lateinamerika
Thea Struchtemeier

Michelle Bachelet (Chile), Hugo Chávez (Venezuela), Luiz Inácio Lula da Silva (Brasilien), Evo Morales (Bolivien) – die Verbitterung der Bevölkerungsmehrheit in diversen lateinamerikanischen Staaten über die geringe soziale Verantwortung ihrer Eliten hat sich in den vergangenen Jahren in einem radikal veränderten Wahlverhalten ausgedrückt und eine neue PolitikerInnengeneration ins Rampenlicht gerückt. Linke oder Mitte-Links-Regierungen gelangten an die Macht.

Politische Aufstiege wie die von Morales in Bolivien oder dem Chavismo in Venezuela, die Wahlerfolge linksorientierter PolitikerInnen und Parteien und der Widerstand sozialer Bewegungen gegen Globalisierungstendenzen hatten zur Folge, dass – nach der Hochphase von Chile-, El Salvador- oder Nicaragua-Solidaritätsinitiativen in den 70er und 80er Jahren, dann deren Stagnation in den 90ern – nunmehr wieder der Blick auf die sozialen Bewegungen Lateinamerikas gerichtet wurde. Nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft begann, sich für die neu stattfindenden Demokratisierungsprozesse zu interessieren.

¿El pueblo unido?

Die vorliegende aktuelle Publikation ¿El pueblo unido? (Liedrefrain von Sergio Ortega: „Das einige Volk wird niemals besiegt werden“) verfolgt wegen der Schnelllebigkeit von sozialen Bewegungen einen vor allem empirisch orientierten Überblick zu sozialen Bewegungen in lateinamerikanischen Staaten. Dabei bedient sie sich einer breiten und auch interdisziplinär angelegten Zusammenschau mit Problemaufriss, um historischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen Raum zu geben. Den über 25 Beiträgen liegt eine analoge Struktur zugrunde, die Projektionsflächen für Vergleiche und weiterreichende Analysen eröffnen soll. Am Ende aller Beiträge werden vorsichtig zusammenfassende Trends identifiziert, die vorläufige Schlussfolgerungen über die jeweiligen Staaten des Kontinents von Argentinien über Bolivien, Chile, Ecuador bis Kolumbien erlauben. Die Beiträge sind mit einem wissenschaftlichen Apparat versehen und schließen mit einer länder- und problemspezifischen Auswahlbibliografie. Mit dieser Herangehensweise möchten die Herausgeber darstellen, inwieweit die sozialen Bewegungen in Lateinamerika – jenseits von Konjunkturzyklen oder den Kämpfen gegen soziale Ungerechtigkeiten und politische Unterdrückung – gemeinsame Fundamente besitzen oder sich unterschieden.

¿El pueblo unido? – und dies bewusst mit Fragezeichen versehen – legt den Schluss nahe, dass die Entwicklungslinien und -brüche sozialer Bewegungen Lateinamerikas individuell der Situation des jeweiligen Staates entsprechen – ob sie europäisch einwanderungsdominiert oder von kleinbäuerlichen Campesinos und Indígenas geprägt sind.

Die Zukunftsprognose, die die Herausgeber für den großen Kontinent stellen, ist gemischt: Fast alle Staaten und Gesellschaften Lateinamerikas sind Transformationsgesellschaften, in denen die innere Konsolidierung noch nicht abgeschlossen ist und im 21. Jahrhundert massive soziale Gegensätze eine Herausforderung ans Überleben darstellen. Lateinamerika befindet sich immer noch und wieder einmal im Umbruch: Auf die Demokratisierung folgt eine wirtschaftliche Liberalisierung, die sich auf die Weltwirtschaft, aber nicht die innerstaatliche Wirtschaftsentwicklung konzentriere. 

Wolf Grabendorff spricht in seinem Vorwort von einem „Wettlauf mit der Zeit“, nun dringend notwendige gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, denn wenn dies nicht gelinge, wäre die praktizierte Demokratie sichtlich gefährdet. Lateinamerika gilt als die ungleichste Region der Welt und der Zugang zu Recht und Gerechtigkeit, selbst zu sozialen Mindeststandards, bleibt zahlreichen Bevölkerungsgruppen verwehrt. Den vielfältigen sozialen Bewegungen – ob Kokabauern, Guerilleros, Menschenrechts-, Frauen- und Indígenabewegungen – komme, so die Herausgeber, eine herausragende und verändernde Rolle auf dem langen Weg zu einer gerechteren Gesellschaft zu. Erst ihr Druck von „unten“ und die Tradition hartnäckigen Wehrens und Einforderns habe die lateinamerikanische Politik verändert und gesellschaftliche Akteure in politische Prozesse eingebunden, ihnen Gehör verschafft und den Staat gezwungen, sich kontinuierlich mit sozialen Fragen auseinanderzusetzen, was die vorliegende Publikation eingehend dokumentiert.

An dem spezifischen Punkt der Ungleichheit und da, wo mangelndes Recht und nicht erfahrene Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit führen, setzt die penible Arbeit von Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss an. An zahlreichen Länderbeispielen führen sie vor, dass die globale Kultur einer Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen nicht zu durchbrechen war. Ihre Aufsatzsammlung zeigt exemplarisch, wie Betroffene von Menschenrechtsverletzungen in jeweils zwölf Ländern, von denen fünf aus Lateinamerika sind (andere beziehen sich auf Afrika, Asien und das ehemalige Jugoslawien), einfordern, dass die Täter juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Von diesen Kämpfen handelt dieses Buch. Oft sei zu beobachten, so beklagen Herausgeber und Herausgeberin (die die meisten Beiträge selbst verfassten), dass die Verantwortlichen für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit frei und häufig in gesicherten gesellschaftlichen Positionen davonkamen. Aber es gab auch Erfolge, wie im Fall der Verhaftung des Ex-Diktators Pinochet.

Kein Vergeben. Kein Vergessen.

In Chile tritt offen und trotz der demokratisch gewählten Präsidentin zu Tage, wie stark die alten Kräfte des Repressionsapparates weiter sind. Dies zeigt sich z.B. angesichts der brutalen Übergriffe chilenischer Polizei vor einem Jahr. Und paradoxerweise wird deutlich, wie nach dem offiziellen Übergang zur repräsentativen Demokratie die Menschenrechtsbewegung enorm geschwächt wurde. Denn diese elementaren Rechte zu vertreten fiel nun dem Staat, der Regierung und den politischen Parteien zu, so dass die Menschenrechtsbewegungen an gesellschaftlichem Einfluss verloren. In Chile zeigt sich auch die Bandbreite der Ausdrucksformen sozialer Bewegungen, die sich in Trauerdemonstrationen bei Bestattungen exhumierter Folteropfer bis zu Hungerstreiks zur nachträglichen Durchsetzung von Ermittlungen gegen Pinochet und andere Verantwortliche für Folter und Mord artikulierten.

Bewusst haben Schmolze und Rauchfuss bei ihren Ausführungen, die auf teilnehmender Beobachtung, Interviews und Quellenstudium beruhen, zum Zweck der besseren Lesbarkeit auf Zitate und Literaturhinweise verzichtet. Beide sind Mitglieder in der Bochumer Medizinischen Flüchtlingshilfe, die eine Kampagne unter dem Thema „Gerechtigkeit heilt“ führt. Aus ihrer Erfahrung in der Gesundheitsarbeit mit Flüchtlingen wissen sie, dass die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen zu neuen Traumata führt.
Die gründlich und engagiert recherchierten Beiträge von Schmolze/Rauchfuss sind eine vertiefende und beispielgebende Ergänzung zu ¿El pueblo unido?, ihre Schilderungen zu Paraguay und Guatemala differenzieren den Focus auf Lateinamerika zusätzlich und kritisch.

Jürgen Mittag/Georg Ismar (Hg.): „¿El pueblo unido?“ Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas. Münster: Westfälisches Dampfboot 2009, 576 Seiten, 39,90 Euro

Bianca Schmolze / Knut Rauchfuss (Hg.): Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2009, 424 Seiten, 20,- Euro