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Gefährlicher Treibsand

Interview mit Miguel Pickard von CIEPAC A.C., Chiapas

Wie nehmen progressive Kreise in Mexiko den gegenwärtigen Drogenkrieg sowie die zunehmende Brutalisierung und Korrumpierung des Staatsapparates wahr, welche Erklärungen haben sie und wo sehen sie alternative Ansätze? Luz Kerkeling hat dazu für die ila Miguel Pickard von der Nichtregierungsorganisation CIEPAC in Chiapas interviewt. Das „Zentrum für wirtschaftliche und politische Forschung für Gemeinschaftsaktion” mit Sitz in San Cristóbal de las Casas begleitet soziale Bewegungen in Chiapas, um die Gemeinden in ihrem Kampf für Autonomie und ein Leben in Würde zu unterstützen. Die Aktivitäten von CIEPAC umfassen Forschung, Analyse, Erstellung von Bildungsmaterialien, Informationsverbreitung und vielfältige Bildungsangebote.

Luz Kerkeling

Wie kann der Anstieg der Gewalt, den wir in den letzten Jahren in Mexiko erleben, erklärt werden?

Dafür gibt es zwei gleichermaßen gültige Erklärungen. Zum einen entsteht die Gewalt zwischen verschiedenen Drogenkartellen, zum anderen zwischen den Kartellen und der Regierung. Im Hinblick auf die Gewalt zwischen den Kartellen gibt es zwei Aspekte: Einerseits geht ein Großteil der mehr als 5000 Toten im Rahmen des Drogenkrieges 2008 und 1000 weiteren in den ersten Monaten von 2009 auf das Konto von Abrechnungen unter Drogenhändlern – kleinen wie großen – wegen Streitigkeiten bei der Übergabe oder der Bezahlung von Drogen oder entsprechenden Fristen dieser Transaktionen. Andererseits gibt es Kämpfe um Territorien, besonders in einigen Städten, die an der Grenze zu den USA liegen bzw. an wichtigen Punkten von bestimmten Transportkorridoren. In den letzten Monaten hat das mexikanische Drogengeschäft den guatemaltekischen Drogenhandel angegriffen, um die Kontrolle über bestimmte Korridore für den Transport der Rauschmittel zu gewinnen.

Das andere Motiv für die Gewalt ist der „Krieg”, den die Regierung von Felipe Calderón explizit gegen die Drogenkartelle entfacht hat. Die Nachrichten über bewaffnete Auseinandersetzungen, über die Gefangennahme von Drogenpaten oder ihrer Killer häufen sich. Viel seltener hört man von Festnahmen und Inhaftierungen irgendeines hohen Regierungsvertreters, der mit dem Drogengeschäft zu tun hat. Nichtsdestotrotz ist der Krieg zwischen Regierung und Drogenhändlern eine gefährliche, dem Treibsand ähnliche Erscheinung, in der es unmöglich ist, irgendetwas mit völliger Sicherheit festzustellen. Es ist bekannt, dass es den Drogenhändlern gelungen ist, in Polizeieinheiten und hohe Befehlsebenen des Militärs einzudringen. Ebenso wird davon ausgegangen, dass die Auswirkungen der Korruption bis in die drei Regierungsgewalten von Judikative, Legislative und Exekutive reichen. 

Die Fähigkeiten des Drogenhandels, den Staatsapparat zu infiltrieren oder zu korrumpieren, sind so ausgefeilt, dass die Bevölkerung der Regierung den Krieg gegen den Drogenhandel, so wie sie ihn darstellt, nicht glaubt. Viele sind überzeugt, dass bestimmte Kartelle von der aktuellen Administration bevorzugt werden und daher gegen andere Kartelle kämpfen, die derzeit keinen staatlichen Rückhalt genießen. Es ist z.B. wiederholt zu hören, dass das Kartell von Sinaloa von „El Chapo” Guzmán – übrigens frischgebackenes Mitglied in der Liste der Reichsten der Welt laut der Zeitschrift Forbes – von der aktuellen Administration bevorzugt wird.

Ist Mexiko ein gescheiterter Staat?

Im Hinblick auf den Verlust der territorialen Kontrolle ist das offensichtlich nicht der Fall. Der mexikanische Staat verfügt immer noch über die Kontrolle über den Großteil des Landes. Aber die Situation stellt sich weniger eindeutig dar, wenn wir einzelne Städte untersuchen, vor allem im Grenzgebiet, oder bestimmte geographische Korridore oder auch Institutionen. Die Beteiligung von 45 000 Soldaten am Kampf gegen den Drogenhandel vermittelt das Ausmaß des Problems im Land, ebenso die Stationierung von rund 2000 Armeeangehörigen in Ciudad Juárez, um die Gewalt in dieser Stadt unter Kontrolle zu bekommen. Es ist weithin bekannt, dass einige Institutionen, die sich dem Kampf gegen den Drogenhandel widmen sollten, von eben diesem durchdrungen sind. 

Ein besonders bekannter Fall ist der von Mariano Herrán Salvatti, der am 24. Januar 2009 in Chiapas festgenommen wurde. Zur Last gelegt wurden ihm Unterschlagung öffentlicher Gelder, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, unrechtmäßige Ausführung öffentlicher Ämter und Vertrauensmissbrauch gegenüber dem Staatsvermögen. Herrán Salvatti hatte starke Rückendeckung von Seiten der US-Behörden genossen. General Barry McCaffrey, der Ende der 1990er Jahre Direktor des Nationalen Politbüros für Drogenkontrolle im Weißen Haus gewesen war, hatte Herrán Salvatti sogar gelobt, als er zum Direktor der Nationalen Drogenbekämpfungsbehörde (INCD) ernannt wurde. Dieser Grad der Durchdringung seitens des Drogengeschäfts lässt Zweifel an den Möglichkeiten und der Effizienz von Institutionen aufkommen, die mit dem Kampf gegen den Drogensektor beauftragt sind.

AnalytikerInnen betonen immer wieder, dass es sich nicht um bestimmte Personen, sondern um ein strukturelles Problem handelt. Der Drogenhandel wird mit der Festnahme und Inhaftierung selbst der obersten Paten kaum aus der Welt geschafft werden. Die Beseitigung bestimmter Personen scheint lediglich Platz für neue Akteure zu schaffen. 

Wohin fließen die Einnahmen aus dem Drogengeschäft? Welche hohen FunktionsträgerInnen sind in das Geschäft involviert?

Es gibt Zahlen, die vor allem in der US-Presse genannt wurden und die besagen, dass der Drogenhandel in Mexiko etwa 25 Milliarden US-Dollar pro Jahr erwirtschaftet. Es gibt aber auch Berechnungen, die vom Doppelten dieser Menge ausgehen. Wie auch immer, 25 Milliarden US-Dollar sind ein bedeutender Betrag für die mexikanische Ökonomie, und diese Einnahmen zählen somit zu den Haupteinnahmequellen des Landes neben den Einnahmen aus dem Erdölverkauf, den Rücküberweisungen der MigrantInnen, dem Tourismus etc.

Es wird davon ausgegangen, dass ein Drittel der Einnahmen aus dem Drogengeschäft als „Schmiergeld” für den offiziellen Apparat benutzt wird, damit die Drogen Mexiko passieren können. Dabei geht es um hohe, mittlere und niedrige Armee- und Marineangehörige, Polizeikräfte auf allen Ebenen und andere Amtspersonen, die aufgrund ihrer Stellung die Möglichkeit haben, Transporte aufzuhalten oder eben passieren zu lassen. Der Rest des Geldes wird „gewaschen”, d.h., er wird in irgendeinen Bereich der legalen oder halblegalen Wirtschaft investiert, mit dem Ziel, den Ursprung dieses Geldes zu verheimlichen.

Mexiko ist ein Drogentransitland. Sind die Transportwege bekannt?

Die ExpertInnen für dieses Thema wissen genauer als wir, auf welchen Wegen die Drogen transportiert werden. Andererseits ist es ein offenes Geheimnis, dass alle verfügbaren Transportmittel zum Transport der Drogen benutzt werden. Ein Großteil der Drogen gelangt über offizielle Handelswege in die USA. Aber es ist für das US-Zollpersonal unmöglich, die Millionen Fahrzeuge, die täglich vom Süden in den Norden fahren, umfassend zu kontrollieren.

Eine vollständige Durchsuchung wird auch deswegen immer schwieriger, weil sich seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens NAFTA im Jahr 1994 das Verkehrsaufkommen drastisch erhöht hat. Eine umfassende Kontrolle aller Fahrzeuge würde einen Zeitaufwand bedeuten, der sich in millionenschweren Verlusten für den legalen Handel niederschlüge.

Gibt es ernsthafte Diskussionen, die Drogen zu entkriminalisieren?

Sowohl Mexiko als auch Kanada haben der Regierung Bush indirekt die Entkriminalisierung der Drogen vorgeschlagen; vor allem ging es darum, das Thema endlich auf bilateraler oder trilateraler Ebene zu diskutieren. Die ehemalige US-Regierung hat Vorschläge in diese Richtung stets kategorisch zurückgewiesen. Es ist bisher nicht bekannt, ob sich die Regierung von Obama diesbezüglich geäußert hat. Eins ist klar: Ohne einen Positionswechsel der US-Regierung wird kein Vorschlag der Nachbarländer vorwärtskommen.

Umgekehrt werden auch für die US-Regierung die politischen Kosten steigen, wenn sie sich weiterhin einer Untersuchung möglicher Alternativen in den Weg stellt. Zur Zeit gibt es in der US-Bevölkerung allerdings kaum Unterstützung für eine mögliche Drogenentkriminalisierung. Um dies zu ändern, wäre es notwendig, klarzustellen, dass alle Alternativen zur Entkriminalisierung schlechter sind, zum Beispiel ein bevorstehender „Kollaps” in Mexiko, der schwerwiegende Konsequenzen für die interne Sicherheit der USA hätte.

Welche Position vertritt die EZLN im Hinblick auf Drogen und Drogenhandel?

Soweit wir informiert sind, ist die EZLN vollkommen gegen die Herstellung, den Konsum oder den Handel mit jedweder Art von Drogen. Ich habe davon gehört, dass der Drogenmissbrauch von EZLN-Angehörigen stets zu Sanktionen geführt hat, z.B. Gemeinschaftsarbeit in weniger schweren Fällen oder Ausschluss aus der Organisation in schweren oder Wiederholungsfällen. Wir haben keine Informationen darüber, wie die EZLN mit Drogenhändlern umgeht, die sie in ihrem Territorium aufspürt.

Das Interview führte Luz Kerkeling im März 2009 in Chiapas.