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Gemeingut vs. Eigentumsrecht

Zum Verständnis des Gemeingutbegriffs aus indigener Sicht

Um das Thema der commons (Gemeingüter) aus lateinamerikanischer Perspektive zu verstehen, müssen mindestens zwei verschiedene Auffassungen berücksichtigt werden, die sich bis heute gegenüberstehen. Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit dem indigenen und dem verwaltungstechnischen Verständnis von Gemeingütern und verweist auf die unterschiedlichen Positionen und Verständnisprobleme, die den Alltag zwischen den indigenen Völkern und dem Staat bestimmen.

Margarita Flórez

Das ursprüngliche Verständnis von Gemeingut beruht auf der Beziehung zwischen den indigenen Völkern und ihrem Land. Für diese Völker ist die Erde nicht von ihren Ressourcen zu trennen, sie ist kein Gut, sondern Teil eines Ganzen. Diese Völker sind untrennbar mit ihrem Land und seinen Ressourcen verbunden. Eine andere Definition entspringt einer administrativen Sichtweise. Hier werden die Ressourcen vom Staat verwaltet. In manchen Fällen hat der Staat das exklusive Verfügungsrecht, in anderen setzt er per Zivilrecht Verwaltungseinrichtungen ein, da jegliche Ressourcen zum Staatsvermögen gezählt werden.

Seit ihrer Gründung als Nationalstaaten haben die lateinamerikanischen Länder spezielle Regeln für bestimmte Teile ihrer nationalen Territorien eingeführt. So erhielt das Land, das den Indigenen zugeteilt wurde, unter der Bedingung der Unteilbarkeit meist gemeinschaftlichen Charakter. Ziel dieser Gemeinschaftlichkeit ist es, die Menschengruppe zu beschützen, die sich am jeweiligen Ort niedergelassen hat, sowie das Fortbestehen identitätsstiftender Bindungen zu gewährleisten. Es ist eine Art Wiedergutmachung für die Landenteignung, die in der Kolonialzeit stattgefunden hatte. Diese Art des Kollektivbesitzes herrscht bis heute vor.

Die Verpflichtung zur Bereitstellung und Erhaltung von Gemeinbesitz an Land wurde mit der Ratifizierung des Abkommens 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (Spanisch: OIT) anerkannt, das in den Artikeln 13.1 und 13.2 die enge Bindung zwischen den Völkern und ihrem Territorium als Grundlage für ihre Kultur und das Überleben bezeichnet. Einige dieser Klauseln wurden in die neuen Verfassungen in Lateinamerika aufgenommen, wodurch die Staaten verpflichtet werden können, Gemeinden mit kollektiven Landtiteln auszustatten, so wie es der Interamerikanische Gerichtshof bereits für nicaraguanische Gemeinden forderte. Der Umgang mit Land hat Schutzfunktion für Kultur und Ethik; die Konzepte Land und Ressourcen werden dabei immer als Einheit verstanden. Einige afrokolumbianische Gemeinden haben das auf folgende Formel gebracht: Land + Kultur = Vielfalt. Dieses Konzept basiert auf einer gemeinschaftlichen Ethik, deren Kern die enge Verbindung der Menschen mit ihrer biophysikalischen Umwelt ist. Die westliche Vorstellung der Trennung von Mensch, Umwelt und Ressourcen existiert nicht, da sowohl die Menschen als auch die Elemente und andere Lebewesen (Wasser, Luft, Erde, Fauna, Flora) Teil des gleichen Systems sind.

Von diesem unterschiedlichen Verständnis rührt eines der Hauptprobleme bezüglich der Ausbeutung von Naturressourcen her: Während der Staat die nicht erneuerbaren Ressourcen als sein Eigentum betrachtet (Öffentliche Güter und so genannte Fiskalgüter – bienes fiscales), verstehen die indigenen Völker nicht, wie Elemente ein und desselben Systems voneinander getrennt werden können, wie die Landoberfläche den Indigenen und die Bodenschätze – alles was unter der Erde ist – dem Staat gehören kann. „Jede einzelne dieser Welten hat einen Geist oder ein Wesen, das sie regiert und seine Funktion bestimmt. Und es existiert eine Verbindung zwischen all diesen Welten. Für manche Weisen oder Wissenden der Gemeinden besteht das Problem darin, dass der westliche Mensch die drei Welten voneinander trennt, die unterirdische, mittlere und oberirdische Welt. Das führt zu einer Spaltung. Daraus ergibt sich ganz praktisch für die indigenen Gemeinden die Schwierigkeit, das staatliche Justizsystem zu verstehen, dem die Aufteilung des Universums zu Grunde liegt (und wo in jeder Schicht eine andere Rechtsnorm angewandt wird). Die unterirdische Welt wird durch die Gesetze des Bergbaus und des Erdöls geregelt, die Welt der Mitte durch die Reformen in der Landwirtschaft und für die obere Welt gelten wiederum andere Gesetze. Deswegen sollte der Umgang mit dem Territorium in jeder einzelnen Region studiert werden, um einen interkulturellen Dialog aufbauen zu können.“1

Für Gemeinbesitz an Land gilt normalerweise ein kollektives Eigentumsrecht, alle Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft haben Anrecht darauf, dieses bleibt auch bei Nichtnutzung bestehen.2 Da ist also kein Platz für ein res nullius, für Niemandsland. Die Tatsache, dass das Land kollektiv verwaltet wird, ist somit ein Gegenbeweis zur Behauptung, dass Gemeingüter „niemandem gehören“ und ihr Ende unausweichlich sei. Im Gegenteil, die Kollektivität stärkt die Kultur und das Überleben. Um den Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu regeln, beziehen sich die Völker auf ihre traditionellen Autoritäten, die bei politischen, spirituellen und religiösen Fragen sowie in Sachen Erlaubnis zur Ressourcennutzung die sozialen Regeln aufstellen und anwenden. 

Wenn wir also von Gemeingütern sprechen, meinen wir nicht nur Öffentliche Güter, die dem Staat gehören, nicht nur die Public Domain (die Räume der Gemeinfreiheit). Das sind Rechtsbegriffe, die vom und für den Staat definiert werden. Gemeint ist hauptsächlich das, was wir als „das Unsere“ verstehen, worin unsere Existenz und unser Wesen besteht, das, was uns zu einem Volk macht, was uns als Teil eines Systems zusteht. Die Tatsache, dass es sich um das Unsere, das Kollektive handelt, bedeutet nun nicht, dass wir das Recht haben, die Ressourcen auszubeuten. Es bedeutet vielmehr, dass es sich um Beziehungen unter Gleichen handelt, wenn über die Ressourcen entschieden wird. Diese Auffassung beruht auf einer Praxis und Ethik der Solidarität und Reziprozität, des Ausgleichs und der Kooperation, die im Gegensatz zu der gängigen Idee der Handelsabkommen steht, wonach alles privatisiert werden kann und alles dem Markt unterworfen werden muss, um etwas wert zu sein und dem Verfall zu entgehen. Falls es uns gelingen sollte, aus diesem Geist der Verantwortung und Solidarität heraus das Unsere zu schützen, wird es nicht nötig sein, neue Rechte an den Gemeingütern aufzustellen. Die Grenzen wären bereits dadurch gegeben, dass die Menschen von den Ressourcen abhängig sind, da ist es nicht zweckmäßig, sie zu übernutzen. Es gibt stets Rechte und Pflichten.

Wir erinnern uns immer daran, dass unsere Beziehung über das Materielle hinausgeht, so wie es die Worte des U'wa Volkes angesichts der Erdölförderung3 auf seinem Territorium im Nordosten Kolumbiens widerspiegeln: „Das Gebiet der U'wa ist heilig, es reicht viel weiter als die westlichen Menschen glauben. In unserer Weltanschauung gibt es ein Eigentumsrecht über das Land, in dem wir UreinwohnerInnen geboren wurden, dieses Eigentum trägt kollektiven Charakter und wurde uns direkt von den SchöpferInnen der Welt übergeben.“

  • 1. Valencia, María del Pilar: “Pluralismo jurídico una premisa para los derechos intelectuales colectivos”. In Grupo Ad Hoc über Diversidad biológica: Diversidad biológica y cultura. Retos y propuestas desde América Latina. ILSA. Semillas. 1998.
  • 2. vgl. Pronunciamientos Indígenas de las Constituciones Americans, http://alertanet.org/constitucion-indigenas.htm
  • 3. Versammlungsurkunde zur Vorbereitung für die Anhörung der U´wa, Gualanday, August 1996. Aus U´ wchita.

Margarita Flórez ist Rechtsanwältin beim Instituto Latinoamericano de Servicios Legales Alternativos (ILSA) in Kolumbien.

Übersetzung Viola Campos