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Continente Rebelde

Attac-Lateinamerika-Kongress in Mannheim

Rund 500 Leute nahmen vom 31. Oktober bis zum 2. November in Mannheim an den Seminaren, Workshops und Podiumsveranstaltungen des ersten attac-Lateinamerikakongresses teil. Für die ila-Redaktion war Andreas Hetzer dabei. Hier seine Eindrücke.

Andreas Hetzer

Bereits am Freitagabend war der Saal der Waldorfschule im Stadtteil Neckarau gut gefüllt. Nach einer kurzen Begrüßung trat Leo Gabriel aus Österreich auf die Bühne und erläuterte aus seiner Sicht die politischen Entwicklungen Lateinamerikas der letzten Jahre. Mit Dankbarkeit nahm der geneigte Zuhörer zur Kenntnis, dass sich Gabriels Vortrag nicht auf die Führungspersönlichkeiten der politischen Reformprozesse in Lateinamerika fokussierte, sondern die sozialen Bewegungen in den Mittelpunkt stellte. Etwas fröstelnd kam allerdings seine Kritik am Neoliberalismus daher, die sich im klassischen Sinne einer verkürzten Kapitalismuskritik biologisierender Begriffe bediente. Von einem Krebsgeschwür war da die Rede, das sich über den ganzen Kontinent ausgebreitet hätte. Über Anschlussmöglichkeiten derartig kruder Äußerungen sind keine weiteren Worte verloren worden.

Glücklicherweise ging das darauf folgende Podium zum Thema der aktuellen Verfassungsprozesse in Ecuador und Bolivien in eine andere Richtung. Silvia Lazarte (Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung in Bolivien) und Horacio Sevilla Borja (Botschafter Ecuadors in Deutschland) stellten beeindruckend unter Beweis, warum die Reformprozesse in ihren Ländern mit progressiven Ansätzen in den neuen Verfassungen als Projektionsfläche für politische Bewegungen dienen und weshalb Europa von den beiden Demokratien Lateinamerikas in Sachen Partizipation lernen kann. Horacio Sevilla Borja erläuterte politisch reflektiert einige wichtige Eckpunkte der neuen ecuadorianischen Verfassung wie die Plurinationalität des neuen Staates, die Gewährleistung öffentlicher Gemeingüter und die Anerkennung der Rechte der Natur. Als Kontrast dazu verkörperte die indigene Bäuerin Silvia Lazarte in traditioneller Kleidung die ganze Emotionalität der Prozesse in Bolivien. Voller Stolz auf ihre Herkunft betonte sie ihre Rolle als Indígena und als Frau und ließ keinen Zweifel daran, dass die Reformen der Regierung Morales auch vom weiblichen Geschlecht getragen und unterstützt werden. Regina Viotto, Juristin an der Uni Bielefeld, führte als weitere Podiumsteilnehmerin dem Publikum vor Augen, welche demokratischen Defizite die neue EU-Verfassung im Gegensatz zu Ecuador und Bolivien aufweist.

Am zweiten Tag sollten die Vormittagsseminare zu Themen wie der Rolle der EU in Lateinamerika, Medienstrukturen, Soziale Bewegungen, Agro-Technik oder Militarisierung primär einen inhaltlichen Input vermitteln, um später in den Workshops daran anzuknüpfen. Da es sich um ein Publikum mit breiten Vorkenntnissen handelte, gestalteten sich die Seminare dementsprechend interaktiv – eine dankbare Aufgabe für die ReferentInnen, die von dem Hintergrundwissen der TeilnehmerInnen profitieren konnten. Besonders spannend waren dabei die Kontakte und das persönliche Kennenlernen aller Beteiligten. Nach dem Mittagessen gab es vier große Foren mit mehreren PodiumsteilnehmerInnen, deren Qualität stark variierte und sowohl von der Diskussionsführung als auch von den Einzelbeiträgen abhing. Das Selbstbewusstsein des Publikums drückte sich dadurch aus, dass es des Öfteren zur Intervention bereit war und seine Diskussionsrechte einklagte.

In den anschließenden rund 15 Workshops ließ die TeilnehmerInnenzahl merklich nach, was nicht zuletzt daran lag, dass die Veranstalter einen sehr ambitionierten Tagesablauf anvisiert hatten. In den Arbeitsgruppen gab es genügend Gelegenheit, sich mit vertiefenden Themen zu beschäftigen und intensiver zu diskutieren. Nicht selten ging es um die Vorstellung konkreter Projekte und Anknüpfungspunkte für politisches Engagement. Wer nach dem Abendessen immer noch nicht genug hatte, der/die konnte neben Ausstellungen und zahllosen Filmvorführungen an einer Präsentation des Buches „Sozialstrukturen in Lateinamerika“ teilnehmen, das der mittlerweile emeritierte Prof. Dr. Dieter Boris im Rahmen eines studentischen Projektes an der Universität Marburg realisiert hat. Im Volkshaus Neckarau, eines der wenigen Überbleibsel der Arbeiterbewegung in Mannheim, gastierte am späten Abend dann noch die Kölner Mestizo-Band „La Papa Verde“ zusammen mit dem DJ-Kollektiv „Lucha Amada“.

Für diejenigen, die es am Vorabend bei „Cuba Libre“ nicht übertrieben hatten, bot sich am Sonntagmorgen die Gelegenheit zu einem Vernetzungstreffen in einzelnen Arbeitsgruppen. Das Abschlusspodium als Bilanz des Kongresses führte allen Anwesenden noch einmal deutlich vor Augen, dass die gesellschaftliche Mobilisierung für politische Reformprozesse in Lateinamerika auch hierzulande wünschenswert wäre, um progressive politische Ansätze zu verwirklichen. In einigen Ländern Lateinamerikas scheint der Begriff der Demokratie im radikalen und substanziellen Sinne verstanden und als permanentes Projekt tatsächlich gelebt zu werden. Vorsicht ist allerdings geboten bei blinden Projektionen, die die Komplexität und die Ambivalenz mancher politischer Entwicklungen aus den Augen verliert. Ein Lernprozess sollte immer beide Seiten der Medaille im Auge behalten.