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Liebe in Zeiten des Exils

Der Film „Die Tränen meiner Mutter“ von Alejandro Cardenas Amelio
Britt Weyde

Ein fröhlicher Kinderchor mit Panflöten und Ponchos begrüßt den „südamerikanischen amigo“ aus Argentinien. Doch mit der lustigen Folklore ist schnell Schluss. Als der Neue seine schokoladigen alfajores mit dem Banknachbar teilen will, kommt die Lehrerin herbeigeeilt: „Hier bei uns in Deutschland gibt es Regeln. Eine davon ist: Essen im Unterricht ist verboten! Verboten!“ Willkommen im Berlin der frühen 80er Jahre, wo Alejandro Cardenas Amelios erster Spielfilm angesiedelt ist. Die Vorgeschichte erfolgt in schnellen Schnitten, lapidar kommentiert: Flucht der Familie vor der Militärdiktatur in Argentinien, Ankunft in Westberlin, Einzug in eine Fabriketagen-WG, Vorstellung der MitbewohnerInnen. Die Ersatzfamilie im Fabrikloft ist wesentlich herzlicher und toleranter als die quadratische Lehrerin. Der zehnjährige Alex fühlt sich schnell wohl. Eines Tages entdeckt er, dass er mit der Kraft seiner Gedanken Gegenstände bewegen kann. Seine telekinetischen Fähigkeiten – Teil einer Kinderwelt, an die kein Erwachsener glaubt – stehen nicht im Mittelpunkt des Films, beeinflussen aber wesentliche Entwicklungen in der weiteren Geschichte. Ein Griff in die dramaturgische Trickkiste? Nicht unbedingt, Cardenas Amelio versteht es auch so gut, das emotionale Auf und Ab einer Familie im Exil darzustellen. Die Dialoge, vor allem die spanischen Wortgefechte zwischen Vater Carlos und Mutter Lizzy, sind temporeich, witzig und schön argentinisch.

„Die Lehrerin ist wie ein Möbelstück, trocken, humorlos, kompakt“, schimpft Carlos, als ein Beschwerdebrief die Eltern erreicht. Was er denn in Argentinien lernen würde, gibt Lizzy zurück: „Dort würde er lediglich lernen, ein guter milico zu werden.“ – „Und hier lernt er, für alles ein Formular auszufüllen“, kontert der vom Heimweh geplagte Vater.

Lizzy, die toughe Dokumentarfilmerin, lernt die schwierige Sprache des Exillandes, ist berufstätig und integriert sich insofern recht gut. Carlos, die Künstlerseele, kann und will sich nicht richtig einfinden, ist in den Augen der Mutter ein Taugenichts. Und dann fällt ihm auch noch nichts Besseres ein, seine angeknackste Männerehre aufzupolieren und seine Einsamkeit zu besänftigen, als die benötigte Nähe woanders zu suchen.

Der Titel des Films irritiert ein wenig. Der Konflikt  zwischen Mutter und Vater, Integration und Verweigerung, Bleiben oder Zurückkehren wird einfühlsam dargestellt, aber um das Leid der Mutter geht es kaum. Vielmehr um das Selbstmitleid des Vaters. Auch Alex leidet und findet in Mitbewohnerin Sik, einem alltagsweisen Punkermädchen, eine Verbündete. „Menschen kommen und gehen“, erklärt sie ihm. Eines Tages zieht Sik dann auch aus; zum Abschied gibt sie Alex mit auf den Weg: „Das Leben ist beschissen, gewöhn dich dran.“

Der Film erzählt eine Geschichte über das Leben im Exil. Und eine Geschichte über die Liebe, die an den Umständen scheitert. Auf die politischen Geschehnisse in den beiden Ländern wird dabei nicht näher eingegangen, Cardenas Amelio konzentriert sich auf den Mikrokosmos (WG-)Familie. Die Zuschauerin verfolgt den unaufhaltbaren, schmerzhaften Prozess, wie sich zwei Menschen auseinander leben. Und sich dabei schließlich verlieren.

Der 31jährige Alejandro Cardenas Amelio, für den seine eigene Geschichte „quasi die Basis für diesen Film“ gewesen ist, hat selber eine vom Diaspora-Dasein geprägte familiäre Vergangenheit. Seine Eltern wurden als politische AktivistInnen in Argentinien bzw. Peru verfolgt; sein Vater schloss sich der peruanischen Guerilla MRTA an. Nach mehreren Zwischenstationen verschlug es Cardenas Amelio zusammen mit seiner Mutter und seinem Stiefvater 1988 nach Westberlin.
Etwas blass bleiben im Film die auf Freakigkeit getrimmten WG-MitbewohnerInnen, die wohl die Westberliner Alternativszene der 80er Jahre darstellen sollen. Punk-Waisenmädchen Sik überzeugt jedoch. „Tiene calle“ sagt man in Südamerika über jemanden, der über Wissen von der Straße, eine gewisse Bauernschläue verfügt. Genau dies verkörpert Sik wunderbar. Dafür hat Darstellerin Alice Dwyer dieses Jahr auch den Max-Ophüls-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin bekommen. Adrian Goessel als vorpubertierender Alex macht seinen Job auch sehr gut. Den Elternpart haben zwei bekannte argentinische SchauspielerInnen übernommen, Erica Rivas spielte u.a. bei Garaje Olimpo mit, Rafael Ferro beim Immigrantendrama Bolivia.

Der Film ist zweisprachig, trotz anfänglicher Überlegungen, ihn ganz in Deutsch zu drehen – um nicht das Publikum zu überfordern. Zum Glück hat Cardenas Amelio mit dieser unseligen Tradition im deutschen Kino gebrochen. Dabei ist er, wie er von sich selber sagt –  „ein bisschen ein Deutschlandverfechter. Wenn man wie ich die Dritte Welt bereist und in ihr gelebt hat, dann weiß man, dass das hier ein Paradies ist. Es gibt eine Krankenversicherung, man kann jederzeit zum Arzt gehen und nachts um drei auf der Straße herumlaufen ... das ist Luxus.“ Auch wenn LehrerInnen und andere manchmal wie Möbelstücke sind.