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Black Power in der Karibik

Die Rodney-Riots im Oktober 1968 in Jamaika
Gert Eisenbürger

Im Februar 1968 begann der aus Guyana stammende Historiker Walter Rodney an der jamaikanischen Abteilung der University of the West Indies, der gemeinsamen Universität der englischsprachigen Karibik, zu unterrichten. In seinen Vorlesungen sprach er über die Geschichte und Fortdauer des Kolonialismus in Afrika und der Karibik, an der die völkerrechtliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien wenig geändert habe. Dabei thematisierte er auch die Rolle der karibischen Mittel- und Oberschichten, die durch ihre Orientierung nach Europa und ihre Kollaboration mit dessen Regierungen das Fortbestehen der kolonialen Strukturen unterstützen würden. Er forderte einen radikalen Bruch mit dem weißen Establishment und bezog sich sowohl auf die afrikanischen Befreiungsbewegungen als auch auf die Black-Power-Bewegung in den USA. Seine Lehrveranstaltungen hatten bald eine große Resonanz, nicht nur unter den Studierenden, sondern auch außerhalb der Universität. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Uni begann Rodney mit Leuten in den Armenvierteln der jamaikanischen Hauptstadt Kingston zu arbeiten und suchte den Kontakt zu den damals stark diskriminierten Rastafarians, einer nach Afrika orientierten Religionsgemeinschaft.

Im Jamaika des Jahres 1968 gärte es. Mit der 1962 erreichten Unabhängigkeit von Großbritannien hatten die schwarzen JamaikanerInnen große Hoffnungen verbunden: Man wollte endlich das Sagen im Land haben und ökonomisch sollte es vorwärts gehen. Doch nach wenigen Jahren vermeintlicher Selbständigkeit merkten vor allem die ärmeren Leute, dass sie mitnichten das Sagen hatten und dass sich auch wirtschaftlich für sie wenig verbesserte. Die Weißen – nun in Kooperation mit einer kleinen schwarzen Elite – kontrollierten weiter wichtige Bereiche der Wirtschaft und im Staatsapparat bedienten sich die Funktionäre der politischen Parteien – zunächst vor allem die der konservativen Jamaica Labour Party (JLP).

In diesem Klima fielen die Analysen des jungen marxistischen Professors Walter Rodney, einem zudem begnadeten Rhetoriker, auf fruchtbaren Boden. Die Regierung Jamaikas unter Premierminister Hugh Shearer (JLP) sah in Rodney bald eine Bedrohung. Als dieser im Oktober 1968 an einem Kongress schwarzer AutorInnen in Montreal/Kanada teilnahm, verweigerten ihm die jamaikanischen Behörden bei seiner Rückkehr am 15. Oktober die Wiedereinreise. Kaum war diese Nachricht an der Universität bekannt geworden, formierten sich die StudentInnen zu einem Protestmarsch von der Uni zum Amtssitz des Premierministers und zum Parlamentsgebäude in Kingston. Unterwegs schlossen sich immer mehr Leute aus den Gettos dem Demonstrationszug an. Bald klirrten die ersten Fensterscheiben und die DemonstrantInnen begannen Geschäfte und Villen zu plündern. In den folgenden Stunden kam es überall in Kingston zu Straßenschlachten mit Polizeikräften, die die ganze Nacht und den folgenden Tag andauerten. Die Feuerwehr registrierte 14 Großfeuer, mehr als 50 Busse wurden demoliert. Die staatlichen Gewaltorgane brauchten 36 Stunden, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Die seit langem schwelende Unzufriedenheit hatte sich Luft gemacht oder wie es Walter Rodney formulierte: „Lasst uns damit aufhören, es Studentenrevolte zu nennen. Was geschehen ist, …ist, dass die Schwarzen aus Kingston die Gelegenheit ergriffen haben, der Regierung Jamaikas die Anklageschrift zu präsentieren.“ (http://socialismandliberation.org/mag/index.php?aid=819, Übersetzung: G.E.) 

Die Regierung machte indessen Cuba und die Sowjetunion für die riots verantwortlich und ordnete die vorübergehende Schließung der Uni an. Erst nach mehreren Wochen konnte der Lehrbetrieb wieder aufgenommen werden. Es blieb nicht bei den Demonstrationen in Kingston, auch an den beiden anderen Standorten der University of the West Indies in Cave Hill (Barbados) und St. Augustine (Trinidad & Tobago) gab es Protestmärsche gegen das Einreiseverbot für Rodney. Allerdings blieben die Studierenden dort (zunächst noch) unter sich. Da Jamaikas Regierung auch weiterhin nicht bereit war, Rodney ins Land zu lassen, entschied der Historiker, eine Einladung der Regierung Tansanias anzunehmen und als Professor an die Universität Dar-es-Salaam zu gehen. Dort verfasste er Anfang der siebziger Jahre sein bekanntestes Werk „How Europe underdeveloped Africa“ (dt. Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung, Wagenbach-Verlag, Berlin 1975), das als afrikanisches Pendant zu Eduardo Galeanos „Die offenen Adern Lateinamerikas“ gelten kann, ebenso lesenswert, wenn auch nicht so blumig geschrieben.

In den Wochen und Monaten nach den Rodney-Riots geschah in der Karibik das, was auch in Europa zu einer Weiterverbreitung des Gedankengutes der 68er beigetragen hatte: Die StudentInnen fuhren nach Hause und agitierten dort ihre AltersgenossInnen. Wie schon erwähnt war die UWI die gemeinsame Universität der englischsprachigen Karibik, d.h. ihre Studierenden kamen aus der gesamten englischsprachigen Karibik, die zum Teil noch unter britischer Kolonialverwaltung stand (bis 1968 waren nur Jamaika, Trinidad & Tobago, Barbados und Guyana unabhängig geworden). Wegen der Zwangsschließung der UWI bzw. in den folgenden Semesterferien kamen die UWI-StudentInnen in ihre Heimatländer zurück und stellten dort ihre Version des Geschehens dar. Die Forderung nach einer wirklichen Unabhängigkeit wurde breit diskutiert, Black Power wurde bald zu der Parole der Jugendlichen in der Karibik. Überall entstanden linke Diskussionszirkel und Gruppen, die das Establishment herausforderten.

Im vergleichsweise wohlhabenden Ölstaat Trinidad & Tobago formierte sich 1969 das National Joint Action Committee (NJAC). Als es im Februar 1970 zu massiven Black-Power-Demonstrationen kam, an denen sich nun auch hier GettobewohnerInnen beteiligten, reagierte die konservative Regierung von Eric Williams mit Repression und verhängte den Ausnahmezustand. Ähnlich repressiv reagierte Patrick John, der Ministerpräsident des damals noch unter britischer Kolonialverwaltung stehenden Dominica (75 000 EinwohnerInnen), auf die Aktivitäten des Movement for a new Dominica (MND).

In Jamaika formierte sich die eher orthodoxe Workers' Party in Opposition zum von der Kolonialmacht übernommenen Zwei-Parteien-System. Die Forderung nach einer wirklichen Unabhängigkeit und der Überwindung neokolonialer Strukturen erfasste aber auch die oppositionelle sozialdemokratische People's National Party (PNP). Deren charismatischer Parteichef Michael Manley trat 1972 zu den Wahlen mit einem Reformprojekt an, dessen Ziel ein Democratic Socialism für Jamaika war. Die PNP gewann die Wahlen und Manley löste Hugh Shearer als Ministerpräsident ab. Obwohl sein Reformprogramm wesentlich gemäßigter war als das der Regierung Salvador Allendes in Chile, setzten die USA eine groß angelegte ökonomische und politische Destabilisierungskampagne in Gang. Zwar wurde Manley 1976 wiedergewählt, doch in den darauf folgenden Jahren geriet er immer stärker unter Druck und wurde 1980 abgewählt.

Am nachhaltigsten wirkten die Folgen der Rodney-Riots wohl auf der kleinen ostkaribischen Insel Grenada (90 000 EinwohnerInnen). Dort hatte sich 1969/70 um die Jurastudenten Maurice Bishop, Unison Whiteman und Kenrick Radix eine Gruppe gebildet, die im Mai 1970 zu einer Black Power- Demonstration aufrief. Aus diesem Zusammenhang formierte sich später das New Jewel Movement (NJM), das schnell zur wichtigsten Oppositionsbewegung gegen den autokratischen Ministerpräsident Eric Gairy wurde. Als die britische Regierung Grenada 1974 in die Unabhängigkeit entließ, errichtete Gairy eine Diktatur mit ziviler Fassade. Nach dem Vorbild der berüchtigten haitianischen Tonton Macoute schuf er mit der Momgoose Gang eine paramilitärische Schlägertruppe, die vor allem die NJM-AnhängerInnen terrorisierte. Als Gairy im März 1979 zur UN-Vollversammlung in New York weilte, stürmten Mitglieder der NJM in der Nacht zum 13. März die einzige Militärkaserne Grenadas und setzten die überwiegend schlafenden Soldaten fest. Über Radio rief Maurice Bishop die Menschen auf, auf die Straße zu gehen und die Macht zu übernehmen. Mehr als 10 000 folgten dem Aufruf und machten aus dem nächtlichen Handstreich eine wirkliche People's Revolution. 

Die neue Revolutionäre Volksregierung unter Ministerpräsident Maurice Bishop setzte zwischen 1979 und 1983 das ehrgeizigste soziale Reformprogramm seit der cubanischen Revolution in der Karibik um und handelte sich damit die erbitterte Feindschaft der Regierung Reagan in den USA und ihrer konservativen Verbündeten in der Karibik ein. Die Politik der Revolutionsregierung mit ihren sozialen Programmen und rätedemokratischen Experimenten strahlte auf die gesamte Region aus und führte zu einem Aufschwung der linken Bewegungen. Auch Walter Rodney besuchte 1979/80 mehrfach Grenada und verfolgte die Revolution mit großer Sympathie. Am 19. Oktober 1983 putschte das Militär und ein Teil der Regierungspartei gegen Bishop und ermordete ihn und die meisten Regierungsmitglieder. Dies nutzten die USA am 25. Oktober als Vorwand zu einer militärischen Invasion auf der Insel.

Eine fast schon perverse Folge hatten die politische Bewusstwerdung und das Schlagwort Black Power in Walter Rodneys Heimat Guyana. Dieses östlich von Venezuela auf dem Festland gelegene englischsprachige Land gehört wie seine Nachbarländer Surinam und Französisch Guyane geographisch zwar zu Südamerika, politisch, historisch und kulturell jedoch zur Karibik. Wie in ihren karibischen Inselkolonien setzte die britische Kolonialmacht auch dort eine auf SklavInnenarbeit basierende Plantagenökonomie durch. Als die schwarzen ZwangsarbeiterInnen nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1838 die Plantagen verließen, versuchten die Kolonialisten das Plantagensystem aufrecht zu erhalten, indem sie Arbeitskräfte aus Indien importierten. Diese so genannten KontraktarbeiterInnen mussten zur Bezahlung ihrer Überfahrt und als Gegenleistung für ein Stück Land acht bis zehn Jahre unentgeltlich auf den Plantagen arbeiten. InderInnen kamen nach 1838 in fast alle unter britischer Kolonialherrschaft stehenden karibischen Territorien, doch nirgendwohin so viele wie nach Guyana, wo sie bald die Bevölkerungsmehrheit stellten. Zur Absicherung ihrer kolonialen Herrschaft förderte die Kolonialmacht die ethnischen Gegensätze zwischen Afro- und IndoguyanerInnen.

In den fünfziger Jahren bildete sich in Guyana mit der Progressive People's Party (PPP) eine in beiden Bevölkerungsgruppen verankerte Partei, die für die Unabhängigkeit eintrat und die ersten Wahlen in der Kolonie 1953 klar gewann. An der Spitze der PPP standen der Indoguyaner Cheddi Jagan und der Afroguyaner Forbes Burnham. Die sozialistische Orientierung Jagans und der PPP waren der britischen und der US-Regierung ein Dorn im Auge und sie setzten wieder einmal auf die Strategie des „Teile und Herrsche“. Sie ermunterten Forbes Burnham, die PPP zu verlassen und eine afroguyanische Partei, den People's National Congress (PNC), zu gründen. In der Folgezeit behinderte die britische Kolonialverwaltung die Aktivitäten der PPP und schnitt für die Wahlen 1964 die Wahlkreise so zu, dass die afroguyanische Minderheit (40% der Bevölkerung) und der PNC bevorzugt waren. So gelang Forbes Burnham 1964 der Wahlsieg und Großbritannien entließ Guyana 1966 in die Unabhängigkeit.
Die Ereignisse 1968 in Jamaika bedrohten Burnhams Herrschaft unmittelbar. Konnte er sich ohnehin nur auf die afroguyanische Bevölkerungsminderheit stützen, bestand nun die Gefahr, dass sich auch dort eine Opposition gegen ihn formierte. Anstatt wie andere Regierungschefs repressiv auf die Forderung nach Black Power zu reagieren, übernahm Burnham die Parole und nutzte sie als Rechtfertigung für die völlige Ausgrenzung der IndoguyanerInnen aus dem öffentlichen Leben. Alle Jobs in der Verwaltung und den staatlichen Unternehmen gingen nun an schwarze PNC-UnterstützerInnen.

Guyana trat aus dem Commonwealth aus, und Burnham proklamierte die „Kooperative Republik Guyana“, die der Bewegung der Blockfreien beitrat und sich um gute Beziehungen zu Cuba bemühte. Für die Ökonomie war die Ausschaltung qualifizierter IndoguyanerInnen verheerend, insbesondere die öffentlichen Unternehmen verkamen zu Selbstbedienungsläden der PNC-Klientel. In dieser Situation entschloss sich Walter Rodney 1974, aus Tansania nach Guyana zurückzukehren. Dort betrieb er den Zusammenschluss verschiedener linker Zirkel zur Working People's Aliance, einer neuen Partei, in der Afro- und IndoguyanerInnen auf marxistischer Grundlage die ethnische Spaltung Guyanas überwinden wollten. Rodneys Aktivitäten und der Zulauf junger Schwarzer zur WPA gefährdeten von neuem Burnhams Position, der ohnehin wegen der desolaten Wirtschaftslage in die Kritik geriet. Das Regime antwortete mit Repression, deren Höhepunkt die Ermordung Walter Rodneys am 13. Juni 1980 war. Mehr als 30 000 Menschen (Guyana hat nur rund 800 000 EinwohnerInnen) kamen zu seiner Beerdigung. Mit dem Mord an Walter Rodney endete der Traum einer gemeinsamen Front von Afro- und IndoguyanerInnen gegen die Burnham-Diktatur. Erst der Tod des Diktators im Jahr 1985 leitete den Übergang zu demokratischen Verhältnissen ein.

Genausowenig wie in Europa war die Revolte des Jahres 1968 in Jamaika eine StudentInnenrevolte. Natürlich spielten die Studierenden eine zentrale Rolle, aber der Kampf gegen konservative Professorenherrlichkeit in Westberlin oder der gegen das Einreiseverbot für einen beliebten Professor in Kingston waren nur die Auslöser für die Aufstände, die ihre Ursachen in grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikten hatten. In Jamaika wie der übrigen englischsprachigen Karibik wurde die Unabhängigkeit nicht erkämpft. Die britische Regierung hatte den westindischen Kolonien in den fünfziger Jahren eine interne Selbstverwaltung „gewährt“: Wie im „Mutterland“ wurden Wahlkreise gebildet, in denen die Abgeordneten nach Mehrheitswahlrecht gewählt wurden. Damit wurde gleich auch das britische Parteiensystem, eine eher konservative und eine mehr sozialdemokratische Partei, übernommen. Wenn dieses System dann „funktionierte“ und gewährleistet war, dass die Interessen des „Mutterlandes“ gewahrt blieben, wurden die karibischen Staaten in die Unabhängigkeit entlassen. Dies bedeutete natürlich keinen Bruch mit den kolonialen Strukturen, sondern die Länder blieben weiter dazu verurteilt, einige wenige Agrarprodukte (je nach Insel hauptsächlich Kaffee, Bananen, Kakao, Gewürze) oder Rohstoffe (Bauxit in Jamaika und Guyana, Öl in Trinidad & Tobago) ins „Mutterland“ zu exportieren bzw. TouristInnen aus den Metropolen zu bedienen. Das bedeutete für die Mehrheit der Bevölkerung wenig Aussichten auf soziale Verbesserungen und speziell für die Studierenden auch keine attraktiven Jobperspektiven. Gegen dieses Modell rebellierten die StudentInnen und Getto-Kids im Oktober 1968 in Kingston. Sie wollten wirkliche Unabhängigkeit, die auch ihnen eine Perspektive bot: Black Power.

Die nach dem Oktober 1968 entstandenen linken Organisationen proklamierten ein neues schwarzes Selbstbewusstsein und Lebensgefühl, dessen sichtbarster kultureller Ausdruck die aus dem politischen und religiösen Kosmos der Rastafarians hervorgegangene Reggae-Musik wurde. Ein politischer Durchbruch gelang der neuen karibischen Linken nur in Grenada, wo unter Führung des charismatischen Maurice Bishop zwischen 1979 und 1983 an einer politischen Alternative gebaut wurde, die dann im Oktober 1983 durch die Schüsse einiger Putschisten und die militärische Macht des Imperiums binnen weniger Tage zerschlagen wurde. Der Putsch und die Invasion bedeuteten das definitive Ende der Hoffnungen von 1968 auf eine Überwindung der neokolonialen Strukturen und eine sozialistische Perspektive für die englischsprachige Karibik. Selbst die moderate Reformpolitik des Sozialdemokraten Michael Manley in Jamaika scheiterte (neben hausgemachten Widersprüchen) am Widerstand der USA, die in ihrem Hinterhof keine eigenständigen Politikansätze dulden. Von diesen Niederlagen hat sich die Linke in der englischsprachigen Karibik bis heute nicht erholt, sie ist derzeit nirgendwo eine Alternative. Eine solche sehen die jüngeren Leute derzeit nur in der Migration, nach Großbritannien, Kanada oder in die USA. Die Überwindung der kolonialen Strukturen bleibt weiterhin die große Aufgabe.