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„Zikkurat“ oder der Schatten der Wissenschaften

Buchbesprechung
Ute Evers

Das ist Pablo de Santis: skurrile Figuren- und Handlungskonstellationen, eine Welt, die geheimnisvoll scheint, deren Hauptdarsteller in erster Linie jedoch intrigant und missgünstig sind. Misstrauisch jedem gegenüber und krampfhaft auf die individuelle meist akademische Karriere fixiert, werden Menschen umgebracht. Wobei die Morde die übrigen Figuren indes wenig berühren, so eng das Verhältnis zu den Opfern auch gewesen sein mag; wichtiger ist es, wissenschaftlichen Themen und wahnwitzigen Ideen hinterherzujagen, die sich später als Bluff herausstellen. 

So wird die verwirrende und verworrene Geschichte des seltsam-undurchsichtigen Architekten Silvio Balestri erzählt, die in Rom beginnt, nach New York führt und schließlich in Buenos Aires endet. Im Mittelpunkt steht der Architekt Silvio Balestri, dessen künstlerischen Lebensweg Mitglieder der „Gesellschaft für Utopische Architektur“ anhand von persönlichen Briefen und Zeitungsausschnitten zu rekonstruieren versuchen. Dem Leser/der Leserin wird Silvio Balestri dabei auf privater Ebene wenig vertraut, stehen doch seine Auseinandersetzungen über Sprache, Semiotik und Architektur im Zentrum des Plots.

Balestri, 1889 geboren, stammt aus einer römischen Familie einfacher Verhältnisse. In der Werkstatt seines Vaters, der sich als Bildhauer in der Grabsteinkunst sein Leben verdient, wird sein Interesse an darstellender Kunst geweckt. Balestri führt es jedoch zur Architektur und kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges emigriert er nach New York. Dort hat er vor, bei einem berühmten italienischen Architekten zu arbeiten. Trotz Referenzen schickt ihn dieser jedoch wieder weg, weshalb Balestri erst einmal eine Karriere als Tellerwäscher unternimmt. Schließlich findet er aber eine Anstellung als Kopist in dem Architektenbüro Moran, Morley & Mactran und die moderne Fassung des American way of live beginnt.
Zwischendurch heiratet Balestri die Italienerin Greta Zolla, die er auf der Überfahrt nach New York kennen gelernt hatte. Über die Ehe ist nichts bekannt, wie eben auch der Rest seines Intimlebens. So wirft es ihn langfristig auch nicht aus den Bahnen, als Greta sang- und klanglos verschwunden zu sein scheint.

Im Gegenteil, beginnt doch Balestri kurz nach ihrem Verschwinden mit dem Bauprojekt seines Lebens, das er Zikkurat (babylonisch: hoch aufragend, aufgetürmt; Himmelshügel) nennt und zu einer wahren Obsession wird. Das biblische Gleichnis des Turms von Babel nimmt für die theoretische Auseinandersetzung Balestris über den Sinn von Bauwerken und Gebäuden (vor allem von Wolkenkratzern) eine zentrale Rolle ein. An die zwei bekannten Interpretationsansätze anknüpfend (Bestrafung des Menschen für seinen zweifelhaften Ehrgeiz und die Sprachenverwirrung) entwickelt er eine dritte Variante des Mythos. „Sie war das Bemühen, etwas zu schaffen, von dem man wusste, dass es unmöglich war, um auf der Erde eine Spur dieses utopischen Wunsches zu hinterlassen.“

In einem rasanten Tempo arbeitet sich Balestri währenddessen bei Moran, Morley & Mactran nach oben, bis er von den Firmeneigentümern einen ungewöhnlichen Auftrag erhält: Er soll drei Mitarbeiter ausspionieren und ihre Geheimbotschaften, die sie sich während der Arbeitszeit zukommen lassen, entziffern. Hintergrund dieser geheimen Mission ist, dass Projekte, die in der Firma entstehen, von anderen Firmen umgesetzt werden. 

Eines Tages dann nähert sich Balestri ein gewisser Tarvis, auch Jack der Schornsteinfeger genannt, Mitglied des ominösen „Clubs der Sechs Laternen“. Tarvis rät Balestri, den Firmengründern einen falschen Namen zu nennen, sollte er herausfinden, wer der Spion ist. Sein Leben erfährt eine Wende, die schließlich zum totalen Zusammenbruch von Silvio Balestri führt.

„Die Sechste Laterne“ des Argentiniers Pablo de Santis ist ein vielschichtiger Roman. Neben der philosophisch anmutenden Auseinandersetzung realisierter und nicht realisierter Bauwerke ergeben sich Themen wie Größenwahnsinn und Skrupellosigkeit der Immobilienmagnaten, der Bauboom von „luftigen Stahlkonstruktionen als Symbol der Wiedergeburt“, die Verdrängung des privaten Wohnraums aus den Stadtzentren durch Büroräume oder auch die menschliche Entfremdung aufgrund des sich in Hektik überschlagenden neuen urbanen Lebensgefühls Ende der 1920er Jahre. Neben den nicht selten überhöhten Diskussionsebenen über die Bedeutung von Hochhäusern sind es auch die von dem anonymen Erzähler stets pointiert eingeworfenen Kontrastaufnahmen, die dem Roman eine klare sozialkritische Konnotation verleihen.

Pablo de Santis, Die sechste Laterne. Übersetzung: Claudia Wuttke. Unionsverlag, Zürich 2007, 247 Seiten, 19,90 Euro