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Lateinamerikanische KünstlerInnen auf der documenta 12

Alle fünf Jahre zieht es die Massen nach Kassel, um eine der wichtigsten Gegenwartskunst-Ausstellungen der Welt zu betrachten. Wer wenig Zeit hat, sollte sich dieses Jahr auf das Schloss Wilhelmshöhe beschränken: Etwas abseits der anderen vier Kunsttempel inmitten weitläufiger Grünanlagen gelegen, wurde das Schloss von dem diesjährigen Kurator der documenta, Roger Buergel, und seiner Frau Ruth Noack erstmals für die Ausstellung requiriert.

Laura Held

Inmitten der alten Meister sind einige wenige zeitgenössische KünstlerInnen zu sehen, ein Konzept, das überraschend gut funktioniert: Direkt am Anfang, vor der temporären Ausstellung Vom Adel der Malerei um 1700 zieht ein zierliches Tischchen die Blicke auf sich. Was auf den ersten Blick gut in die Barockzeit passt, ist eine verstörende Arbeit der argentinischen, in Barcelona lebenden Künstlerin Sonia Abian Rose über das Konzentrationslager der Liebe, das Bordell von Auschwitz. Inspiriert wurde sie zu der Arbeit von einem Sketch des Auschwitz-Überlebenden Wladislaw Siwek, der eine grau in graue Urteilsverkündung von einem KZ-Gefangenen zeigt, wobei eine farbige große Engelsgestalt das Urteil zu verkünden scheint. Der Tisch ist mehrmals ausziehbar und zeigt auf jeder Seite Szenen aus Auschwitz oder dem Straßenstrich, in denen sich Amors oder Engel tummeln, die die ganze Verlogenheit und Ungeheuerlichkeit der dargestellten Szenen sichtbar machen.

Im ersten Stock in der Dauerausstellung der alten Meister ist im Innenraum ein dunkler Bereich abgetrennt worden, der an beiden Seiten durch große Mehrkanal-Videoinstallationen begrenzt wird: auf der einen Seite El Dorado von Danica Dakic, auf der anderen Seite Funk Staden des brasilianisch-deutschen Künstlerduos Mauricio Dias & Walter Riedweg. Tanzende, feiernde Brasilianerinnen, laute Funk-Musik, eine Party auf einem Favela-Dach in Rio de Janeiro, offenes Feuer, bratendes Fleisch, menschliche Gliedmaßen (Puppen, Statuen usw.), die betanzt und symbolisch verzehrt werden. Kannibalen sind unter uns: Schon im 16. Jahrhundert berichtete der hessische Landsknecht Hans Staden von den kannibalischen Riten der indigenen Tupinamba, seine Zeichnungen sind oft unter den Feiernden von heute zu sehen und Requisiten von damals tauchen immer wieder auf dem heutigen Fest auf. Durch ironische Zuspitzung wird das europäische Vorurteil von den primitiven Wilden auf die Spitze getrieben.

Im dunklen, stillen Innenraum sind Werke aus vielen Jahrhunderten zu sehen (erstmals zeigt die Gegenwarts-documenta auch Kunst seit dem 14. Jh.): Tagebücher, alte Seidenmalerei, minimalistische Zeichnungen, Lacktafeln, persische Kalligrafie. Es funktioniert, ganz von selbst entdeckt man Kontinuitäten und Transformationen. Die Notebooks der in Zürich geborenen, 1988 in São Paulo gestorbenen Konzeptkünstlerin Mira Schendel passen da gut hinein: Große und kleine Hefte, genietet, geheftet, geklebt, ganz leer oder mit sparsamen Zeichen sorgfältig bemalt. Die ganze Welt auf ein kleines o reduziert. Arbeiten von Mira Schendel sind auch im Fridericianum und im Auepavillon zu finden. Droguinha aus gedrehten und geflochtenen Reispapierblättern hängt wie eine überdimensionale Handarbeit oder ein Insektenkokon in einem kleinen Seitenraum des Fridericianums und eine kleine Arbeit mit vernieteten, durchsichtigen Acrylstreifen passt wunderbar in den Hauptraum des ersten Stocks, der von der raumsprengenden Arbeit der brasilianischen Bildhauerin Iole de Freitas geprägt ist. Ihre Installation aus Stahl und Polycarbonat wächst wie eine riesige Pflanze aus der Wand des Fridericianums heraus und dringt nach wenigen Metern wieder durch die Mauer. Geschwungene Formen, moderne Materialien, viereckige, teils durchsichtige Segel: Innen und außen wird die klassizistische Architektur des Fridericianums durchbrochen, aber nicht zerstört.

Zerstört wurden die Arbeiten der chilenischen Künstlerin Lotty Rosenfeld. Una milla de cruces sobre el pavimento, mit 1000 Klebebändern wollte sie aus den Mittelstreifen der Verkehrsstraße vor dem Fridericianum Kreuze machen und damit Symbole der Ordnung, Aufteilung und Eindimensionalität in Symbole der Hoffnung verwandeln. Das Kreuz ist für sie ein Widerstandszeichen. Zunächst richtete sich dieser Protest gegen die Militärdiktatur in Chile, später u.a. gegen die politische Herrschaft in Washington und die Börse von Santiago. Mitarbeiter des Straßenverkehrsamts entfernten die Bänder umgehend. Die Künstlerin war enttäuscht. In der Ausstellung gibt es ein Video der Aktion von 1979 in Chile zu sehen, aber auf der Straße durfte sie nicht bleiben. Nicht aus politischen Gründen, sondern wegen der Straßenverkehrsordnung, wie eine documenta-Sprecherin erklärte.

Im Fridericianum erinnert die Argentinierin Graciela Carnevale an die Aktionen der Künstlergruppe Tucumán Arde in Argentinien 1968, der sie angehörte. Sie hat Foto- und Textmaterial gesammelt und obwohl sie während der Militärdiktatur vieles verbrennen musste, hat einiges überlebt. Auf mehren Stellwänden im Fridericianum sind Originalaufrufe, Plakate, Fotos und Flugblätter zu sehen. Die Grupo de Artistas de Vanguardia reiste 1968 in die Provinz Tucumán, um mit Aktionen auf die Verelendung der Provinz, u.a. durch die Stillegung der Zuckerindustrie, aufmerksam zu machen. Politische Kunst, die bei vielen zu einer Abkehr von der Kunst und Hinwendung zu direkter politischer Aktion führte.

Den Foto- und Videoarbeiten des Peruaners Luis Jacob, der in Kanada lebt, ist im Fridericianum ein ganzer Raum gewidmet. Leider enttäuscht sowohl die ambitionierte Fotoserie aus mehreren hundert Bildern zu Ereignissen der letzten Jahre aus der ganzen Welt als auch die Videoarbeit A dance for those of us whose hearts have turned to ice. Sie zeigt einen menschlichen Wolf, der mit Hemden im Schnee tanzt.  Die provozierenden Gemälde und Installationen des chilenischen Künstlers Juan Davila, der in Australien lebt, finden sich in fast allen Ausstellungsgebäuden und sie sind immer – nicht nur an dem überlangen Stinkefinger – sofort zu erkennen. Sie sind provozierend, pornographisch, unverhüllt politisch Stellung nehmend (z.B. eine US-Flagge mit Hakenkreuz statt Sternen) und strotzen vor Details, Nebengeschichten, Anspielungen und Visionen. Obwohl oft riesengroß, laufen die Bilder über den Rahmen, wird noch ein riesiges Holzschwert angelehnt und auch die „KunstvermittlerInnen“ können Stunden reden und haben immer noch nicht alles erklärt. Themen sind nicht nur Australien (z.B. in dem vieldiskutierten The arse end of the world), sehr oft tauchen auch lateinamerikanische Motive und Ikonen auf, wie die Kunstfiguren Juanito Laguna (mehrteilige Serie) oder Juanita Chile in Lamentation: a votive painting und Simón Bolívar in The liberator Simón Bolívar. Diese Malerei auf Leinwand auf Metall zeigt Bolívar in traditioneller Pose zu Pferd, aber als Mulatten, als Transsexuellen, die erhobene Hand mit dem Stinkefinger blumengeschmückt. Der vordere Teil des Pferdes besteht aus abstrakten, bunten Vierecken. Davila nimmt in seinen Schriften und Werken eindeutig Stellung, es geht ihm darum, Identitäten und Bedeutungsmuster aufzubrechen.

Das tut auf ganz andere Art auch der Chilene Gonzalo Díaz. Kurator Buergel ließ für Diaz' Installation Eclipsis extra den Beuys-Raum in der Neuen Galerie leerräumen („Das Allerheiligste, aber auch das Allertoteste“). Ein dunkler Raum, eine Lichtquelle, und nur im eigenen Schatten kann die Besucherin die kryptischen Worte lesen: „Du kommst zum Herzen Deutschlands, nur um das Wort Kunst in deinem eigenen Schatten zu lesen.“ Geht es um die subjektive Wahrnehmung von Kunst? Darum, dass Kunst erst durch den Betrachtenden entsteht? Oder verschwindet die Betrachterin, wird zum Schatten ihrer selbst? Zum Nachdenken regt auch die zweite Installation von Díaz, Al calor del pensamiento, an. Im unverputzten Keller der Galerie, in einem ebenfalls dunklen Raum, bietet eine Bank Rast, eine Leucht- und Heizröhre mit dem Schriftzug „Wir suchen das Unbedingte und finden immer nur Dinge“ erwärmt und erleuchtet den Raum und den Betrachter buchstäblich im Rhythmus des eigenen Atmens. 

Der viel gescholtene, extra für diese documenta aufgebaute temporäre Aue-Pavillon hat mir gut gefallen. Natürlich wirkt er provisorisch, wie ein gigantisches verdunkeltes Gewächshaus, aber er bietet viel Platz, Luft und Ruhe, um die ausgestellten Stücke zu betrachten. Hier ist eine der „löchrigen Badewannen“ des Brasilianers Ricardo Basbaum hinter Gittern fast nicht zu sehen. Would you like to participate in an artistic experiment? lautet der Titel der Arbeit. Diejenigen, die wollten, bekamen schon lange im Vorfeld der documenta eines der 20 bemalten Stahlobjekte mit einem Loch in der Mitte geschickt und konnten damit tun, was sie wollten. Sie mussten es nur dokumentieren. Auf der documenta werden nun die ersten Filme und Fotos gezeigt. Basbaum dreht die Beziehung zwischen Künstler und Publikum um: Er liefert nur die äußere Form, die eigentliche Sinngebung erfolgt durch die TeilnehmerInnen an dem Experiment.

Im Aue-Pavillon ist auch die zweite Videoinstallation von Dias & Riedweg maximale Gier zu sehen, einer der Zuschauermagneten des Aue-Pavillons. Dafür haben die beiden Künstler in Barcelona chaperos interviewt, männliche Sexarbeiter. In entspannter Atmosphäre, auf einem mit Spiegeln gesäumten Bett beantworten die Männer Fragen zu ihrer Sexualität und ökonomischen Abhängigkeiten. Dabei tragen sie Masken der beiden Künstler, d.h. des jeweils Interviewenden. Scheinbar gelassen, mit durch die Maske traurig wirkenden Augen, erzählen die Männer ihre Geschichte. Die Rolle der Zuschauer als Voyeur wird dadurch unterstrichen, dass die Zuschauer per Mausclick aussuchen, welcher von den nackten Männern aus dem Intro als nächstes interviewt werden soll. Die ruhigen Stimmen und die entspannte Atmosphäre täuschen, für das schnelle Geld zahlen die meisten einen hohen Preis.

Immer geht es neben den Installationen und Videos auch um Formen, ihre Weiterentwicklung, Wiederholung, Auflösung und Transzendenz. Die ruhige, in sich ruhende Escultura negra des Brasilianers Luis Sacilotto von 1959 ist dafür ein ebenso gutes Beispiel wie die vier Bilder des Argentiniers León Ferrari von 1980/81 aus der Serie Passarelas. Endlose Treppen, verschlungene Autobahnen, Wohnhäuser mit Pkws und in den Straßen stereotype Menschenfiguren – all das könnten auch schlicht Muster sein, Zeichnungen, die für Bewegung und Unendlichkeit stehen.

Dass die documenta teilweise zum Zirkus wird und auch die kuratorischen Ideen manchmal untergehen, liegt einfach an der Fülle von Bildern, Themen, KünstlerInnen, Ausstellungsräumen und Medien. Dennoch gibt es nicht nur Rosinen im Kuchen, der ganze Kuchen ist eine gelungene Mischung. Und die LateinamerikanerInnen tragen dazu viel gute Butter bei. 

*Wer mitgezählt hat: Es fehlen der Brasilianer Jáuregui mit seinen Favela-Wohnprojekten und die Foto- und Videoinstellation der in Paris lebenden Argentinierin Alejandra Riera.