Polizeigewalt gegen streikende LehrerInnen
Am 5. April starb in Neuquén in Patagonien der Lehrer Carlos Fuentealba, getroffen von einer Tränengasgranate der Polizei. Danach kam es in ganz Argentinien zu massenhaften Streiks und Demonstrationen und die fast in Vergessenheit geratene Parole „Que se vayan todos“ (Sie – die Politiker – sollen alle abhauen) war wieder auf den Straßen zu hören.
Mit dem Ende der Sommerferien in Argentinien begann Ende Februar eine Mobilisierung von LehrerInnen, die sich quer über das ganze Land erstreckte. Zu den heftigsten Konflikten kam es in den Provinzen Salta im Norden, sowie Neuquén und Santa Cruz im Süden (Patagonien). In Salta und Neuquén wurde der Unterricht gar nicht erst wieder aufgenommen, in Santa Cruz und Feuerland immer wieder durch Protesttage unterbrochen. Hauptforderung waren Lohnerhöhungen und die „Legalisierung“ der Löhne, denn nur ein geringer Anteil des effektiven Lohns zählt offiziell und damit für die Berechnung von Renten und Zulagen. Zum Beispiel Santa Cruz: Ein Lehrer verdient dort etwa 850 Pesos, aber der offizielle Basislohn beträgt nur 161 Pesos (39 Euro). Manche Beschäftigte des öffentlichen Dienstes werden in dieser Provinz, die Néstor Kirchner vor seinem Amtsantritt als Präsident Argentiniens zwölf Jahre lang regiert hat, offiziell sogar nur mit 49 Pesos entlohnt.
Die Proteste wurden auf lokaler und auf Provinzebene organisiert. Die Basisdemokratie, mit der in Argentinien seit Jahren erfolgreich experimentiert wird, kam auch hier wieder zum Tragen. In Santa Cruz fand die erste Versammlung der LehrerInnen im Februar mit 70 TeilnehmerInnen statt; ein paar Wochen später war diese Versammlung auf 700 Beteiligte angewachsen und es wurde eine Struktur von 80 Delegierten aus den Versammlungen der einzelnen Schulen gebildet. Von dieser organisierten Basis wurden die landesweite Lehrergewerkschaft CTERA und der Gewerkschaftsdachverband CTA schon vor dem Tod Fuentealbas aufgefordert, den Protest mit einem Generalstreik zu bündeln. Ohne Erfolg. Generalsekretär beider Verbände ist Hugo Yasky, dem große Nähe zur Regierung Kirchner nachgesagt wird. So wurde die Bürokratie erst nach der Eskalation aktiv.
Ende März ordnete Kirchner für Santa Cruz die Militarisierung der Schulen an. Eine solche Maßnahme hat es seit dem Ende der Diktatur 1983 nicht mehr gegeben. Polizei und Gendarmerie verhindern, dass LehrerInnen ihre Schulen betreten. Daraufhin verhinderten 300 LehrerInnen die geplante antiimperialistische Rede Kirchners zum 25. Jahrestag des Malwinen-Krieges. In Neuquén hatten die LehrerInnen für die Osterwoche Straßenblockaden geplant. Am 3. April umzingelten sie das Provinzparlament und sperrten die Politiker bis zum nächsten Morgen ein. Bei einer Blockade am 4. April schoss die Polizei mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen. Es gab mehr als zwanzig Verletzte. Ein Polizist schoss aus nächster Nähe auf ein Auto, in dem Carlos Fuentealba saß. Die Gasgranate durchschlug die Scheibe und traf ihn am Kopf. Während er noch mit dem Tod rang, wurden auch in Salta die protestierenden LehrerInnen mit Gummigeschossen angegriffen. Bei dieser Auseinandersetzung trat eine Polizeispezialeinheit auf, die erst vor kurzem wegen der sozialen Konflikte in der Provinz gebildet worden war.
Einen Tag später stirbt Carlos Fuentealba. Sein Tod löst einen landesweiten Protest aus. Für den 9. April rufen CTA und CTERA endlich zu einem 24-stündigen Generalstreik auf, der breit befolgt wird. Auch die peronisitsche CGT schließt sich mit einem Aufruf für zwei Stunden an, sodass es zum ersten Mal zu einem gemeinsamen Generalstreik der beiden Dachverbände kommt und der öffentliche Nahverkehr lahmgelegt ist. In den Provinzhauptstädten von Santa Cruz und Neuquén gehen 10 000 bzw. 30 000 Menschen auf die Straße (was jeweils etwa einem Zehntel der Bevölkerung entspricht). In Buenos Aires sind es 60 000; landesweit finden 300 Demonstrationen und zahlreiche Straßenblockaden statt. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober ist auf den Straßen wieder die Parole aus dem Aufstand von 2001 zu hören: Que se vayan todos – Sie sollen alle abhauen.
Als erster sollte Jorge Sobisch abhauen, der autoritäre Provinzfürst von Neuquén, der im Oktober ebenfalls für das Präsidentenamt kandidieren will. Die LehrerInnen von Neuquén hatten auf einer Versammlung beschlossen, weitere Verhandlungen von seinem Rücktritt abhängig zu machen. Aber ihre Gewerkschaft ATEN nimmt am 24. April die Verhandlungen wieder auf, nachdem Sobisch ein Dekret erlassen hat, Ersatzlehrer als Streikbrecher einzusetzen. Drei Tage später unterschreibt ATEN einen Abschluss. Den bekommt sie auf der Versammlung nur mit Mühe durch, aber der Streik in Neuquén ist damit zu Ende. In Santa Cruz gehen die Auseinandersetzungen beim Redaktionsschluss dieser ila (20. Mai) weiter. Die städtischen ArbeiterInnen haben sich den LehrerInnen angeschlossen. Nach einer zweitägigen Repression ist hier der Vizegouverneur Sancho am 9. Mai zurückgetreten, was 15 000 Menschen mit der größten Demonstration in der Geschichte der Provinz gefeiert haben.
Aus dem Lohnkampf der LehrerInnen ist in Argentinien kurzfristig wieder ein allgemeiner Kampf gegen die Regierenden geworden. Von deren amtlichen Erfolgsmeldungen zum Wirtschaftsaufschwung hat die Mehrheit der Menschen in Argentinien nichts. Streiks und Arbeitskonflikte haben seit 2004 enorm zugenommen und die Aufrüstung gegen die Bewegungen zeigt, dass die Regierung dem behaupteten Frieden selbst nicht traut.