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Zuflucht in Lateinamerika

Eine Ausstellung zur Emigration der deutschen Juden nach 1933
Klaus Jetz

Mehr als 280 000 Juden und Jüdinnen flohen zwischen 1933 und 1945 aus Deutschland. Sie fanden Aufnahme in nahezu 100 Staaten auf fünf Kontinenten. Bevor sie im Exil ankamen, hatten sie meist einen wahren Spießrutenlauf durch Ämter und Konsulate sowie eine regelrechte, manchmal Jahre dauernde Irrfahrt hinter sich gebracht. Waren es zunächst Nachbarländer wie die Tschechoslowakei oder Frankreich, die ihnen oftmals halbherzig Aufnahme gewährten, wurden Ende der 30er Jahre Übersee-Länder die wichtigsten Fluchtziele. Neben den USA, Palästina oder Schanghai rückten auch die lateinamerikanischen Staaten immer mehr in den Mittelpunkt. Schätzungen zufolge emigrierten 75 000 deutsche Juden und Jüdinnen nach Lateinamerika. Viele sahen in „Wartesälen“ wie Bolivien, Kuba oder der Dominikanischen Republik nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die USA. In Metropolen wie Rio de Janeiro, Buenos Aires oder Montevideo hingegen hatten die Flüchtlinge bessere Berufschancen, hier fassten viele Fuß, und es entwickelte sich ein deutsch-jüdisches Leben mit kulturellen und religiösen Institutionen. Dieser Einfluss ist zum Teil noch heute präsent.

Der jüdischen Emigration nach 1933 widmet das Jüdische Museum Berlin erstmals eine umfassende Ausstellung. Im Mittelpunkt stehen weniger die Biographien von Prominenten, auch wenn diese nicht völlig ausgeblendet werden, sondern die vielen unbekannten Vertriebenen. Den wichtigsten Zufluchtsorten sind einzelne Ausstellungsräume zugeordnet. Lateinamerika ist gleich mit mehreren Staaten (Argentinien, Brasilien, Bolivien, Dominikanische Republik) vertreten. Auch das Schicksal der 906 Passagiere des HAPAG Luxusliners St. Louis, der am 13. Mai 1939 den Hamburger Hafen Richtung Kuba verließ, wird noch einmal detailliert nachgezeichnet. (vgl. auch ila 251) Als die St. Louis Ende Mai Havanna erreicht, dürfen nur wenige Passagiere von Bord gehen. Der deutsche Geheimdienst hatte vor Ort ganze Arbeit geleistet: Das Schiff muss am 2. Juni den Hafen wieder verlassen, die Rechnung der Nazis scheint aufgegangen zu sein („wir lassen sie ziehen, aber niemand will sie haben“). Erst in Antwerpen können die Flüchtlinge von Bord, sie werden auf Belgien, Großbritannien, Niederlande und Frankreich aufgeteilt, doch nur 450 Passagiere der St. Louis überleben Krieg und Nationalsozialismus.

Argentinien war das wichtigste lateinamerikanische Zufluchtsland, etwa 30 000 deutschsprachige Juden und Jüdinnen fanden meist in Buenos Aires Aufnahme. Nach Brasilien kamen rund 16 000, nach Chile über 13 000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. Aufgrund der europäischen Prägung und des relativ hohen Lebensstandards waren die ABC- Staaten sowie Uruguay (7500 EmigrantInnen) begehrte Einwanderungsziele. Doch auch das bitterarme Bolivien gewährte mindestens 12 000 Juden und Jüdinnen aus Deutschland Zuflucht, von denen bis 1945 ein Drittel in größere südamerikanische Länder oder die USA abwanderte. So zeichnet die Ausstellung auch den Lebensweg von Werner Max Finkelstein nach, der 1941 mit 16 Jahren nach Bolivien kam, von wo er 1948 weiter nach Argentinien übersiedelte. Dort gründete er den Hot Club de Buenos Aires mit, einen der größten Jazzclubs in Südamerika. Max Schreier aus Wien hingegen gelangte 1938 nach La Paz, wo er bis zu seinem Tod 1997 blieb. Der Geophysiker Schreier machte Karriere im Andenstaat und wurde der „Vater der bolivianischen Astronomie“.

Mexiko spielte in der Emigration der deutschen Juden keine sehr große Rolle, obwohl das Land in den 30er Jahren viele politische Flüchtlinge aus Europa aufnahm. Doch gegenüber Juden und Jüdinnen, die aufgrund „rassischer“ Verfolgung Asyl suchten, zeigte sich die Republik weitaus weniger großherzig. Rund 1500 Juden und Jüdinnen fanden hier Zuflucht. Im Katalog zur Ausstellung heißt es dazu: „restriktiv gegenüber Juden, freizügig gegenüber politischen Flüchtlingen, Visumspflicht, bei Niederlassung Kapitalnachweis zwischen 50 000 und 100 000 Dollar erforderlich“. 

In die fünf mittelamerikanischen Staaten gelangten rund 1000 Juden und Jüdinnen aus Deutschland. Meist waren auch diese kleinen Republiken nur Durchgangsstation auf dem Weg in die USA. Die Einreisebestimmungen unterschieden sich erheblich: Während Guatemala, Nicaragua und Panama eine restriktive Einwanderungspolitik verfolgten und auf Vorzeigegeldern und Arbeitsverträgen bestanden, waren die Behörden in Costa Rica und Honduras weniger restriktiv. HandwerkerInnen oder SiedlerInnen erhielten eine Arbeitsmöglichkeit, auf Vorzeigegelder wurde verzichtet, und eine Einreise nach Honduras war offenbar ohne Visum möglich. Dennoch gelangten nur 100 Personen dorthin.

Eine Sonderrolle spielte die Dominikanische Republik. Diktator Trujillo ließ auf der Flüchtlingskonferenz von Evian 1938 verkünden, sein Land sei bereit, 50 000 bis 100 000 europäische Juden und Jüdinnen aufzunehmen. Bis Kriegsbeginn gelangten allerdings nur 500 Personen auf die Karibikinsel. Trujillo versprach sich durch die europäische Einwanderung Wirtschaftsimpulse, eine „rassische Aufhellung“ sowie eine Verbesserung seines ramponierten Images, hatte er doch im Jahr zuvor 17 000 HaitianerInnen im Grenzgebiet niedermetzeln lassen. Hans-Ulrich Dillmann, der für den Ausstellungskatalog den Bericht zum jüdischen Siedlungsprojekt Sosúa an der dominikanischen Nordküste lieferte, zeichnet nicht nur dessen Geschichte, den erfolgreichen Werdegang sowie die landwirtschaftlichen Probleme nach, mit denen sich Wiener Pianisten, Darmstädter Stoffhändler oder Berliner Wissenschaftler in der Hitze und Trockenheit des dominikanischen Nordens konfrontiert sahen. Viele hatten aber auch Erfolg, etwa in der Milchwirtschaft und Viehzucht, die Productos Sosúa wurden zu einem Markenzeichen des Landes. Artur Kirchheimer (vgl. Nachruf in der ila 279) war Modeeinkäufer bei Tietz in Hamburg gewesen, 1941 rettete er sich nach Sosúa, wo er Schweinezüchter wurde und viele Auszeichnungen erhielt. Ex-Präsident Balaguer witzelte mal, ihm habe von all den an Don Arturo überreichten Preise der Arm wehgetan.

Dillmanns Bericht besticht durch die Anekdoten und interessanten Lebenswege von noch heute in Sosúa lebenden hoch betagten deutschen Juden und Jüdinnen. Und auch die empfehlenswerte Ausstellung lebt von der Menge an biographischen Informationen sowie den 1500 zum Teil sehr persönlichen Exponaten vieler StifterInnen.

Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933, Jüdisches Museum Berlin, bis 9. April 2007, vom 17. Mai bis 7. Oktober 2007 im Haus der Geschichte in Bonn. Ausstellungskatalog: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 252 Seiten, 24,90 Euro