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Zementierung von Machtverhältnissen

Strukturelle Ursachen der Korruption in Brasilien

Korruption war ein zentrales Thema des Wahlkampfs in Brasilien. Dabei stand vor allem die Arbeiterpartei PT im Zentrum der Kritik der Medien und der rechten Partien. Nachdem bereits im vergangenen Jahr Präsidialminister José Dirceu, der Parteivorsitzende José Genoino und Finanzminister Antonio Palocci von ihren Ämtern zurücktreten mussten, entließ Lula am 20. September Wahlkampfmanager Ricardo Berzoni, den Nachfolger Genoinos als PT-Parteichef. Obwohl die Affäre eigentlich die PT und nicht unmittelbar die Regierung Lula betrifft, wurde das Bild verbreitet, die Mitte-Links-Regierung sei die korrupteste aller Zeiten. Bei der Diskussion wurde deutlich, dass es sich größtenteils um einen Versuch seitens konservativer Medien und oppositioneller Kräfte im Lande handelte, die Regierung Lula politisch zu schwächen.

Antônio Inácio Andrioli

Brasiliens bürgerlich-konservative Parteien galten seit jeher als korrupt. Das Neue ist, dass auch die PT, die bisher als frei von Korruption galt, ihre entsprechenden Skandale hat. Indem auch die größte Linkspartei in Korruption verwickelt wird, ist von einer „Demokratisierung“ der Korruption in Brasilien die Rede, d.h. jetzt seien „alle“ davon betroffen. Das erklärt die Freude korrupter Politiker mit der Situation, denn die PT profitierte sehr lange von ihrer Tugend, frei von Korruption regiert zu haben. Das führt uns zu folgenden Fragen: Warum sitzt die Korruption so tief in Brasilien? Welche Ursachen gibt es dafür? Wie kommt es dazu, dass auch die PT davon betroffen ist?

In Brasilien sind die meisten Korruptionsaffären erst durch private Konflikte öffentlich geworden. Deshalb ist es für das Land eine neue Situation, dass unter der Regierung Lula die Korruption zunächst als ein politisches Problem thematisiert wurde: Bestochene Politiker gingen als „Opfer“ an die Öffentlichkeit, um die PT anzugreifen und dadurch die Opposition zu stärken. Die Korruption wurde von korrupten brasilianischen Eliten als politisches Instrument im Wahlkampf genutzt. Ihre Strategie bestand darin, sie als Problem der brasilianischen Kultur auszugeben. Indem Korruption als selbstverständlich betrachtet wird (nach dem Motto „das hat es schon immer gegeben“, „alle sind korrupt“, „man muss damit leben wie mit den Jahreszeiten“) verschwinden die Chancen, sie effektiv zu bekämpfen. Aus dem Blickfeld gerät, dass sie von Menschen gemacht und von daher auch von Menschen gestaltbar und veränderbar ist. 

Bei der theoretischen Debatte um die Korruption in Brasilien sind mindestens zwei Tendenzen zu erkennen: Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Korruption in Brasilien als Erbe des iberischen Patrimonialismus zu bezeichnen ist. Andere weisen auf das Fehlen einer feudalen Geschichte im Lande hin, was den Vergleich mit dem orientalischen Patrimonialismus erlauben würde, in dem keine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen stattfindet. Meines Erachtens ist die Entwicklung Brasiliens jedoch durch Modernisierung und Erhaltung des Patrimonialismus zugleich geprägt, d.h., dass nach wie vor eine Abhängigkeitsstruktur im Land besteht. Deshalb wird von einer konservativen Modernisierung Brasiliens gesprochen, da es sich nicht um eine neue Ordnung handelt, sondern um Veränderungen, die letztendlich zur Konsolidierung einer ungerechten und ungleichen Gesellschaftsstruktur beitragen. Der ungleiche Zugang zu den Produktionsmitteln seit der Kolonialisierung des Landes stellt eigentlich die Basis für den brasilianischen Patrimonialismus dar, eine Korruption, die sich auch auf der politischen Ebene auswirkt und auch in anderen Ländern Lateinamerikas zu sehen ist. Es ist eine abhängige und ungleiche Entwicklung des Kapitalismus zu erkennen, indem ein Zugang zur Moderne erfolgte, ohne dass ein Bruch mit der patrimonialen Vergangenheit stattgefunden hat. 

Es gibt daher keinen konsolidierten Rechtsstaat in Brasilien, ganz zu schweigen von einem Sozialstaat. Der durch die ungleiche Entwicklung des Landes entstandene neopatrimoniale Staat dient in erster Linie den privaten Interessen von Großgrundbesitzern, Unternehmern und anderen Vertretern des Kapitals. Es handelt sich um einen autoritären und zentralisierten Staat und wir vertreten hier die These, dass es, je autoritärer und zentralisierter die Macht ist, umso wahrscheinlicher wird, dass Privates mit Öffentlichem (res publica) durcheinander gerät/verwechselt wird. Viele Verbrechen entstehen in Brasilien aus dem Staatsapparat selbst und sind mit ihm verwoben, so dass die Kriminalität stark von staatlichen Strukturen (insbesondere der Polizei und der Judikative) unterstützt wird. Politiker werden meistens als Vertreter mächtiger Interessen in der Gesellschaft gewählt, die auch deshalb kandidieren, weil sie von der staatlichen Struktur profitieren möchten. Selbst Verbrecher kandidieren, um als Politiker geschützt zu werden. Die so genannte bancada do crime (Fraktion des Verbrechens) macht nach Franciso Weffort bis zu etwa zehn Prozent im Parlament aus. 

Fehlende Transparenz, Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, geringe Teilnahme der Zivilgesellschaft und fehlende Bestrafung der Korruption sind die Folgen des politischen Systems in Brasilien und schließen wieder den Kreis, der korruptes Handeln erleichtert. Die zunehmende Professionalisierung der Politik kommt hinzu, denn diese führt dazu, dass Wahlkämpfe immer teurer und Politiker zunehmend abhängiger von Unternehmen werden, die bereit sind, „in deren Zukunft zu investieren“. Auch die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz durch und in Regierungen zu bekommen, ist in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht zu unterschätzen. Allein bei der Bundesregierung sind ca. 25 000 Menschen als Vertrauenspersonal angestellt, die je nach Wahlergebnis ausgewechselt werden können. 

Die unbegrenzte private Finanzierung des Wahlkampfs erhöht die Wahrscheinlichkeit zur Begünstigung von Unternehmen mit öffentlichen Geldern und die Tatsache, dass die meisten Parteien überhaupt kein Programm haben, macht sie zu politischen Instrumenten im Dienst von Unternehmen. Die Wahl der Person (nach persönlichen Kriterien und Einflüssen), die fehlende Parteizugehörigkeitspflicht von Kandidaten, der ständige Parteienwechsel und die Parteibündnisse bereits vor den Wahlen vermindern die Kontrolle der Gewählten und erhöhen die Tendenz, Stimmen als Ware zu betrachten. Es kommt noch hinzu, dass Bankgeheimnisse der Gewählten die Zirkulation von Schmiergeldern erleichtern. Konzessionen an Politiker, Medien zu besitzen, erhöhen das Potential zur Manipulation der Öffentlichkeit. Die politische Erfahrung Brasiliens deutet also klar darauf hin, dass die existierende repräsentative Demokratie weder repräsentativ noch demokratisch ist, denn es besteht keine Volkssouveränität, keine Verantwortung der Gewählten gegenüber den Wählern und keine Kontrolle der Gewählten, ein Kontext, in dem die Korruption sehr schwer zu bekämpfen ist. 

Auch wenn die Korruption in Brasilien vor allem im politischen System selbst verankert ist, kann auch eine Kontinuität zwischen dem alltäglichen Leben und der politischen Korruption gesehen werden. Und dies wird seitens konservativer Journalisten und Politiker als eine Art Naturgesetz dargestellt. Eines der wichtigen kulturellen Merkmale der brasilianischen Korruption ist der bereits erwähnte Patrimonialismus. Die patrimoniale Kultur betrachtet Staatsstrukturen wie private Bereiche, was eng mit der brasilianischen Entwicklung zusammenhängt, die durch Enteignung und Abhängigkeit gekennzeichnet ist. In der Kolonialzeit besaßen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung zwei Drittel des Reichtums des Landes. Damals gab es keine allgemeine Ethik, denn Ethik war auf die Familie begrenzt. Heutzutage besitzen die reichsten zehn Prozent noch immer 50 Prozent des Reichtums des Landes. Nach der Meinung der brasilianischen Eliten bedeuten Hunger, Konzentration des Reichtums, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, Privatisierung und nicht zuletzt Korruption jedoch seit Jahrhunderten keine Barriere. Es geht darum, „Veränderungen durchzuführen, damit alles gleich bleibt“.

Eng verstrickt mit der patrimonialen Sichtweise brasilianischer Eliten finden sich die Phänomene des so genannten Coronelismo und Clientelismo, die eigentlich die Grundlage des brasilianischen Populismus und Assistentialismus bilden. Beim Coronelismo geht es um die politische Macht der Grundbesitzer (der „Coronéis“), die durch die Abhängigkeitsstruktur des Landbesitzes über die Beschäftigten ausgeübt wird. Freundschaft und Verwandtschaft spielen dabei eine entscheidende Rolle sowie die Unterwerfung der Unterlegenen (Loyalität und Anerkennung), um patriarchalischen Schutz und Privilegien zu erreichen. Clientelismo ist die städtische Version des Coronelismo, da die meisten Grundbesitzer entweder Ärzte oder Anwälte waren und ihre Wähler als Kunden („clientes”) betrachteten. Auch Coronelismo und Clientelismo sind historisch mit der Entwicklung Brasiliens verbunden, da die Marktwirtschaft ursprünglich von Grundbesitzern eingeführt wurde. Dabei entstanden die so genannten Machtbereiche der Grundbesitzer („reinos“), wobei die Herrschaften stolz darauf waren, ihr „Volk“ öffentlich zeigen zu können, als Zeichen ihrer Macht. 

Trotz der „Modernisierung“ Brasiliens blieb das Gleichgewicht bei der Machtverteilung zwischen Industriellen und Großgrundbesitzern erhalten. Der Präsident Getúlio Vargas verstand es als charismatisch-populistischer Führer, mit diesem Kontext zurechtzukommen. Mit seiner Strategie, die Interessen des Volkes, der Großgrundbesitzer und Industriellen zu kombinieren, gelang es Vargas, 15 Jahre an der brasilianischen Regierung zu bleiben. Es handelte sich dabei insbesondere um die Manipulation der Arbeiterklasse, indem soziale Konzessionen zum Ende der Autonomie der sozialen Organisationen im Lande führten. Und das ist die Basis des brasilianischen Populismus und Assistentialismus, womit dem Volk Konzessionen gemacht werden, damit die Macht erhalten bleibt, nach dem Motto: „Auf die Ringe verzichten, um die Finger zu erhalten“.

Hinzu kommt die herrschende Sichtweise, dass bestimmte Verbrechen wie Schmuggel und Korruption vorwiegend nicht als Problem betrachtet werden, wenn das Ziel als gut und nachvollziehbar wahrgenommen wird. Korrupte werden tendenziell eher als schlau denn als Verbrecher betrachtet, was eng mit der Art und Weise zusammenhängt, wie Korruptionsskandale dargestellt werden. Dies wird mehrmals als Kultur des „jeitinho brasileiro“ (etwa die Geschicklichkeit der Brasilianer, immer einen Ausweg zu finden) bezeichnet. Nach Untersuchungen verurteilen Brasilianer jedoch mehrheitlich die Korruption: 83 Prozent sagen, dass sie ihre Stimme nicht verkaufen würden; zugleich geben jedoch 73 Prozent an, dass ihre Mitbürger es tun würden, ein klares Zeichen dafür, dass eine Wahrnehmung herrscht, dass die meisten Menschen im Lande korrupt sind.

Auch persönliche Rechtfertigungen haben eine besondere Bedeutung bei der Auseinandersetzung über Korruption. Die Referenz an Freundschaft wird als wichtiger betont als die politische Verantwortung der Politiker. Es geht um Reziprozität und das Verständnis, dass Menschen voneinander abhängig seien und deshalb besonderer Wert auf loyales Vertrauen gelegt werden soll. Vertrauen wird als Zement der persönlichen Beziehungen zusammen mit Solidarität und Hilfsbereitschaft gesehen, Werte, die oft für die Rechtfertigung korrupter Handlungen missbraucht wurden. Staatliche Institutionen werden dazu genutzt, persönlichen Schulden gerecht zu werden, wobei gute Beziehungen als Vermittlungsinstrument dargestellt werden, da sie mit Intimität, einem vertraulichen Umgang miteinander, einem leichteren Zugang zu Menschen verbunden sind. (Anmerkung der Red.: So charakterisierte der erste westdeutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer, ein Meister der Verknüpfung persönlicher wirtschaftlicher Interessen mit politischem Handeln, die spezielle rheinische Variante der Korruption, den so genanten Kölschen Klüngel, mit den Worten: „Mir kenne uns und mir helfe uns.“) Korruption sei so wie das Leben ein ständiger Austausch zwischen Menschen. Deshalb lohnen sich Investitionen in gute Beziehungen zu Politikern und Ämtern, was seinen politischen Preis hat: Wirtschaftliche Konzessionen werden gegen politische Konzessionen getauscht.

Die PT hat inzwischen einen hohen politischen Preis gezahlt. Es geht dabei in erster Linie um Macht und Regierungsfähigkeit. Anstatt Bündnisse einzugehen, um Sozialreformen durchzusetzen, ging die PT Bündnisse um Macht ein. Das Mittel wird zum Ziel und die Pragmatiker scheinen sich inzwischen durchgesetzt zu haben. Dies ist meiner Meinung nach jedoch kein Verrat, denn es ist nicht so, dass Lula oder die PT von der so genannten Macht des Staates verändert wurden, sondern eher umgekehrt: Um Macht zu erreichen, um regieren zu können, wird das Programm/Ziel aufgegeben. Diese Entwicklung wurde seit Anfang der 90er Jahre allmählich zur politischen Strategie der PT und fand ihren Höhepunkt nach dem Wahlerfolg 2002: Immer mehr wurden die Türen für Mitglieder geöffnet, die keinen Bezug zur Parteitradition hatten; Parlamentarier anderer Parteien wurden aufgenommen, die in der PT bessere Wahlchancen für sich sahen; es wurden Direktwahlen zum Vorstand durchgeführt, die die Bedeutung der parteiinternen Debatten herabsetzten; Investitionen in Marketing und Professionalisierung des Parteiapparats wurde massiv erhöht; und nicht zuletzt wurde die Intensität der politischen Bildung und der programmatischen Auseinandersetzung drastisch verringert. 

Da im Präsidialsystem ein Präsident mit einer Minderheitsregierung sich tendenziell gezwungen sieht, Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen, um regieren zu können, stellen die politischen Verhandlungen ein wichtiges Mittel für die Regierungsfähigkeit dar. Und indem die Mehrheit der Parteien im Lande bereits im Wahlkampf durch korrupte Handlungen ihre WählerInnen erreicht, um ihre Machtpositionen aufbauen zu können, ist es sehr wahrscheinlich, dass politische Verhandlungen zwischen den Parteien und Parlamentariern durch korrupte Handlungen begleitet werden. Dies kann jedoch keineswegs als Rechtfertigung für die PT dienen, denn in den meisten Situationen, in denen sie seinerzeit eher in Stadtparlamenten regierte, konnte sie nicht mit Mehrheiten rechnen. Die PT legte nicht nur deshalb einen besonderen Wert auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, um wichtige Veränderungen zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, weil sie meistens mit einer Minderheitsposition in Parlamenten konfrontiert war, sondern weil sie davon ausging, dass die Macht als Gegenhegemonie in der Gesellschaft zu erkämpfen ist, indem durch politische Partizipation und Selbstorganisation ein höheres politisches Bewusstsein der Bevölkerung erreicht werden kann. 

Dies ist die grundsätzliche Veränderung der PT unter der Regierung Lula, die nicht bereit ist, auf partizipative Demokratie (nach dem Vorbild des erfolgreichen Beteiligungshaushaltes) zu setzen, sondern versucht, sich der Logik der korrupten parlamentarischen Demokratie Brasiliens anzupassen und dahin tendiert, selbst zu degenerieren. Für Brasilien bedeutet dies einen großen Rückschlag in der Demokratisierung des Landes, denn die PT verkörperte bisher als einzige große Programmpartei die große Hoffnung auf Veränderungen, die demokratisch von unten durch wachsende Sozialmobilisierung gestaltet werden könnten. Die zunehmende Anpassung der PT an die historische autoritäre, populistische und lobbyistische Tradition der brasilianischen Politik ist besonders in dem Sinne zu bedauern, dass sie dadurch nicht nur ihre führende Rolle als Hoffnungsträgerin in Brasilien aufgibt, sondern entscheidend dazu beiträgt, dass Korruption noch stärker als natürlich begriffen wird und es stets schwieriger wird, effektive Alternativen dagegen zu setzen.

Der Brasilianer Antônio Inácio Andrioli ist Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.