ila

Marcos lesen – China verstehen

Interview mit der chinesischen Kulturwissenschaftlerin Lau Kin Chi

Lau Kin Chi war ein Glücksfall für uns Asien-Neulinge. Bei den Alternativveranstaltungen zur WTO-Ministerkonferenz in Hongkong gab uns die chinesische Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin bei ARENA (Asian Regional Exchange for New Alternatives), einer zu Asien und Fragen der Globalisierung arbeitenden NRO, eine Einführung in die chinesische Gegenwart, die für uns unmittelbar nachvollziehbar war. Kein Wunder: Lau Kin Chis Ansatz ist der Kulturvergleich aus einer Perspektive von unten, und sie liebt lateinamerikanische Literatur. Wie sie diese in ihrem Unterricht einsetzt und welche Erfahrungen sie in Chiapas gemacht hat, zeigen das folgende E-Mail-Interview mit Gaby Küppers sowie ein Auszug aus Lau Kin Chis Chiapas-Buch.

Gaby Küppers

Du benutzt als Kulturwissenschaftlerin an der Hongkonger Lingnan Universität für den Unterricht auch lateinamerikanische Literatur. Warum?

In meinen Seminaren befasse ich mich mit Themen wie „Zeitgenössische chinesische Literatur“, „Komparatistik“, „Globale Kultur und Bürgerrecht“, „Auseinandersetzung mit Gewalt“, „Lokale Regierungsfähigkeit“ und „Kritische Pädagogik“. Allein schon von den Titeln her kann man sehen, dass wir mit dem multidisziplinären Ansatz der Kulturstudien an ganz unterschiedliche Fächer herangehen und sie füreinander fruchtbar machen wollen.

Welche Art von lateinamerikanischer Literatur suchst du aus? Hast du eher das Ziel und den Eindruck, die Studierenden mit etwas Exotischem in den Bann zu ziehen, oder suchst du Szenarien aus, die ihnen bekannt vorkommen? Und in welcher Sprache lesen die Studierenden?

Ein Beispiel: Der Kurs „Auseinandersetzung mit Gewalt“ gehört in die Themenreihe „Literatur- und Medienstudien in Einzeldarstellungen“. In diesem Kurs beginne ich mit den „Offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano. Es ist den Studierenden freigestellt, ob sie bei der Lektüre auf die englische oder chinesische Ausgabe zurückgreifen. Das Buch ist ein guter Anfang, denn die Studierenden zeigen sich oft überrascht über die literarische Darstellung von solchen „Tatsachen“ wie die Barbareien der Kolonisatoren. Der Text konfrontiert sie unmittelbar mit der Frage: Ist Asien im Vergleich zu Lateinamerika ausgeblutet?

 Unter welcher Perspektive könnten wir die koloniale Vergangenheit Asiens betrachten? Diese Frage ist provokativ, denn im Hongkonger oder chinesischen Kontext scheint, obwohl China immer den Anspruch darauf erhebt, eine uralte Zivilisation von über 5000 Jahren zu sein, die Unterlegenheit des Landes gegenüber einem Westen, der mit seiner Militärmacht prahlt, offensichtlich. Der Mainstreamdiskurs unterwirft sich unhinterfragt der Überlegenheit der Kolonisatoren. Macht ist Macht; wer spricht, hat Recht. Nur wenige melden beispielsweise Zweifel an der Behauptung an: „Christoph Kolumbus hat den neuen Kontinent entdeckt“. Einerseits ist ein dringendes Bedürfnis festzustellen, mit dem Westen zu wetteifern und den Rückstand aufzuholen. Andererseits bleibt die untergründige Perspektive stets eher die des Siegers, des Kolonisatoren, als die der Kolonisierten, der Verlierer. 

Was kommt nach Eduardo Galeano? In welche Richtung vertiefst du deinen Ansatz?

Mein Interesse an lateinamerikanischer Geschichte und Literatur ist „die andere Seite“. Ich wähle insofern einen alternativen Ansatz, den Blick auf die Besiegten und die Verlierer, die der Heuchelei der Kolonisatoren trotzen, sich ihr widersetzen und sich dazu einer anderen Logik bedienen und erwähne dabei insbesondere die Kosmologie und die Lebenswelt der Indígenas. Daher benutze ich literarische Texte wie Juan Rulfos „Pedro Páramo“ und den „Kuss der Spinnenfrau“ von Manuel Puig wie auch Schriften von Che Guevara oder dem Sub Marcos und schließlich auch Texte von Indigenen aus den Anden.

Was kann denn ein Text aus dem ländlichen Chiapas oder sonstwo aus Mexiko einem/r modernen chinesischen Leser/in des 21. Jahrhunderts vermitteln?

Die Schriften von Marcos sind da beispielsweise äußerst interessant. Er ist literarisch bewandert, kennt sogar Shakespeare und seinesgleichen. Mit seiner Selbstironisierung mittels der Figur des Durito macht Marcos sich nicht nur über sich als Person lustig, sondern auch über das, was ihn als Person konstituiert, also die gesamte Tradition der westlichen Aufklärung. Die Geschichten von Durito und dem alten Antonio und die Stellungnahmen und politischen Essays aus dem Lakandonischen Urwald müssen zusammen gelesen werden, man darf sie nicht trennen in Fiktion und Sachbuch. Das schwierige Ringen mit den heutigen Widersprüchen und Dilemmata, ohne ein einfaches Ja oder Nein in Bezug auf die Vergangenheit, ist genau das, womit wir uns heute in China auseinandersetzen müssen. Ich habe den Eindruck, dass es da noch eine ganze Menge zu lernen gibt von den fragmentierten, aber immer noch existierenden Weisheiten und Traditionen der indigenen Gemeinschaften, als eine Art, sich unserem gegenwärtigen Status von „Modernisierten“ zu stellen.

Ich bin übrigens zusammen mit Dai Jinhua, Professorin für Komparatistik an der Universität Peking, Herausgeberin und Übersetzerin von zwei Bänden zapatistischer Schriften. Der erste Band ist bereits in China erschienen und ist ziemlich gut aufgenommen worden. Dessen klare und laute Botschaft ist: Wir leisten weiterhin Widerstand, trotz Genozid, trotz Belagerung, trotz Kooptation und Verrat. Dieses Buch wird bestimmt für eine ganze Weile Basislektüre in meinem Literatur- und Geschichtsunterricht sein.

Seit den 80er Jahren gibt es in China eine Welle von AutorInnen, die das Phantastische benutzen, um den Kampf Chinas zwischen Tradition und Moderne literarisch zu fassen. Das Phantastische oder Übernatürliche ist eine Metapher, um dem Unbegreiflichen einen Namen zu geben in einem Land, wo manches einem rasenden Fortschritt unterliegt, während andere Bereiche unberührt oder unberührbar bleiben. Manche Stimmen sagen, die moderne phantastische Literatur Chinas sei nichts als eine Imitation des lateinamerikanischen Magischen Realismus, andere verteidigen die Originalität dieser Strömung. Sie halten sie für typisch chinesisch und verweisen auf ähnliche sozio-politische Verhältnisse, die in China und Lateinamerika vergleichbare literarische Mittel und Formen hervorgebracht hätten. Was denkst du persönlich? Worin besteht deiner Meinung nach die „Brücke“ zwischen beiden Literaturen, sofern man überhaupt verallgemeinern kann?

Bei der so genannten „modernen chinesischen phantastischen Literatur“ kommt es meines Erachtens nicht so sehr auf die Techniken oder den Stil an, sondern auf die darin ausgedrückten Gefühle von Verzweiflung, die begleitet sind von einer Ablehnung eben dieser Verzweiflung, einem Widerwillen, den Absurditäten und Grausamkeiten der modernen Welt nachzugeben, und umgekehrt ein Bestreben und eine Hoffnung auf ein nahes Wunder, weil die einfachen Leute schlicht nicht aufgeben, sondern sich anstrengen und weiterkämpfen. Diese vorgefundene Wirklichkeit fordert ernsthafte und bekannte Autoren wie Mo Yan, Yu Hua oder Han Shaogang zur Suche nach neuen Arten des Ausdrucks und der Darstellung heraus. Es ist vielleicht riskant zu verallgemeinern, aber ich habe den Eindruck, dass die Brücke zwischen SchriftstellerInnen in China und in Lateinamerika in dieser gemeinsamen Haltung besteht, sich den Desastern, die die Menschheit auf ihrem Modernisierungsweg über sich selbst und die Erde gebracht hat, entgegenzustellen. Es ist wichtig, weiterhin festzuhalten an der Hoffnung.

Lau Kin Chi hat die Fragen von Gaby Küppers per E-Mail beantwortet.