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Das Lohnniveau ist in Asien erheblich niedriger

Interview mit dem mexikanischen Wirtschaftswissenschaftler Enrique Dussel Peters über Chinas Wirtschaftsbeziehungen zu seinem Heimatland

In den Ländern Lateinamerikas, deren Ökonomien auf dem Export von Rohstoffen und Agrargütern basieren, wird Chinas neue Rolle auf dem Weltmarkt überwiegend positiv betrachtet. Die große Nachfrage Chinas nach Primärgütern sorgt für höhere Rohstoffpreise, die im Zuge der Schuldenkrise in den achtziger und neunziger Jahren teilweise in den Keller gerutscht waren. Wie sieht es aber für die Länder aus, deren Wirtschaftsmodell vor allem auf dem Export von Industriegütern, wie Textilien, Bekleidung, Elektronik basiert, die in Maquilas hergestellt werden? Sind diese hochmobilen Industrien der chinesischen Konkurrenz gewachsen, oder wird es früher oder später in Mexiko und Mittelamerika keine Maquilaindustrie mehr geben? Darüber sprach Gert Eisenbürger mit Enrique Dussel Peters vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM).

Gert Eisenbürger

Welche Rolle spielt China heute für Mexiko?

Eine sehr wesentliche, aber erst seit einem sehr kurzen Zeitraum. Bis vor fünf Jahren hat China für Mexiko, was z.B. den Außenhandel angeht, überhaupt keine Rolle gespielt. Seit 2003 ist China der zweitwichtigste Handelspartner nach den USA. Dabei hat sich eine interessante neue Handelsstruktur ergeben. Etwa um das Jahr 2000 hat NAFTA (nordamerikanisches Freihandelsabkommen – G.E.) strukturell das höchste Gewicht in Mexiko erreicht, die Importe aus den USA machten Ende der neunziger Jahre mehr als 80 Prozent aus. Seitdem sind sie ständig gefallen, heutzutage liegen sie unter 55 Prozent. 

Wer sind die neuen Handelspartner? Die Länder Asiens. Wichtigster Handelspartner nach den USA ist China, danach kommen andere Länder wie Japan, Korea, Taiwan usw. Das heißt, China spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Dabei ist China das Land, mit dem Mexiko das höchste Handelsbilanzdefizit hat. Die Handelsbeziehungen sind sehr einseitig: Mexiko exportiert Waren für rund 470 Mio. US-Dollar nach China und importiert von dort Waren im Wert von fast 15 Milliarden US-Dollar. Das Verhältnis ist 31 : 1.

Was exportiert Mexiko nach China und was importiert es aus China?

Das wichtigste Exportprodukt Mexikos nach China sind Autoteile, hauptsächlich im Intra-Unternehmenshandel. Einige Unternehmen wie Volkswagen, aber auch einige US-amerikanische Unternehmen exportieren Autoteile von Mexiko nach China, das macht dreißig Prozent der mexikanischen Exporte aus. Der Rest sind Rohmaterialien, Plastik und einige Erdölderivate. Bei den mexikanischen Importen aus China machen elektronische Produkte und Autoteile mehr als zwei Drittel aus, ausschließlich verarbeitete Produkte, konzentriert auf diese zwei wichtigen Branchen.

China hat einen enormen Energiebedarf. Der Ölexport Mexikos nach China ist aber wohl nicht besonders relevant?

Er ist nicht besonders relevant, weil der größte Teil des mexikanischen Öls – auch aus Kostengründen – in die USA verkauft wird. Es gibt für China näher gelegene Erdölquellen als Mexiko.

Textilien spielen im chinesisch-mexikanischen Handel keine große Rolle?

Nein. Ich spreche jetzt nur über den formalen und legalen Außenhandel. Wie gesagt, Mexiko importiert aus China Waren im Wert von ungefähr 15 Milliarden US-Dollar. Nach einigen Schätzungen liegen die gesamten Importe aus China aber doppelt so hoch, denn es gibt erhebliche illegale Importe. Es gibt eine ganze Gruppe von Waren, darunter Textilien, bei denen China beim Export nach Mexiko Zölle von über 1000 Prozent zahlen muss. Das wurde bilateral zwischen Mexiko und China beim Eintritt Chinas in die WTO ausgehandelt. Diese sehr hohen Zölle gehen bis zum 1. Januar 2008. Danach kann China diese Zölle im Rahmen der WTO anfechten oder neu verhandeln. Die mexikanischen Importzölle, die eigentlich die Importe aus China begrenzen sollten, sind zu einem Anreiz zur Illegalität geworden. Anstatt Zölle in zehnfacher Höhe der eingeführten Waren zu zahlen, zahlt man in den Zollämtern eine Summe, die ungefähr dem Warenwert entspricht, schwarz an die Beamten und die Waren können passieren. Wegen der niedrigen Ausgangspreise sind sie trotzdem nach dem mexikanischen Preisniveau immer noch sehr günstig.

Bei illegalen Exporten denke ich an Schmuggel mit kleinen Booten. Bei einem Volumen von 15 Milliarden Dollar wird es so nicht laufen. Du nanntest gerade das Beispiel der Korruption bei den Zollbehörden, gibt es auch Importe über Drittländer?

Das auch. Es gibt so einen Dreieckshandel. Chinesische Waren gehen temporär nach Long Beach. Dort kommt dann irgendwie – wie das genau läuft, ist mir noch nicht klar – ein Siegel „Made in USA“ drauf, und wegen NAFTA können diese Waren dann zollfrei in Mexiko eingeführt werden. Der andere Weg ist einfach knallharte Bestechung. Jeden Monat kommen Tausende von Lastwagen illegal nach Mexiko, die Gewinnmarge ist halt extrem hoch.

Es gibt heute eine heftige Konkurrenz zwischen chinesischen und mexikanischen Produkten auf dem US-Markt. In welchen Bereichen verdrängen chinesische die bisherigen mexikanischen Produkte?

Die Analysen und Recherchen, die wir bisher gemacht haben, zeigen, dass mexikanische Produkte hauptsächlich in der Wertschöpfungskette Garn, Textilien und Bekleidung sehr stark verdrängt worden sind, aber auch bei elektronischen Geräten. Die Elektronikindustrie hat sich seit Mitte der neunziger Jahre zum wichtigsten Exporteur Mexikos entwickelt. Der Sektor, der bisher von chinesischer Seite noch nicht angegriffen wurde, ist die Automobilindustrie. Aber auch hier wird sich demnächst ein sehr starker Wettbewerb mit China entwickeln. Das wird natürlich nicht nur Mexiko, sondern viele Länder betreffen, das wird sich auch in Deutschland bemerkbar machen.

Die mexikanische Ökonomie basiert sehr stark auf den Exporten in die USA. Ist es teilweise gelungen, die Verluste, die durch die chinesische Konkurrenz entstanden sind, zu kompensieren, etwa durch eine Veränderung der Produktpalette, mit der man auf den US-Markt geht, oder ist da noch relativ wenig passiert?

Im Großen und Ganzen nein. Bisher hat Mexiko wenig Kapazität gezeigt, sich in diesem Wettbewerb irgendwie zu behaupten. Man muss sich vorstellen, die verarbeitende Industrie in Mexiko, also der Sektor, der der große Nutznießer von NAFTA und der Weltmarktintegration sein sollte, hat in den letzten vier Jahren mehr als 15 Prozent der Beschäftigten verloren. Das ist eine sehr tiefgreifende, aber auch schnelle Krise des Sektors.

Betreffen diese Verluste an Marktanteilen nur den US-Markt oder auch andere Märkte wie etwa die in Zentralamerika?

Weniger, ganz einfach deshalb, weil 90 Prozent der mexikanischen Exporte in die USA gehen. Etwa 20 bis 25 Prozent der chinesischen Exporte gehen heute in die USA. Hier entsteht ein sehr starker Wettbewerb.

Wir sprechen jetzt dauernd von China und Mexiko, von chinesischen und mexikanischen Produkten. Kann man das überhaupt so sagen oder sind es nicht zum Teil dieselben Unternehmen, die früher in Mexiko produziert haben und die nun in China produzieren?

Das hängt vom jeweiligen Wirtschaftssektor ab. In einigen Sektoren sind es wirklich intra-unternehmerische Strategien, es handelt sich um multinationale Unternehmen, wo einfach entschieden wird, dass das neueste PC-Modell nicht mehr in Mexiko, sondern in Shenzhen (chinesische Industriemetropole an der Grenze zu Hongkong – G.E.) gefertigt wird. In anderen Sektoren geht es um Firmen, die in Mexiko schließen und ihre Produkte dann in China anfertigen. Oder um mexikanische Unternehmen, die ihre Produktion in Mexiko zurückfahren müssen, weil sie wegen der chinesischen Konkurrenz in den USA weniger absetzen können. Das heißt, es gibt ganz unterschiedliche Fälle.

Bei den mexikanischen Exporten in die USA ist die Maquilaindustrie, die Teilfertigungsindustrie, ganz wesentlich. In diesem Wirtschaftssektor spielt ausländisches, etwa taiwanesisches Kapital eine große Rolle. Gibt es die Tendenz, dass die ausländischen Investitionen im mexikanischen Maquilabereich rückläufig sind?

Jein. Zwischen 2000 und 2004 verlor die Maquilaindustrie in Mexiko 20 Prozent der Beschäftigten. Seit 2004 ist die Beschäftigung in diesem Sektor wieder etwas angestiegen – vor allem wegen der Erholung der US-Wirtschaft. Aber es gibt trotzdem ein strukturelles Problem. Mexiko ist unter den heutigen Bedingungen und insbesondere dann, wenn es sich auf Produkte mit billiger Arbeitskraft spezialisiert, auf keinen Fall wettbewerbsfähig. Das Lohnniveau ist in Asien, sei es Indonesien, sei es Indien, sei es China, erheblich niedriger.

In der kritischen Entwicklungstheorie wurde immer der Ausbau der Süd-Süd-Kooperation gefordert. In welchen Bereichen könnten China und Mexiko zum gegenseitigen Vorteil kooperieren?

Erstmal braucht man einfach ein Bewusstsein des Problems. Man braucht viel mehr Analyse, bilaterale Analyse. Heutzutage gibt es eine dramatische Ignoranz im Süd-Süd-Verhältnis, sowohl seitens chinesischer KollegInnen und chinesischer Offizieller, als auch in Lateinamerika. Man kennt sehr wenig. In Mexiko war das Chinesische immer das, was am weitesten entfernt ist. Die Basis einer Kooperation zwischen Mexiko und China muss eine globale Kooperation sein, d. h. Süd-Süd-Kooperation in einem globalen Verhältnis. Ein nur bilaterales Verhältnis Mexiko-China könnte zwar zu einer interessanten technischen Zusammenarbeit in einigen Bereichen führen, wird aber keineswegs genügend sein. 

Worum geht es konkret? Es geht darum, dass ein Land wie China mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von – nach unterschiedlichen Berechnungen – ungefähr 1000, 1500 US-Dollar, wachsen will. Es ist ein Land mit vielen Entwicklungshemmnissen, mit einem bislang sehr niedrigen Konsum pro EinwohnerIn, mit sehr großen regionalen Unterschieden und und und. Die Bevölkerung hat eine riesige Konsumnachfrage. Wer will den Chinesen sagen, nein, du darfst nicht wachsen? Das Problem ist aber, dass die Größe dieses Landes dramatische Entwicklungen im Rest des Globus mit sich bringt. Von daher sind bilaterale Verhandlungen zwischen Mexiko und China nicht ausreichend.

China war lange Zeit ein Sprecher der Dritten Welt. Kann man China, trotz des niedrigen Pro-Kopf-Einkommens, überhaupt noch als Entwicklungsland bezeichnen, oder ist es längst ein viertes imperialistisches Zentrum neben Europa, den USA und Japan?

China ist – wie etwa Mexiko oder Brasilien auch – ein unheimlich polarisiertes Land. Man hat in den Wachstumszentren an der Küste und im Süden etwa 80 Millionen EinwohnerInnen, die vielleicht das Pro-Kopf-Einkommen mancher südeuropäischen Stadt haben. Das Land hat aber 700, 800 Millionen Einwohner, die ein sehr viel geringeres Einkommen pro Kopf haben. Von daher hat China beides. Von den Daten her ist es ein Entwicklungsland, aber mit einer unheimlichen Dynamik, die mit keinem Land in den letzten Jahrzehnten vergleichbar ist. Damit verdrängt es andere Länder in Afrika und Lateinamerika, aber auch zunehmend in Europa und Asien.

Eine Gemeinsamkeit, die China und Mexiko in den letzten Jahren hatten, ist, dass es eine massive Freisetzung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft gab. In Mexiko hat das zu erheblichen sozialen Konflikten geführt, in Chiapas, aber auch in Oaxaca, Guerrero und vielen anderen Regionen. Siehst du ein solches Konfliktpotential auch in China?

Klar, es besteht eine große Unsicherheit, ob Chinas Industrie wirklich in der Lage ist, soviel an Beschäftigung zu schaffen, wie nötig wäre, um die freigesetzten Arbeitskräfte vom Land aufzunehmen. Dabei geht es konkret um zehn bis dreizehn Millionen Arbeitsplätze jährlich. Ob das möglich ist, ist eine große Frage. Obwohl die Produktion in der Industrie unheimlich angewachsen ist, sind dort vergleichsweise wenige neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Das heißt, die Strategie der chinesischen Regierung, sich in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor zu öffnen, um sich in der Industrie zu spezialisieren, ist sehr gewagt. Ich sehe relativ kurzfristig dramatische Konflikte.

Vielleicht noch ein letztes sehr interessantes Thema. China wird auch die entwicklungstheoretische Diskussion verändern. Schaut man sich die Vorgaben der dogmatischen Verfechter von Modellen einer exportorientierten Industrialisierung an, ist China ein schlechter Schüler, der alles falsch gemacht hat. Aber diesem schlechten Schüler geht es so gut wie niemandem. Dagegen geht es den Musterschülern des Neoliberalismus allenthalben schlecht. Das muss kurz- und mittelfristig Effekte haben, was Entwicklungstheorie, aber auch was Entwicklungspolitik angeht. Man kann nicht mehr einfach die Augen schließen und so tun, als gäbe es China nicht. Gerade so ein guter Schüler wie Mexiko, der nach den Vorgaben der Entwicklungspolitik und der internationalen Finanzinstitutionen alles richtig gemacht hat, dessen Ökonomie es aber soviel schlechter als der chinesischen geht, muss davon etwas lernen. Das gilt im Übrigen auch für die Wirtschaftseliten in vielen Ländern der Peripherie.

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger im Dezember 2005 in Hongkong.

Auf der Website von Enrique Dussel Peters sind unter http://dusselpeters.com/dussel-tema-china.htmlzahlreiche Artikel, Studien und Texte zu China und den chinesisch-mexikanischen Beziehungen in Spanisch bzw. Englisch zu finden. Enrique Dussels Studie “The implications of China's entry into the WTO for Mexico” kann von der Website http://boell-latinoamerica.org/ als pdf-Datei heruntergeladen werden.