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„Das kolonisierte Ding wird Mensch“

Interview mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Simón Ramírez Voltaire zur Situation in Bolivien

Der Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien machte aus einer multipolaren Demokratiebewegung ein Regierungsprojekt – mit der Chance für eine Umgestaltung der bolivianischen Gesellschaft. Gleichzeitig bedeutet die Regierung der Partei “Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) aber auch die Kanalisierung der sozialen Bewegungen und die Eindämmung ihrer Suchbewegung. Die Politik der aktuellen Regierung war Thema eines Gespräches unseres Mitarbeiters Andreas Hetzer mit Simón Ramírez Voltaire. Er ist Politikwissenschaftler und Journalist. Seit dem Erstarken der sozialen Bewegungen in Bolivien im Jahr 2000 veröffentlichte er zahlreiche Berichte, Analysen und Interviews.

Andreas Hetzer

Evo Morales wird gern als indianischer Populist dargestellt. Welche Art Politiker ist er?

Evo Morales wird meiner Meinung nach fälschlicherweise in eine populistische Ecke gestellt. Er hat sich in der Region Chapare als lokaler Gewerkschaftsführer der Kokabauern etabliert und über Jahre eine politische Organisation aufgebaut. Diese gewann immer mehr an Bedeutung und stand spätestens ab dem Jahr 2000 im Zentrum der Konflikte. Morales arbeitete sich als politischer Repräsentant immer weiter nach oben, kam ins Parlament und wurde landesweit zu einem wichtigen Politiker, bevor er Ende 2005 mit 54 Prozent die Wahlen gewann und 2006 Präsident wurde. Das ist ein völlig legitimer, für Bolivien sehr außergewöhnlicher demokratischer Prozess. 

Im Übrigen gibt es eine derartige Basisverankerung von Politikern in Bolivien eher selten. Die traditionellen bürgerlichen Parteien – die sich als Hüter der Demokratie sehen – können sich nach einer Parteistruktur wie die der Bewegung zum Sozialismus (MAS) nur sehnen. Die traditionellen Parteien sind eher klientelistische Netzwerke als Instanzen des demokratischen Prozesses. Das unterscheidet Morales deutlich von dem, was die Forschung unter einem Populisten versteht. Morales ist keiner, der die vermittelnden Instanzen umgeht, sondern einer, der solche Instanzen politischer Öffentlichkeit und Repräsentation auf breiter Ebene, also vor allem auf dem Land und in der indigenen Bevölkerung, mit erkämpft hat. 

Welche Rolle spielt Vizepräsident Alvaro García Linera?

Alvaro García Linera ist Sozialwissenschaftler mit linker Vergangenheit. Mit seinen bourdieu-marxistischen Analysen hat er einen zentralen Erklärungsansatz der bolivianischen Realität geliefert, die zutiefst in arm und reich, weiß und indigen gespalten ist. Er ist ein Intellektueller, der die gesellschaftliche Situation in Bolivien klar vor Augen hat und die Polarisierung zwischen indigener und weißer Bevölkerung zum Ausgangpunkt seiner Analysen und politischen Vorschläge macht. Er hat deutlich hervorgehoben, dass die Artikulation indigener Elemente für einen gesellschaftlichen Konsens unumgänglich ist. Das passt sehr gut zum Programm und der Verfasstheit der MAS. Als weißer Intellektueller spricht García allerdings auch eine andere Schicht an als Morales. Er fungiert als Übersetzer und Vermittler zwischen den verschiedenen Welten in Bolivien. Auf diese Weise verkörpern Morales und García auch symbolisch die angestrebte Integration der bolivianischen Gesellschaft.

In einem Text nimmst du Bezug auf Thesen von Frantz Fanon. Welche Parallelen gibt es zwischen Bolivien und dem antikolonialen Kampf in Algerien?

Die Zweiteilung in die Welt der weißen Herrscher und die der „Eingeborenen“. Bolivien ist natürlich nicht direkt vergleichbar mit Algerien. Einige Aspekte von Fanons psychoanalytisch inspirierter Theorie sind dennoch auch für Bolivien interessant. Zunächst: Bolivien ist eine Republik, in der die Bürger als Freie und Gleiche gelten sollen. So steht es auf dem Papier. Dieses abstrakt konstruierte Kollektiv der Bolivianer deckt sich nicht mit der realen Bevölkerung, die gespalten ist in rassistisch definierte Gruppen. In Bolivien gibt es eine Kontinuität seit der Kolonialzeit, in der sich die Spaltung der Gesellschaft verfestigt hat. Das führte dazu, dass eine weiße Minderheit das Land dominierte, sich im politischen Apparat festsetzte und einen sehr rassistischen Diskurs pflegte

Die Ausgrenzung und fehlende Teilhabe breiter Schichten am politischen Prozess beschäftigte bereits die Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada zwischen 1993 und 1997. Mit seinem „Gesetz zur Volksbeteiligung“ versuchte „Goni“ den Staat zu dezentralisieren und auf lokaler Ebene mehr Kontroll- und Entscheidungsinstanzen einzuführen. „Gonis“ Projekt war ein technokratischer Demokratisierungsversuch „von oben“. Die jetzige Entwicklung zeigt, dass auch Prozesse einer Demokratisierung „von unten“ nötig sind. An dieser Stelle kann man in Anlehnung an Fanon sagen, dass Emanzipation von unten kommen und sich der Unterdrückte selbst befreien muss.

 In Bolivien fand eine Selbst-Politisierung der Basis entlang der konkreten täglichen Konflikte statt, was zur Konstituierung neuer politischer Subjekte führte. Eine Art Leitfunktion bekam dabei die Bezeichnung Indígena, die in erster Linie politisch und nicht ethnisch zu verstehen ist. Sie ermöglichte den diversen Akteuren – neben ihren spezifischen Forderungen – die politische Artikulation. Die rassistische und postkoloniale Situation verdichtete sich in einem Indígena-Diskurs, der jetzt zu einer „Neugründung der Republik“ führt. Insofern ist es eine Ironie der Geschichte, dass „Goni“ mit seinem Gesetz die Kräfte gestärkt hatte, die ihn 2003 vom Thron stießen. Aus den Objekten der rassistischen postkolonialen Herrschaft, den „Indios“, wurden eigenständig handelnde Subjekte, die sich Indígenas nennen. In den Worten Fanons: „Das kolonisierte Ding wird Mensch.“ 

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der postkolonialen Emanzipation und den politischen Reformen der jetzigen Regierung, zum Beispiel der Verstaatlichung des Erdgases und der Bodenreform?

Die Verstaatlichung hat neben der wirtschaftspolitischen Bedeutung eine symbolische Dimension. Das Erdgas wurde zum Kristallisationspunkt einer Protestbewegung, in der die Indígenas zum zentralen politischen Subjekt wurden. Indígenas und Verarmte etablierten sich als legitime Akteure mit politischen und sozialen Rechten. Sie forderten, was ihnen in der Logik der Kritik an der kolonialen und postkolonialen Vorherrschaft zustand: die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen. Die Forderung nach Verstaatlichung wurde so auch zum Synonym für eine umfassende Forderung nach politischen und sozialen Rechten der Indígenas. In der Forderung nach der Wiederaneignung verdichtet sich das Narrativ der fünfhundertjährigen Unterdrückung, die als Enteignung gesehen wird.

Ähnlich ist es mit der Bodenreform. Im ersten Schritt wurde damit begonnen, staatliches Land zu verteilen. Für den zweiten Schritt hat Morales angekündigt, ungenutztes Land von Großgrundbesitzern ebenso zugänglich und nutzbar zu machen. Es ist klar, dass der besonders im Tiefland ansässige Großgrundbesitz als traditionelles Zentrum der oligarchischen Macht Widerstand gegen diese Reformen leisten wird. Einige haben bereits damit gedroht, sich gegen Landbesetzungen (para-)militärisch zur Wehr zu setzen. Die Landreform tangiert nicht nur das Eigentum der Oligarchie, sondern den Kern ihres Selbstverständnisses. Landbesitz war schon immer das Medium der Überlieferung von Macht, Status und gesellschaftlichem Einfluss.

Stärken die Reformen die Kleinbauern?

An diesem Punkt setzt bereits Kritik an der Regierung Morales an. Der Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph Stiglitz hat bei seinem Besuch in Bolivien die Landreform begrüßt, aber auch auf die Notwendigkeit der Förderung kleinbäuerlicher Strukturen aufmerksam gemacht. Es müssen organisatorische, materielle und auch marktregulatorische Fördermechanismen geschaffen werden, um die Kleinbauern vor der international operierenden Agroindustrie zu schützen. Dazu könnten der Zugang zu Saatgut oder die Mechanisierung der Landwirtschaft gehören, aber auch Eingriffe in Markt und Preise.

Auch die Subvention lokaler Märkte wäre denkbar. Morales' „Nationaler Entwicklungsplan“ geht in diese Richtung: Stärkung von Kleinbauern, Kunsthandwerkern, Kleinhändlern und Mini-Unternehmern der informellen Wirtschaft. Die Regierung hat damit begonnen, Traktoren an Kleinbauern und Gemeinden zu verteilen und will bis zu 800 Traktoren günstig und zu fairen Krediten abgeben. Ob dadurch allein deren Einkommen tatsächlich verbessert wird, ist allerdings fraglich. Denn damit können sie zwar besser und produktiver arbeiten, ob sie ihre Produkte auch verkaufen können, hängt aber immer noch von der Nachfrage ab.

Wie steht die MAS zu den sozialen Bewegungen?

Die MAS ruhte lange Zeit auf zwei Säulen: Sie war soziale Bewegung und Partei gleichzeitig. Neben der MAS sind in den Protesten neue politische Akteure entstanden und alte wurden wiederbelebt, zum Beispiel die Nachbarschaftsräte in Cochabamba oder El Alto, die Gewerkschaften, Lehrervereinigungen, Studentenorganisationen und andere. Dank ihrer großen Mobilisierungskraft setzten sie die Regierungen der letzten Jahre unter großen Druck. Die verschiedenen Akteure solidarisierten sich immer wieder miteinander, was eine entscheidende Qualität der bolivianischen Proteste war. Trotz großer Differenzen und Machtkämpfe innerhalb der Linken waren die Wut und das neue Selbstbewusstsein an der Basis so groß, dass das Ganze eine eigene und oft nicht mehr zu kontrollierende Dynamik bekommen hatte. Die heterogenen Proteste waren eine groß angelegte Suchbewegung, in der Improvisation und Experiment, Rätestrukturen, spontane Revolte und eine Nutzbarmachung der indianischen Werte immer „in der Luft“ lagen. Die MAS entstand als organischer Akteur innerhalb dieses multipolaren und offenen Spektrums mit einer stabilen Basis in der Kokaanbau-Region Chaparé. 

Nach den Wahlen setzte ein Prozess der Schließung ein. Die MAS als Partei hat einen großen Teil des Spektrums repräsentativ vereinnahmt und kanalisiert die Konflikte. Insofern ist das auch eine Restauration der repräsentativen Demokratie, mit der auch die Verfechter der Formaldemokratie zufrieden sein können. Die MAS wird diesen Konsolidierungsprozess weiter fortsetzen, indem sie Institutionen aufbaut und sich zu einer Regierungspartei entwickelt. An diesem Punkt sind bereits Konflikte mit den sozialen Bewegungen erkennbar. So sind beispielsweise die Nachbarschaftsräte El Altos nicht völlig einverstanden mit der momentanen Politik, insbesondere des Wasserministers Abel Mamani, und Indígena-Vereinigungen üben Kritik am Wahlverfahren zur Verfassunggebenden Versammlung, das ihre „Bräuche und Sitten“ zur Bestimmung der KandidatInnen missachtete.

Derzeit protestieren die LehrerInnen gegen die geplante Bildungsreform. Diejenigen, die Evo Morales repräsentiert, stellen nach wie vor unheimlich hohe Partizipationsanforderungen. Die Entfernung Morales' von der Basis ist dabei völlig erwartungsgemäß, weil sie strukturell in der repräsentativen Demokratie angelegt ist. Die Frage ist nur, ob Evo Morales und die zivilgesellschaftlichen Akteure es schaffen, einen lebendigen, konstruktiven Diskurs aufrecht zu erhalten.

Welche Bedeutung hat die Verfassunggebende Versammlung, die Anfang August einberufen wurde?

Politische Institutionen haben neben der organisatorischen immer auch eine symbolische Funktion. Die Bürger müssen die Institutionen als ihre annehmen. Das gilt auf der Ebene der Verfassung genauso wie bei der Verwaltung eines Stadtteils. In Bolivien hat ein Prozess eingesetzt, in dem die Bürger sich Institutionen angeeignet, sie verändert und mit neuem Leben gefüllt haben. Die Verfassunggebende Versammlung ist ein Ausdruck davon. Die Chance besteht darin, einen neuen Konsens herzustellen.

Das Gespräch führte Andreas Hetzer am 29. Juni 2006 in Siegen.