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Worst Case in Hongkong

Die WTO-Konferenz ging schlimmer aus als erwartet

„Ein Durchbruch“, jubelte die Mainstreampolitik und -presse des Nordens zum Ausgang der sechsten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember in Hongkong. „Desaster und Verrat“ gaben soziale Bewegungen, NRO und einige Südregierungen geknickt zu Protokoll. Von einer „Entwicklungsrunde“ sei man entfernter denn je. Wie immer liegt die Wahrheit nicht genau in der Mitte. Nicht wirklich, auch wenn einige Wirtschaftssektoren von Südländern nicht nur vom Ausgang profitieren werden, sondern diesen auch kräftig gefördert haben.

Gaby Küppers

Wer am zweiten Dezemberwochenende auf dem Weg nach Hongkong war, sah auf diversen Flughafenleinwänden der Welt immer wieder die steif-arrogante Miene des europäischen Handelskommissars Peter Mandelson. Via BBC und CNN breitete er sich ganz offenbar über die dort bevorstehende Ministerkonferenz der WTO aus. Rechts im Bild dozierte der britische Ober-Unterhändler; links hackten arme Bauern in trockene Feldschollen und schleppten ausgemergelte Frauen Wassereimer steinige Wege entlang. Auch wenn der Ton meist im allgemeinen Lärm nicht zu hören war, war die Message klar: Den Ärmsten der Armen muss endlich geholfen werden. Hongkong ist die letzte Chance!

In Wirklichkeit fuhr kaum jemand mit Optimismus im Gepäck zur sechsten WTO-Ministerkonferenz. Nach zwei gescheiterten Treffen in Seattle (1999) und Cancún (2003) war Peter Mandelsons TV-Auftritt wie das Pfeifen im Walde. Eigentlich sollte Hongkong den Schlussstrich unter die so genannte DDA, die in Doha, der Hauptstadt von Katar, 2001 beschlossene Entwicklungsagenda, ziehen. Aber die angeblich im Süden Gesegneten wie auch so genannte ZivilgesellschaftsvertreterInnen im Norden unkten immer vernehmlicher, die DDA sei eigentlich eine Anti-Entwicklungsagenda. Wohl wahr: Statt der vom Süden geforderten Themen standen seit Doha bei den WTO-Sitzungen in Genf vom Norden gepuschte Themen im Vordergrund: der die Agroindustrie weltweit fördernde landwirtschaftliche Marktzugang; eine kahlschlagartige Senkung der Zölle für Industrieprodukte (Fachchinesisch NAMA), die sektoriellen Schutz für schwache und entstehende Branchen wie auch Umweltschutzmassnahmen ausschließt; und eine grundsätzliche Veränderung im GATS, dem Abkommen über Dienstleistungen: Die verbindliche Öffnung ganzer Sektoren wie etwa Wasser- und Stromversorgung, Sozialversicherungssysteme oder das Gesundheitswesen soll an die Stelle länderspezifisch vereinbarter Schwellensenkungen treten. 

Die Handschrift dieser Markzugangsagenda für Großunternehmen steht außer Frage. Zudem ließ das in der EU verfängliche Argument von Seiten deutscher und europäischer Regierungsvertreter, Dienstleistungen seien der größte Wachstumssektor in der EU und müssten ergo angemessen unterstützt werden, die Ablehnungsfront anderwärts nur mehr wachsen. 126 Millionen Menschen könnten durch liberalisierte Dienstleistungen aus der Armut entlassen werden, berechnete die Free to Trade Coalition, ein geradezu abenteuerlicher Zahlentrick. Menschen, die an privatisierter Wasserversorgung hängen, können ein Lied davon singen – und taten das in Hongkong übrigens auch.

Der offene Widerstand gegen den Durchmarsch von Industrieinteressen in der WTO wuchs im letzten halben Jahr beharrlich. Im Oktober war angesichts langer Gesichter im Genfer WTO-Sekretariat schon vom Absagen der Konferenz die Rede. „Progress through panic“ (Fortschritt durch Panikmache) hielt ein westlicher Diplomat für das beste Rezept. Ein drittes Mal dürfe eine WTO-Konferenz nicht scheitern. Die EU zog schließlich einen neuen Begriff aus der Tasche: In Hongkong solle ohnehin nichts zum Abschluss kommen. Vielmehr solle dort „rekalibriert“ werden, damit im Laufe des Jahres 2006 in Genf unauffällig und ohne medienträchtige Ministerpräsenz Nägel mit Köpfen gemacht werden könnten. Denn danach wird es eng: Mitte 2007 läuft Bushs Verhandlungsmandat, der fast track, aus. Die wahrscheinlichste Erwartung an Hongkong war schlussendlich eine schönfärberische Abschlusserklärung mit dem Tenor: „Wir sind erneut aufeinander zugegangen. Seht her, wir haben einen Fahrplan. Beim nächsten Allgemeinen WTO-Rat in Genf am 21. März tragen wir die genauen Zeiten und Zahlen nach.“

Indessen entwickelt eine Großveranstaltung immer auch eine Eigendynamik. Dazu verbot es sich bei einem WTO-Generaldirektor wie Pascal Lamy, dem gewieften vormaligen EU-Handelskommissar, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Damit, dass er eine Formel aus dem Hut zauberte, die den verblüfften Zuschauern unversehens ein Kopfnicken ablockte, war die ganze WTO-Woche über zu rechnen. Einen Vorgeschmack darauf bot das so genannte „Entwicklungspaket“, von Lamy kurz vor Hongkong geschnürt, um den Entwicklungsländern einen Happen zuzuwerfen, damit sie den ganzen Rest schluckten. Allerdings fand sich in dem Paket so gut wie nichts Neues. Und die altbekannte Umetikettierung von existierenden Entwicklungsbudgets in angebliche Neuzuwendungen war schnell durchschaut. In einer telegenen Aktion überreichten Nichtregierungsorganisationen Lamy vor dem Verhandlungssaal große leere Weihnachts- (Entwicklungs-) Pakete und sangen Mandelson, dem zweiten ungeliebten Europäer, ein ironisch umgedichtetes Jingle Bell-Lied.

Die „Zivilgesellschaft“ in der Rolle des mächtigen Korrektivs? Naja. Unter Hongkongs EinwohnerInnenschaft verbreiteten die Medien seit Wochen Katastrophenstimmung vor den anrückenden Demonstranten. Der französische Bauernaktivist José Bové, daheim wieder einmal zu Gefängnisstrafen wegen Ausreißens von Genmais verurteilt, musste sich sechs Stunden am Flughafen aushorchen lassen, ehe er dann doch nach Hongkong einreisen durfte. In der Innenstadt waren Geschäfte verbarrikadiert, vielfach schon vor der ersten Demonstration am Sonntag, die dann aber einem bunten Karneval glich. Am Dienstag, dem Eröffnungstag, zogen die schon im Vorfeld berüchtigten, weil seit einem Selbstmord in Cancún suizidverdächtigen, „koreanischen Bauern“ nebst vielen anderen beeindruckend ausstaffiert durch die Stadt. Rund 100 koreanische DemonstrantInnen sprangen symbolisch eindeutig vor dem eleganten Konferenzgebäude ins kalte Wasser. Die wenigen darauf folgenden Scharmützel mit der Polizei wurden von unzähligen Kameras festgehalten und weltweit als „Chaos und Gewalt in Hongkong“ verkauft. Dazu kam es unweit des WTO-Zentrums erst am Abend des fünften Verhandlungstags, als drinnen bereits mit einem Einknicken der Entwicklungsländer bei GATS und NAMA zu rechnen war. Allerdings kamen auch da auf eineN Demonstranten/in zwei Kameras und drei Polizisten. Wie heftig die Schlacht dann am Ende eskalierte, mögen viele Delegierte erst am nächsten Morgen bemerkt haben, als sie auf dem Weg ins WTO-Gebäude einen Polizeikessel erblickten, in dem seit dem Vorabend etwa 200 Demonstranten ohne Wasser, Essen und Toilette ausharren mussten.

„Drinnen“ bemühten sich die ganze Woche über etliche AktivistInnen mit Zugangsberechtigung zum Konferenzort, die Teile-und Herrsche-Strategie der Verhandlungsleitung zu konterkarieren. In vielen Regierungsdelegationen sind NRO heute festes Mitglied – Informationstransfer, Expertise und vor allem Textexegese der komplizierten WTO-Vorlagen haben sich gerade bei unterbesetzten Delegationen aus dem Süden bewährt. Die neue Bundesregierung nahm dagegen statt Greenpeace und Brot für die Welt lieber den BDI und den Bauernverband mit und ignorierte den Rest. „Jedes Dritte-Welt-Land informiert seine Landsleute aus den NGOs besser als die Bundesregierung“, schimpfte Jürgen Maier vom Forum Umwelt und Entwicklung und kündigte harschen Protest an. „Freischwebende“ wie „embedded“ NRO-VertreterInnen konnten sich in einem eigenen, geradezu luxuriös ausgestatteten weitläufigen Konferenzzentrumsteil zu jedem beliebigen Thema auslassen. Einbinden ist zweckmäßiger als Auseinandersetzen, weiß die WTO inzwischen. Trotzdem funktionierte die Innen-Außen-Strategie der im weltumspannenden OWINFS-Netzwerk zusammengeschlossenen Gruppen (Our World Is Not For Sale) mit der Koordination paralleler Aktionen auf der Straße und im „Convention Center“ und dem Kontakt mit Regierungsvertretern erstaunlich gut.

Einflussreiche Aktivitäten oder nur einfallsreicher Aktivismus? Wer die vielen HongkongerInnen sah, die die Demos amüsiert wie bei einem Festumzug säumten, oder auch die Delegierten im Plenarsaal beobachtete, wie sie während der Eröffnungsrede Lamys Erinnerungsfotos von Banner entrollenden Aktivisten auf der Tribüne schossen, dem kamen durchaus schon mal Zweifel, ob der Protest mehr war als letztlich harmloser Farbtupfer und Kulisse. Andererseits waren es Gruppen wie diese Protestierenden, die lange vor Regierungsvertretern die Folgen weiterer Importliberalisierungen nach statistisch nachweisbaren Erfahrungen von Zerstörung der heimischen Produktion, Deindustrialisierung, Arbeitsplatzvernichtung, Bauernsterben und Umweltzerstörung durch maschinengesteuerte Agrarexportindustrie thematisierten. Neu ist nur, dass auch Regierungen das Tabu brachen und öffentlich bezweifelten, Handelsliberalisierungen seien ein allen letztlich zugute kommender Segen. In Cancún drückte sich das Misstrauen in der Schaffung der „Gruppe der 20“ (G 20 – von Brasilien bis Indien über etliche afrikanische Länder) aus – als von EU-und US-Seite zuerst heftig bekämpfter Präzedenzfall. In Hongkong brachte die neue Skepsis die Fronten komplett durcheinander.

Erwartbar war, dass die vorgegebene, beinahe inhaltsleere offizielle WTO-Tagesordnung von vornherein durchbrochen würde. Tatsächlich lud Lamy eine ausgewählte Runde von Ländern kaum eine halbe Stunde nach seiner Eröffnungsrede hinter die verschlossenen Türen eines Green Rooms ein – eine Praxis, die sich durch die ganze Woche zog. Am Ende, resümierte der WTO-Direktor, hatten im Laufe der Woche 450 Kleintreffen stattgefunden, sechs größere und über 200 Einzelkonsultationen von Ländern durch die Sektor-Vorsitzenden. Das Ganze selbstverständlich ohne Protokollführung oder Aufzeichnung – von Transparenz keine Spur. Dazu ganze zwei Plenarsitzungen: die zeremoniell angelegte Eröffnungs- und die Schlussveranstaltung. Eine perfekte Choreographie, um einzelne Delegationen unkontrollierbar weichzuklopfen.

Kalkulierbar waren auch die sich gegenseitig hochschaukelnden Schuldzuweisungen zwischen den USA und der EU angesichts ausbleibender Verhandlungsfortschritte. Die EU solle endlich weitere deutliche Zollsenkungen im Agrarbereich mit verbindlichem Datum 2010 vornehmen, rüffelte US-Chefunterhändler Rob Portman seinen EU-Kollegen Peter Mandelson an. Dieser bellte zurück, die USA blockierten, solange sie ihre als Nahrungsmittelhilfe verkappten Agrarsubventionen nicht aufgäben. Doch dann platzte ein Brief von sechs Ländern von den Philippinen bis zu Venezuela in den Machtpoker. Der so genannte Annex C des GATS-Textes, der dessen Geschäftsordnung tiefgreifend verändere, sei bedingungslos inakzeptabel. Worauf die EU in Sachen Dienstleistungen mit noch mehr Forderungen eins draufsattelte. Worauf eine neu geschaffene Gruppe von 11 Entwicklungsländern (NAMA 11) die Verhinderung des Industriezollabbaus zur Chefsache machte. Eine Koordination aus G 20, G 90, den afrikanischen Staaten und kleinen Ökonomien machte daraufhin grundsätzliche Entscheidungen bei Baumwolle, Zucker und Bananen zur Voraussetzung jedweder weiterer Zustimmung. Und so fort.

Die vormalige Angst einzelner Regierungen, mit Ablehnung den Ausgang der WTO-Konferenz und damit das multilaterale System insgesamt zu gefährden, ist sichtbar vorbei. Einige, wie die der USA und wohl auch der EU, können derzeit ihre Interessen auch ohne die WTO durchsetzen – und machen es de facto auch laufend innerhalb ihrer von den gleichen Unterhändlern ausgehandelten bilateralen Abkommen. Andere wissen, dass WTO-Regeln, so wie sie sind, ohnehin nur die Schere zwischen Arm und Reich daheim erweitern und Proteste vorprogrammieren.

Und doch klappte der Widerstand am Ende zusammen wie ein Kartenhaus, war das ungewohnt forsche Auftreten etlicher Süddelegationen so gut wie folgenlos. Die EU und die USA setzten ihre Forderungen zur schrankenlosen Öffnung des Dienstleistungssektors wie auch des massiven Abbaus von Industriezöllen durch. Bezahlt haben sie dafür mit Mogelpackungen: Das späte Enddatum 2013 für die lokale Märkte im Süden zerstörenden Exportsubventionen im Landwirtschaftsbereich setzt die Hinhaltetaktik der EU maximal fort. Länger wären sie ohnehin nicht zu halten gewesen. Und Schlupflöcher bleiben bestehen. Das „Entwicklungspaket“ enthält die Bekräftigung von Konzessionen, die längst gemacht sind. Und eine auftragsgemäße „Road Map“, wie, wann und wo die Hongkonger Entscheidungen in konkrete Vorschriften umgesetzt und von allen Mitgliedern abgesegnet werden, fehlt kurioserweise im Abschlusstext. Soll damit die Neuformierung von Widerstand – der ein konkretes Ereignis braucht, um sich artikulieren zu können – verhindert werden?

Erklärungsbedürftig ist auch, warum Lamy sich trotz aller Skepsis im Vorfeld durchgesetzt hat. Wichtig war offensichtlich die intransparente Organisation der Konferenz. Andererseits hielt der G 20 nicht, was er in Cancún bei seiner Gründung versprach. Brasiliens Agrarindustriesektor will eine Agrarmarktöffnung um jeden Preis, auch um den, den guten Ruf als Fürsprecher des Südens wieder zu verlieren. Der andere Riese im G20, Indien, hat offensive Interessen im Computer-Dienstleistungsbereich und schreckte daher nicht davor zurück, andere Südländer mit falschen Versprechungen über die Möglichkeiten von Ausnahmeregelungen über den Tisch zu ziehen. Ein kleiner Lichtblick kam bei der Schlussveranstaltung dann doch noch in das unfeine Spiel. Die Vizeaußenministerin Venezuelas ließ sich nicht, wie von der Konferenzorganisation vorgesehen, den Mund verbieten. Diese hatte nämlich den Plenarsaal angeordnet wie einen Kinosaal: ohne Tisch für die Delegationen, ohne Namensschilder, so dass sie sich gegenseitig nicht erkennen konnten, und nicht einmal Mikrofone waren vorhanden, um Zustimmung oder Ablehnung oder Kommentierung des erstmals in Gänze vorgetragenen Abschlussdokuments signalisieren zu können. Die Vertreterin Venezuelas stieg einfach aufs Podium und sprach den Versammlungsleiter direkt und für alle sichtbar an; ein offenbar von ihren Begleitern mitgebrachtes Mikrofon tauchte auf und so schufen Venezuela und Cuba vor dem Plenum den Präzedenzfall, dass zwei Delegationen für ihre Länder Nichteinverständnis und Vorbehalte im Dienstleistungs- und im NAMA-Sektor schriftlich festhalten ließen. Der Zwischenfall ist nun im Protokoll aktenkundig. Dass das Folgen für die weiteren Verhandlungen habe, streitet die EU ab. Es braucht noch weitaus mehr Sand im Getriebe.

Es knirscht dennoch ein wenig mehr bei der WTO. Eine neue Handelsrunde wird es nach Ansicht vieler nicht mehr geben, vielleicht auch keine spektakulären Ministerkonferenzen. Aber wo sind die institutionellen Alternativen? Im September in New York bei der UNO über Millennium-Entwicklungsziele schöne Worte zu verlieren; im November in Montreal die Probleme beim Kyoto-Protokoll zu beklagen; und in Hongkong über NAMA zu verhandeln, das Klima- und Menschenrechtsschutz als Handelsbarrieren ausschließt, wird immer schizophrener. Aber, das zeigt Hongkong, auch allseits immer bewusster.
Der WTO mehr Kompetenzen aufzustülpen hieße hingegen den Bock zum Gärtner zu machen. Politische Gestaltungsräume müssen erst wieder eröffnet, nicht noch weiter abgeschafft werden. Nach dem Scheitern von Cancún sprach Lamy, damals als EU-Handelskommissar, von der Notwendigkeit einer Auszeit zum Nachdenken. Es wäre zu hoffen, dass der schlaue Fuchs sie als WTO-Direktor tatsächlich einmal verhängt.

Vgl. auch den Schwerpunkt der ila 265: WTO – Welthandelsorganisation