ila

Familiäre Gemeinheiten

Der Film „Familia Rodante – Reisen auf Argentinisch“
Britt Weyde

Wir alle wissen es aus eigener Erfahrung: Auf Familientreffen treten menschliche Abgründe zutage. Die Geburtstagsfeier der 84jährigen Emilia verläuft zunächst friedlich. Über den Anruf aus dem fernen Misiones an der Grenze zu Brasilien freut sie sich sehr: Sie wird zur Hochzeit ihrer Nichte eingeladen – als Trauzeugin. Emilia sagt zu und schlägt der versammelten Familie vor, die Gelegenheit wahrzunehmen und noch einmal mit allen vier Generationen zu verreisen. Die Angehörigen reagieren durchweg unbegeistert. Ihr wenig liebevoller Umgang untereinander kontrastiert mit der Harmoniebedürftigkeit der Matriarchin, die angesichts ihrer gezählten Tage gerne noch einmal alle beieinander hätte. Der alten Dame zuliebe begibt sich schließlich die elfköpfige Familie (plus eine pubertierende Freundin) mit dem alten Wohnmobil von Emilias Sohn Oscar auf die Reise.

Auf dem 1200 Kilometer langen Weg lauern natürlich viele Komplikationen – ganz praktischer, aber auch zwischenmenschlicher Natur. Einigermaßen absehbar sind die technischen Pannen oder auch der Benzinnotstand inmitten der Einöde. Weite, mitunter imposante Landschaften ziehen vorbei. Der Mikrokosmos Wohnmobil bietet Raum und Zeit für Gespräche und Zankereien. Des Nachts erzählt die Uroma die Legende von der untreuen Ehefrau. Ein Orakel? Und dann muss auch noch ein schmerzender Zahn gezogen werden. Ganz schön viel Unbill auf einmal. Doch der unfreiwillige Stopp im Geburtsort von San Martín, dem argentinischen Nationalhelden, treibt die verschiedenen emotional-erotischen Verwicklungen unter den Reisenden voran und bereitet die schließlich unvermeidliche Eskalation kurz vor Ankunft im Hochzeitsdorf vor. Emilia ist von ihrer Familie enttäuscht und fleht sie verzweifelt an: „Ich kann nicht mehr. Hört auf euch zu streiten, und das auch noch vor den Kindern.“ Das rauschende Hochzeitsfest stimmt am Ende einigermaßen versöhnlich. Die Familie tritt die Heimreise an, zurück bleibt eine nachdenkliche Emilia, die jetzt bereit ist zum Sterben.

Amüsant sind die Verführungen, Eifersüchteleien und der herrlich pubertäre Zickenalarm unter den drei Teenagern (einmal weiblich forsch, einmal weiblich keusch sowie einmal unbeholfen männlich). Treffend ist die Darstellung männlicher Selbstherrlichkeit und Penetranz im Fall des Ekels Ernesto, etwas übertrieben hingegen die cholerischen Handgreiflichkeiten des dicken Oscar zur Ehrenrettung seiner Tochter. Die meisten Charaktere sind jedoch ziemlich realitätsnah gezeichnet.

Auch Regisseur Pablo Trapero (Jahrgang 1971) verbrachte seine kindlichen Ferien im familiären Wohnmobil; er hatte also schon früh Gelegenheit, die Metamorphose menschlichen Verhaltens auf engstem Raum zu beobachten. Als Filmemacher wurde er 1999 mit dem Arbeitslosenalltagsdrama Mundo Grúa bekannt, später zeichnete er ein bedrückendes Bild der korrupten und skrupellosen Polizei von Buenos Aires in El Bonaerense (2002). Auch wenn Familia Rodante zunächst heiterer daherkommt und in der Tat viele skurrile Szenen bietet (leider häufig zu vorhersehbar), hinterlässt die Großfamilie am Ende eine recht triste Stimmung.

Familia Rodante – Reisen auf Argentinisch, Argentinien 2004, kommt ab 23. Februar 2006 in die deutschen Kinos.