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Ein Roman als Symbol der argentinischen Krise

„Das Orchester der Amputierten“ von Miguel Vitagliano
Gert Eisenbürger

Vordergründig erzählt „Das Orchesters der Amputierten“ von Miguel Vitagliano vom Entstehen eines Romans, an dem der Schriftsteller Anselmo nahezu drei Jahrzehnte – von Anfang der sechziger bis Anfang der neunziger Jahre – in Buenos Aires arbeitet. Oder besser: nicht arbeitet. Denn Anselmos Schreiben ist ein Mythos, an dem er, seine Frau Dana, später auch die gemeinsame Tochter Dedy und zuletzt noch deren Freund José Martin, ein weiterer Schriftsteller, partizipieren. Alle Beteiligten richten ihr Leben mehr oder weniger auf Anselmos Roman aus, auch und gerade dann noch, als ihnen längst klar ist, dass er gar nichts schreibt. Das Buch kann also durchaus als ein literarischer Text über das Schreiben gelesen werden, über seine Schwierigkeiten, ja seine Unmöglichkeit.

Doch das ist nur die oberste von vielen Schichten dieses Romans. Anselmos Unfähigkeit zu schreiben, wird zum Symbol für die politisch-gesellschaftliche Krise Argentiniens. Je unerträglicher die Realität wird, desto intensiver stürzen er und seine Umgebung sich in das Romanprojekt. Während um ihn herum Menschen verschwinden, zieht sich Anselmo in Endlosvorstellungen fernöstliche Karatefilme in Vorstadtkinos rein, um – so seine Begründung – den Kopf für das Schreiben frei zu bekommen. Später geht er nicht einmal mehr ins Kino, er konsumiert stattdessen ununterbrochen Telenovelas im Fernsehen.

Kurzzeitig nimmt er einen Job an, er gibt Literaturkurse in einer psychatrischen Klink für verwirrte ältere Menschen. Doch das, was zunächst wie eine vorsichtige Rückkehr ins Leben aussieht, leitet die endgültige Weltflucht ein. Anselmo verbringt immer mehr Zeit in der Klink, siedelt schließlich mitsamt dem Fernseher ganz dorthin über, weil er behauptet, an diesem Ort könne er besser arbeiten und den Roman fertigstellen.
Die politischen Rahmenbedingungen jener Jahrzehnte, zwei Militärdiktaturen, die soziale und politische Mobilisierung der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, das Malvinenkriegsdesaster, der Versuch eines politischen Neubeginns Mitte der achtziger Jahre, die Hyperinflation und erste ökonomische Depression spielen scheinbar keine Rolle: 

Die Verhaftung eines Nachbarn durch die Militärs wird nur angedeutet, der Malvinenkrieg und die ökonomische Krise eher beiläufig erwähnt. Und doch steht die politische Realität letztlich im Mittelpunkt des Romans. Personifiziert wird sie durch zwei Protagonisten: Nelson, der Bruder Danas, und El Negro, ein Freund Anselmos. Nelson wird als politischer Gefangener nach Patagonien deportiert. Dies wird nie offen thematisiert, es ist nur von einer Reise die Rede. Als er nach der Diktatur zurückkehrt sind Anselmo, Dana und Dedy unfähig, mit ihm über seine Erfahrungen zu reden: Anselmo versucht, allen Begegnungen mit dem Schwager aus dem Weg zu gehen, Dana behandelt ihren Bruder voller Schuldkomplexe, und die Tocher Dedy reagiert aggressiv auf den früher heiß geliebten Onkel. Nach dem was während der Diktatur geschehen ist, sind die Menschen unfähig miteinander zu kommunizieren, zu groß sind Leidenserfahrung auf der einen und die Scham und das schlechte Gewissen auf der anderen Seite.

Der andere politische Protagonist ist El Negro. Er war irgendwie Teil des Terrorapparates, welche Funktion er in der Diktatur hatte bleibt verschwommen. Jedenfalls ist er auch nach der Militärsherrschaft obenauf, seine neue Funktion als Leiter der Psychiatrischen Klinik nutzt er zu allerhand Schiebereien und krummen Geschäften. Anselmo versucht, seine Verbrechen zu verdrängen, für ihn bleibt El Negro der alte Kumpel aus Jugendtagen, während Dana und Dedy ihm mit offenem Hass begegnen. Doch über allem liegt bleischwer Anselmos Romanprojekt, das längst zur krankhaften Obsession geworden ist. Von Therapeuten wissen wir, dass manche Familien eine Krankheit eines Familienmitgliedes brauchen, um funktionieren zu können. Ohne diese tägliche Herausforderung, würde die Familie an ihren latenten Konflikten auseinander brechen. Doch ohne die Auseinandersetzung mit diesen Konflikten kann die Familie nicht gesunden. Es ist schließlich die Tochter Dedy, die das versteht und handelt.

Der Roman erschien 1996 in Argentinien unter dem Titel „Los ojos así“, im gleichen Jahr erhielt sein Autor Miguel Vitagliano in Berlin den Anna-Seghers-Preis. Es bestand also für den hiesigen Literaturbetrieb durchaus die Möglichkeit, auf den 1961 geborenen Autoren aufmerksam zu werden. Dennoch brauchte es noch neun Jahre, um diesen Schlüsselroman über das Lebensgefühl und die Gesellschaftssicht der argentinischen Nach-Diktatur-Generation auf deutsch zu veröffentlichen. Und es bedurfte der Gründung eines neuen Verlags: „Das Orchester der Amputierten“ ist einer der beiden Starttitel des Lateinamerika-Verlags aus dem Schweizer Solothurn. Dessen Verlagsleiter Peter Tremp hat den wagemutigen Schritt unternommen, einen Verlag zu gründen, der ausschließlich lateinamerikanische Literatur publizieren will, bevorzugt solche von jüngeren, innovativen AutorInnen. Neben Miguel Vitagliano hat er als zweites Buch mit „Der letzte Körper von Ursula“ einen Roman der peruanischen Autorin Patricia de Souza vorgelegt. Angesichts des Schattendaseins der lateinamerikanischen Literatur auf dem deutschen Buchmarkt können wir nur wünschen, dass sich der Verlag mit seinem Programm etablieren kann.

Miguel Vitagliano: Das Orchester der Amputierten, Übersetzung: Peter Tremp, Lateinamerika-Verlag, Solothurn 2005, 310 Seiten, 22,80 Euro