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Die eingebunkerte Stadt

Gewaltkriminalität, Zersplitterung des öffentlichen Raums und die Grammatik des Krieges in einem angespannten Frieden

Fragt man die BewohnerInnen von Caracas, was sie für das größte Problem der Stadt halten, nennen die meisten als erstes die Gewaltkriminalität. Dies gilt sowohl für Carceños aus der Unter- als auch aus der Mittelschicht, und es gilt auch weitgehend unabhängig von der politischen Orientierung. Eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie das Problem jenseits populistischer Parolen anzugehen wäre, findet nicht statt. Man versucht sich irgendwie zu schützen, geht abends nicht mehr raus, und besonders die begüterten Schichten bunkern sich ein, um ein Gefühl von Sicherheit zu erreichen. Dadurch aber verändert sich die Stadt grundlegend.

Tulio Hernández

Caracas, das noch vor drei Jahrzehnten als gewaltlose Metropole galt, ist in den lateinamerikanischen Rankings über Morde pro Kopf der Bevölkerung immer weiter nach oben gerutscht. Nach Medellín und São Paulo hat sich die venezolanische Hauptstadt an dritter Stelle mit einer nicht gerade schmeichelhaften Quote von 123 Morden pro 100 000 EinwohnerInnen festgesetzt. Es ist eine Art tragischer Zeremonie, wenn seit mehr als einem Jahrzehnt Montag für Montag in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen die Zahl der Morde vom Wochenende veröffentlicht wird. Diese Zahl schwankt zwischen 90 und 150 Tötungsdelikten, fast alle ereignen sich in den armen Vierteln der Stadt, meist im Zuge von Kämpfen zwischen Jugendbanden. Die Presse behandelt diese Taten als eine Art verdeckten Krieg, der nun zum alltäglichen Bild der Stadt gehört. Nur manchmal sorgt ein Gelehrter für Aufmerksamkeit, wenn er auf die Dimensionen des Problems hinweist: Gleich mehrere Mitglieder einer Taxifahrervereinigung sind ermordet worden, eine Bewegung der Mittelschicht verlangt die exemplarische Bestrafung des Gesindels oder eine Menschenrechtsorganisation protestiert öffentlich gegen die Straflosigkeit dieser Taten. Mehr nicht. Nicht einmal, seit das Phänomen besorgniserregende Dimensionen angenommen hat und man die pathologische Bedrohung an der Wurzel hätte packen müssen, wurde mit einer konsequenten und kontinuierlichen Kampagne reagiert.

Die deutlichsten Reaktionen zeigten sich auf individueller Ebene: Ein Anstieg der privaten Sicherheitsdienste, die Installation von diversen Alarmsystemen, elektrischen Zäunen, Beleuchtungsanlagen, Schlössern und Gittern jeder Art sowie nachbarschaftliche Organisationsbestrebungen mit dem Ziel der Selbstverteidigung. Doch was den öffentlichen Raum am stärksten prägt, ist die Schließung von Straßen und ganzen Vierteln mit der Einrichtung von Wachstationen, die den Zugang von Fremden in diese Zonen verbieten oder regulieren. Meist sind dies Zonen der Mittel- und Oberschicht, mitunter aber auch Viertel von ärmeren Bevölkerungsschichten. Der Soziologe Pedro García, der in Caracas eine Studie zu diesem Thema machte1, versuchte die Verwicklungen zu ordnen, welche diese Akte von Parzellierung und Privatisierung auf die soziale Vorstellung der Caraceños haben. Dieser Mechanismus, so seine Schlussfolgerung, hat eine Zersplitterung des öffentlichen Raums bewirkt, einen tiefen Bruch der eigentlichen Idee einer Stadt als demokratischer Raum des Zusammenlebens und der Bewegungsfreiheit. Dazu zählt auch die Tendenz des Sich-Einschließens, um sein Leben vor dem Fremden und Unbekannten zu schützen. Zusammengenommen werden so neue Formen der sozialen Abgrenzung erzeugt. García beschreibt dies als Prozess des privatisierten Stadtlebens. Ein Rückzug der Viertel und Stadtteile in sich selbst, aufgrund der Vorstellung, dass sich jedes Viertel und jede Ansiedlung als geschlossenes Kollektiv gegen die Bedrohung von außen schützen muss. 

Der Ausdruck „Semantik der Angst“ baut die Brücke zu dem, was García als von gegenseitiger Bewachung geprägtes Gemeinwesen bezeichnet. Die sich durch die Angst entwickelnde ausgrenzende Praxis hält sich selbst aufrecht, indem sie die Angst vor dem Anderen noch verstärkt. Was am Anfang eine Angst war, die sich konkret auf die kriminelle Gewalt bezog, wurde in Caracas allmählich zu einer Angst, die auf politischen oder halbpolitischen Gründen fußt. Dazu trugen die Ereignisse vom Februar 1989 bei, die Proteste, Plünderungen und Volksaufmärsche, die als der „Caracazo“ bekannt sind und 3000 Tote hinterließen (vgl. Beitrag in dieser ila). Hier hat sich in gewisser Weise ein alter Mythos der Stadt verwirklicht: „Der Tag an dem die Berggipfel herabkommen werden“. Dies ist der Tag, an dem die Armen und Mittelschichten, welche die Viertel bewohnen, die die begüterten Stadtteile umschließen, herunterkommen um sich durch Überfälle deren Besitztümer anzueignen. Zu der Angst vor Kriminellen kam nun diese Angst zum allgemeinen Gefühl der Unsicherheit hinzu. Die Bedrohung durch die sozialen Ungleichheiten bereicherte das von gegenseitiger Bewachung geprägte Gemeinwesen um ein weiteres Element. In den Tagen nach dem Caracazo griffen die Streitkräfte die Armenviertel an, wurden aber massiv durch deren EinwohnerInnen, zum Teil auch unter Einsatz von Schusswaffen, bekämpft. Dies machte vielen BewohnerInnen der begüterteren Viertel klar, dass auch auf der anderen Seite eine Gesellschaft stand, die fähig war, sich zu schützen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Die Stadt im Ganzen war sowohl physisch als auch symbolisch eingemauert oder zumindest einmauerbar, so wie die Burgen des Mittelalters.

Dies war bereits Realität, als die politische Polarisierung mit ins Spiel kam. Sie begann etwa acht Monate nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez im Jahr 1998 und umfasste nach und nach alle Bereiche und Organisationen des Landes. Caracas wurde der Hauptschauplatz dieser Polarisierung, nicht nur weil dort der Sitz der politischen Macht und der überregionalen Medien ist, sondern auch aufgrund der Tradition, nach der alle wichtigen Massenbewegungen und Proteste in der Hauptstadt ihren Anfang nehmen. Die Emotionalität und Gewalt der Polarisierung drückte sich in den öffentlichen Räumen der Stadt durch neue Formen der Segmentierung und Privatisierung aus, indem ganze Plätze, Straßen und Stadtteile in befreite Zonen der jeweiligen politischen Tendenzen verwandelt wurden. Abrupt wurde die Stadt durch eine neue Kartographie in Chávez- und Anti-Chávez-Zonen gespalten. Es tauchte die so genannte „Heiße Ecke“ auf, eine Gruppe von Chávez-Anhängern, die auf einem Teil der Plaza Bolívar Stellung bezogen und dieses historische und politische Zentrum der Stadt zur Chavéz-Gegner-freien Zone erklärte. Jedes mal, wenn Oppositionsgruppen versuchten eine Zeremonie am Denkmals Símon Bolívars abzuhalten, versuchten diese Chávez-Anhänger dies mit Gewalt zu unterbinden. Die andere Seite übernahm die Plaza Altamira in einem der besseren Viertel der Stadt, wo Oppositionsgruppen, offizielle und desertierte Soldaten offen zum Sturz von Chávez aufriefen. 

Der 11. April 2002 ist der Tag des Massakers von Puente Llaguno, einem bewaffneten Zusammenstoß, der auf beiden Seiten Opfer hinterließ. Prompt wurde dieser Ort in eine Gedenkstätte für die Märtyrer aus den Reihen der Regierungsanhänger umgewandelt. Später wurde die Umgebung des Gebäudes der PDVSA, der staatlichen Ölgesellschaft, von AnhängerInnen der Regierung besetzt, die dort ein Camp als so genannte Sicherheitsbarriere errichtete. Begründet wurde dies mit der Befürchtung, dass im Zuge der Protestmärsche der Opposition das Gebäude besetzt werden könnte. Die Idee, dass der Westen der Stadt Chavista- und der Osten Oppositionszone ist, wurde nun zur harten Gewissheit. Beide Gruppen sahen es als ihre Pflicht an, dem jeweils anderen den Zugang zu ihrem Teil der Stadt, zu Restaurants und Plätzen zu verweigern. Die Polarisierung erreichte ihren Höhepunkt im Januar 2003, als der Generalstreik, ausgerufen von der Opposition, langsam verebbte. Es kam das Gerücht auf, dass die militanten Bolivarianischen Zirkel, im Sprachgebrauch der Opposition „Die Horden von Chávez“, in die Wohnviertel der Mittel- und Oberschicht eindringen, ihnen ihren Besitz rauben und körperlichen Schaden zufügen wollten. Im Informationschaos, vor allem verursacht durch die privaten Medien auf der einen und die staatlichen Medien auf der anderen Seite, kamen einige Stadtviertel auf die Idee, sich zum Selbstschutz zu organisieren. Sie schufen bewaffnete Milizen, um den Schutz zu haben, den die Polizei ihnen nicht geben konnte. Es gab Ideen, ganz wie im Mittelalter, sich mit Fässern heißen Öls vor den Angreifern zu schützen. 

Die entstandene Zersplitterung durch die Einbunkerungsmentalität der Mittel- und Oberschicht gegen die Kriminalität wurde aus politischen aber auch aus ökonomischen Gründen ein von gegenseitiger Bewachung geprägtes Gemeinwesen. Die StraßenverkäuferInnen bedrohen mittlerweile die Polizei, die sie von den Straßen und Plätzen vertreiben will. Der Freiraum des Zusammenlebens zwischen Klassen und Gruppen wird immer weiter reduziert. Eine Stadt voll von tropischem Licht, wo das gute Wetter und der Frühling das ganze Jahr über präsent und die Menschen immer zu einem Lächeln bereit sind, wartet auf die Rückeroberung des öffentlichen Raums für ein demokratisches Zusammenlebens, den sie schon einmal besaß.

  • 1. Garcia Sánchez, P.J. „De la sociabilidad vigilante a la urbanidad privada“. En: Perfiles latinoamericana no. 20 FLACSO, Mexico, 2001

Übersetzung: Malte Schnitger