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Kultur wird gemacht

Überlegungen zu lateinamerikanischer Kultur und Kunst in Deutschland
Julio Mendívil

Die absurdeste Geschichte, die ich, seit ich in Deutschland lebe, mitbekommen habe, verdanke ich Silke, einer ganz normalen Deutschen, die im Macondo und Comala1 des mythischen literarischen Lateinamerika jene faszinierende Welt entdeckt hatte, die ihr die Aulen der germanischen Universitäten vorenthalten hatten. Als Liebhaberin der „lateinamerikanischen Kultur“ und aller verlorenen Schlachten interessierte sie sich für alles, was aus den ehemaligen spanischen Kolonien kam: die Bräuche, die Musik, die Literatur, die Politik unserer heruntergekommenen Länder und natürlich ihre Menschen.

Es wäre übertrieben, „ihre Menschen“ zu sagen, denn Silkes Interesse für lateinamerikanische Personen war theoretisch allgemein, aber in der Praxis so spezifisch, dass es sogar einen eigenen Namen hatte: Tito José. Tito Josés Interesse für das Land der Dichter und Denker hingegen beschränkte sich auf die deutschen Biere. Oder besser gesagt auf die Biere und die Deutschen (weiblichen Geschlechts). So endete die Verbrüderung unter den Völkern, welche die arme Silke inspiriert hatte, in einem regelrechten Rosenkrieg. Als ich einige Monate nach der Trennung auf eine strahlende und gutgelaunte Silke traf, fragte ich sie argwöhnisch, ob ich denjenigen welchen kennen würde. Sie antwortete mir, nein, sie habe die Lektion gelernt, nie wieder mit einem Latino, schließlich wären unsere Kulturen schlichtweg unvereinbar. Nachdem sie die Angelegenheit tausend Mal hin- und hergewälzt hatte, war Silke zu dem Schluss gekommen, dass das Verhalten ihres Ex-Ehemannes nur mit seiner Kultur zu erklären sei – im Sinne einer bestimmten Lebensart. Auf den ersten Blick unterschied sich die Vorstellung von Kultur, die im Kopf meiner Freundin herumgeisterte, nicht wesentlich von derjenigen, die AnthropologInnen seit Tylor verteidigen; aber im Gegensatz zu meinen Kollegen sah Silke in der Kultur eine allmächtige Instanz, die das Verhalten der Menschen unerbittlich leitet und sie somit in eine Art kulturelle Synekdoche2 verwandelt, oder – um einen im interkulturellen Umfeld recht abgedroschenen Begriff zu gebrauchen – in Botschafter ihrer Länder oder Völker. 

Juvenal wäre hingegen mit dieser Vorstellung von Kultur nicht einverstanden gewesen, denn für ihn, den Liebhaber der „guten“ Poesie (Neruda, Vallejo, Lezama Lima, Ruben Darío), der neoklassischen Malerei (Vilar) sowie der neoindigenistischen Malerei (Guayasamín) und der sog. gelehrten Musik (Roldán, Paz, Villa-Lobos) des Subkontinents, haben die Abenteuer und Ausschreitungen von so manchen armen Teufeln nichts zu tun mit „unserer“ Kultur. Die Vorstellung von Kultur, die Juvenal verteidigt, und zwar um jeden Preis, tendiert dazu, Kultur und Kunst gleichzusetzen. Und obwohl dies extrem ausschließend ist, ist dieses Konzept sowohl von den Ausschließenden als auch den Ausgeschlossenen verinnerlicht worden. Für sie heißt, von lateinamerikanischer Kultur zu reden, seine DichterInnen, seine MalerInnen, seine akademischen KomponistInnen und vielleicht auch noch seine VolkskünstlerInnen zu meinen – und nicht dieses Gesindel, das sich auf den deutschen Straßen herumtreibt und unser Ansehen mit ihrem Lumpenverhalten zunichte macht.

Von einem anthropologischen Blickwinkel aus – den ich verteidige – haben beide Ansätze zumindest in einigen Punkten ein bisschen Recht, obwohl sie eigentlich beide von Grund auf falsch sind. Diese paradoxe Behauptung verlangt nach einer genaueren Erklärung, denn um von lateinamerikanischer Kultur und Kunst zu reden, müssen wir detaillierter erklären, was wir unter solch problematischen Begriffen verstehen. Was ist lateinamerikanische Kultur und Kunst? Die Anthropologie, wie ich es schon oben angerissen habe, verteidigt die Blickweise von Kultur als Lebensform, als eine Form von Wissen, das von Gruppen von Menschen sozial vermittelt wird. Aber im Gegensatz zu Silke glauben wir Anthropologen nicht, dass Kultur eine unsichtbare Zelle ist, aus der das Individuum niemals ausbrechen kann, sondern vielmehr ein konzeptueller Rahmen ist, innerhalb dessen die Individuen relativ unabhängig agieren. 

So ist z.B. das Spätkommen zum Abendessen ein sozial erlerntes Verhalten, die bei Peruanern eine höfliche Geste, aber in Deutschland genau das Gegenteil ist. Das sozial erworbene Wissen des peruanischen Gastes sagt ihm, dass die peruanische Küche sehr arbeitsaufwändig ist und dass es unhöflich wäre, dem Gastgeber nicht genügend Zeit zu lassen. Das sozial erworbene Wissen des deutschen Gastes sagt hingegen, dass jemand, der zu einer bestimmten Uhrzeit eingeladen hat, dafür gesorgt hat, dass zu dieser Uhrzeit alles auf dem Tisch steht, so dass das Spätkommen eine enorme Geringschätzung darstellen würde. Aber ich habe bereits gesagt, dass die Individuen keine schlichten Roboter sind, die von kulturellen Schablonen kommandiert werden, so wie es sich Silke vorstellt. Ich – als Peruaner oder als Deutscher – kann aufgrund meiner persönlichen Kenntnis der Regeln darüber entscheiden, ob ich sie respektieren möchte, oder nicht, oder verändern möchte. Deswegen gibt es so viele pünktliche Peruaner, wie es unpünktliche Deutsche gibt, sowie viele Personen, die sowohl das eine als auch das andere sein können, je nach Situation. Aber die Traditionen und somit das Wissen, die wir über sie haben, sind nicht statisch, sondern in ständiger Bewegung und verändern sich je nach Generation, sozialer Klasse oder Geschlecht. Deshalb sind wir Anthropologen zu dem Schluss gelangt, dass die Kulturen nicht gemacht sind, sondern gemacht werden, und dass das, was wir als Kultur bezeichnen, lediglich eine Momentaufnahme ist, welche die Illusion von Homogenität schafft, die im Grunde nur auf dem Papier existiert.

Aber die Kulturen sind nicht homogen. Wenn wir von der lateinamerikanischen Kultur sprechen, denken wir sofort an eine lateinamerikanische Lebensart mit bestimmten Charakteristika, die bestimmen, was lateinamerikanisch ist, wie z.B. die Liebe zur Musik (Salsa, Tango, Merengue oder „Panflöten“-Musik) oder die Neigung, das Leben selbst unter den schlimmsten Umständen zu genießen. Wenn wir von der lateinamerikanischen Kultur sprechen, glauben wir tatsächlich, dass es etwas Gleichartiges unter den Latinos gibt, und aufgrund dieser Annahme schaffen wir ein bestimmtes Bild davon, wie diese Kultur sein muss. Aber es stellt sich heraus, dass es keine lateinamerikanische Kultur gibt, es sei denn, man versteht darunter eine geografische Definition. Was hätten denn ein ecuadorianischer Shuar-Indígena und ein Porteño, Bewohner von Buenos Aires und Sohn italienischer Einwanderer, gemeinsam? Bestimmt sehr wenig, obwohl es stimmt, dass alle unsere Länder unter der spanischen Kolonialherrschaft litten; sie litten unter ihr auf sehr unterschiedliche Arten, selbst innerhalb eines Landes. Der Kolonialisierungsprozess war so heterogen, dass unsere Länder sowohl einen Borges als auch eine Rigoberta Menchú hervorbringen konnten.

Die lateinamerikanische Einheit wurde nicht nur in der Geschichte gesucht, sondern auch in der Sprache. Aber dieses Hilfsmittel ist noch unglücklicher als das vorhergehende, denn wenn der Kolonialisierungsprozess eine gemeinsame traurige Wahrheit war, so ist die Sache mit der gemeinsamen Sprache eine unserer größten Lügen, denn in unseren Ländern werden mehr Sprachen gesprochen als in ganz Babylon. Wie kann also von einer lateinamerikanischen Kultur gesprochen werden, wenn noch nicht einmal eine chilenische, argentinische oder bolivianische Kultur bestimmt werden kann? Vielleicht mag diese Abwehr gegen Verallgemeinerungen etwas radikal erscheinen, allerdings nur, wenn wir die enormen Konsequenzen vernachlässigen, die Verallgemeinerungen mit sich bringen. Um dies zu erklären, möchte ich auf Silkes Geschichte zurückkommen. Silke war davon überzeugt, dass es so etwas wie eine lateinamerikanische Kultur gibt, ein Gemisch aus Werten und Verhaltensweisen, die uns alle, die wir in diesem Teil der Welt geboren sind, vereint. So lange sie uns noch idealisieren konnte, liebte Silke die Bräuche, die Musik, die Literatur und sie interessierte sich für die Politik unserer heruntergekommenen Länder. Aber sobald sie von ihrem Tito José enttäuscht worden war, verwandelte sich diese ganze scheinbar harmlose Bilderwelt in einen Stützpfeiler von Vorurteilen gegen eine ganze Gruppe von Individuen. Kurz: Silke hat niemals begriffen, dass sie sich nicht mit einer Kultur verheiratet hatte, sondern mit einem Typen, den wir sowohl in Peru als auch in China oder Neu-Delhi ein Riesenarschloch nennen würden.

Ähnliches passiert mit der sog. lateinamerikanischen Kunst. Im Gegensatz zur herkömmlichen Annahme ist die Vorstellung von Kunst, wie wir sie heutzutage haben, nicht älter als unsere jungen Nationen. Paul Oskar Kristeller hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Kunstkonzept sowohl des Mittelalters als auch der Renaissance von unserem aktuellen Konzept dahingehend unterscheidet, dass es die Arbeit von Handwerkern und den freien Künsten mit einbezog, und dass für Thomas von Aquin die Herstellung von Schuhen, die Kochkunst, Taschenspielerei, Grammatik und Arithmetik genauso Teil der Kunst waren wie Bildhauerei, Dichtung und Musik. Die Vorstellung von Kunst, die wir heute haben, entstand während des Aufstiegs der Bourgeoisie als soziale Klasse im Europa der industriellen Revolution. Der englische Philosoph Roger G. Taylor fasst diesen Prozess folgendermaßen zusammen: „Da die Bourgeoisie Teile des alten Lebensstils verändert hatte (und zwar das, was später wissenschaftliche Aktivitäten genannt werden sollte), konzentrierte sich die Aristokratie auf die anderen relativ intakt gebliebenen Bereiche und verwandelte sie somit in andere und neue Lebensformen – aber insofern neu, als sie sich dem charakteristischen Lebensstil der Bourgeoisie entgegensetzten. Die Kunst wurde von der Aristokratie erfunden.“ 

Ich bin genauso wie Taylor ein Verfechter der These, dass die Kunst keine andere Definition zulässt als diejenige, die besagt, dass Kunst ist, was für Kunst gehalten wird, d.h., damit ein Objekt als Kunstwerk angesehen wird, braucht es nur die soziale Übereinkunft, dass „dies Kunst ist“. Marcel Duchamp oder Pablo Picasso, die zu ihrer Zeit als Zerstörer der westlichen Kunsttradition angesehen wurden, können heute als „Klassiker der Moderne“ betrachtet werden. Wenn wir von lateinamerikanischer Kunst sprechen, beziehen wir uns demnach auf alles das, was innerhalb des für Kunst gehaltenen Systems als Kunstobjekt anerkannt wird. So wie es James Clifford für den Fall der afrikanischen Objekte in französischen Museen feststellte, haben sich auch die prähispanischen Objekte in vielen deutschen Museen in Kunstobjekte oder Quellen der Kunst verwandelt, z.B. die Ikonographie der Moche-Vasen oder die Maya-Architektur, die jahrzehntelang Träger der materiellen Kultur dieser Gruppen gewesen waren. Auch hier ist es nur der geografische Aspekt, der das Adjektiv „lateinamerikanisch“ zulässt. Schließlich sind die Unterschiede zwischen den Stilen und den Positionen so groß, dass sogar Juvenal Probleme damit hätte, alles das als Kunst anzuerkennen, das LateinamerikanerInnen innerhalb oder außerhalb unserer Länder malen, schreiben oder komponieren. 

Was dürfen Sie also darunter verstehen, wenn Sie nun im Folgenden von lateinamerikanischer Kultur oder Kunst lesen? Auf gewisse Art und Weise handelt es sich um kulturelle und künstlerische Ausdrücke, die in Lateinamerika erschaffen werden. Ich sage auf gewisse Art und Weise, denn die Anthropologie hat schon vor geraumer Zeit entdeckt, dass sich kulturelle Produktion und Reproduktion nicht notwendigerweise auf ein bestimmtes Territorium eingrenzen lassen. Die Diaspora und die Möglichkeiten der Kommunikationstechnologie haben die kulturelle Reproduktion außerhalb der „ursprünglichen“ Grenzen bestärkt, so dass sogar viele Bewegungen mit kulturellem Anspruch in Europa geboren sind, um später „repatriiert“ zu werden. Also, wenn Sie nun hier „lateinamerikanische Kultur und Kunst“ lesen, müssen Sie die Produktion von lateinamerikanischen KünstlerInnen, die in Deutschland leben, mitdenken; schließlich benötigt das geografische Bindeglied, auf das ich mich weiter oben bezogen habe, nicht mehr Realität als diejenige, welche die Phantasie zulässt. Arjun Appadurai hat diese Welten als Traumwelten bezeichnet. Und Lateinamerika wird in der Tat an verschiedenen Orten gemalt, geschrieben und komponiert – sowohl in Guayaquil als auch in Barcelona, in Cali wie in London, in Cuzco wie in Köln oder Berlin oder in den virtuellen und sehr lateinamerikanischen Räumen wie dem Internet oder dem Messenger.

  • 1. Symbolische Orte bei Gabriel Garcia Márquez' Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ bzw. bei Juan Rulfos „Pedro Páramo“
  • 2. Setzung des engeren Begriffs für den umfassenderen

Der Autor ist Anthropologe, Musiker und Schriftsteller. Zurzeit promoviert er über den deutschen Schlager als Werkzeug für die Konstruktion eines Heimatgefühls.

Übersetzung: Britt Weyde