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Ein Auge auf Kolumbien werfen

Internationale Karawane zur Unterstützung der kolumbianischen Gewerkschaften

24 kolumbianische Organisationen riefen im Juni zu einer „Internationalen Karawane für das Leben kolumbianischer Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen“ auf. Darunter waren der größte Gewerkschaftsdachverband CUT und viele Einzelgewerkschaften aus dem Lebensmittelbereich, dem Bergbau, dem Bankensektor und dem Öffentlichen Dienst. Auch Menschenrechtsgruppen und Basisorganisationen unterstützten die Initiative. 56 Personen aus neun Ländern, darunter AktivistInnen aus den USA, Italien, Spanien, Großbritannien, Belgien, Deutschland und der Schweiz, reisten nach Kolumbien, um sich vor Ort über die Lage zu informieren. Sie führten Gespräche mit VertreterInnen von Gewerkschaften, politischen und sozialen Bewegungen, aber auch mit der kolumbianischen Regierung und mit Botschaften in Bogotá. In mehrere Gruppen aufgeteilt reisten sie in Konfliktzonen. Aus Deutschland nahmen Beatrix Sassermann, Betriebsrätin bei Bayer in Wuppertal, Marianne Hürten, NRW-Landtagsabgeordnete, und Christine Klissenbauer von Pax Christi Deutschland an der Karawane teil. Wir befragten Beatrix Sassermann und Christine Klissenbauer zu ihren Erfahrungen in Kolumbien.

Bettina Reis

Kolumbien ist aktuell das gefährlichste Land für GewerkschafterInnen. Was heißt das konkret? Welche Eindrücke hattet ihr bei der Reise?

Beatrix Sassermann: Die Lage ist erschreckend. Bei allen Gesprächen wurden uns konkrete Fälle von Verfolgung und Ermordung aktiver GewerkschafterInnen vorgetragen. Wir haben jede Menge Unterlagen mit Daten und Fakten erhalten, die wir gerade aufarbeiten. Bis August sind in diesem Jahr 41 Kolleginnen und Kollegen ermordet worden. Dazu kommen andere Formen der Repression, wie willkürliche Festnahmen, Entführungen, die Bedrohung von Familienangehörigen wie auch die Kriminalisierung von Tarifauseinandersetzungen. Als Beispiel mag die Erdölgewerkschaft USO dienen. Die gesamte Gewerkschaftsleitung wurde von Paramilitärs zum militärischen Ziel erklärt. Die Vertreter der USO werden seit Jahren aber auch von staatlichen Stellen terrorisiert. So stand ihr stellvertretender Vorsitzender Hernando Hernández 14 Monate unter Hausarrest, bis sie diesen mangels Beweisen aufheben mussten. Dabei wurden von so genannten Zeugen, die später ihre Bestochenheit zugaben, Anschuldigungen erfunden, wie Treffen mit der Guerilla in den Bergen, während der Kollege auf Konferenzen in Europa war. Zuletzt wurde der Streik der USO im Mai dieses Jahres für illegal erklärt, 26 führende Gewerkschaftsvertreter wurden entlassen. Die finanzielle Lage der Gewerkschaft ist prekär. (Vgl. ila 276
Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie auf den verschiedensten Ebenen die gewerkschaftliche Organisation untergraben und zunichte gemacht wird, bis hin zur physischen Vernichtung ihrer RepräsentantInnen. Die Behauptung der Regierung, dass sich die Verhältnisse seit ihrem Amtsantritt verbessert hätten, wurde von allen, mit denen wir sprachen, zurückgewiesen. Es ist richtig, dass die Zahl der Ermordungen von Gewerkschaftern zurückgegangen ist. Die Repression hat sich aber eigentlich nur verlagert, auf Angehörige, MitarbeiterInnen, und ist subtiler und selektiver geworden.

Meist verschwindet die spezifische Verfolgung von GewerkschafterInnen in Kolumbien ja im Nebel des Antiterrorkampfes oder wird so legitimiert. Was sind die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe? Gibt es GewerkschafterInnen bzw. -sektoren, die besonders von Repression betroffen sind?

Es versteht sich von selbst, dass in erster Linie Gewerkschaften betroffen sind, die eine kritische Position zur Regierungspolitik oder zu den transnationalen Konzernen haben. Eine zentrale Auseinandersetzung ist der Kampf gegen die Privatisierung der Erdölindustrie und der öffentlichen Versorgung wie Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung. Ausländische Konzerne stehen Schlange, um endlich das kolumbianische Erdölbusiness zu übernehmen. Große Konflikte gibt es auch in Bereichen, wo transnationale Unternehmen tätig sind, wie in der Blumenindustrie, dem Bergbau und der Lebensmittelbranche. Bei den Blumenarbeiterinnen werden seit Jahren immer wieder Gewerkschaftsgründungen zerschlagen, die Initiatorinnen entlassen oder sie können nur im Verborgenen arbeiten. Bei den Nahrungsmitteln mit Konzernen wie Coca-Cola und Nestlé befindet sich die Gewerkschaft Sinaltrainal im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss. Gewerkschaften, die Einkommen und erträgliche Arbeitsbedingungen fordern, werden als Investitionshemmnis im internationalen Wettbewerb betrachtet, das es zu beseitigen gilt. In vielen Fällen haben diese Gewerkschaften Alternativen zur herrschenden Politik erarbeitet, z.B. zur Lebensmittelsouveränität, zur Energiepolitik, zum Finanzsystem, sie treten für eine Agrarreform ein und kämpfen gegen die Freihandelsabkommen. Damit sind sie Opposition zur ultrarechten, neoliberalen, von den USA gestützten Regierungspolitik. Und da ist es bequem, sie in einen Topf mit anderen Oppositionen wie den Guerillas zu werfen und alle zusammen zu Terroristen zu erklären, dann braucht man für die wahren Ursachen der Gewalt und Armut im Land keine Lösungen zu finden.
Es geht bei den beschriebenen Gewerkschaftsauseinandersetzungen zum einen um die unmittelbare Interessenvertretung bezüglich der Arbeitsplätze wie Löhne und Arbeitsbedingungen, die ein würdiges Leben ermöglichen (sollen), die aber zum anderen zwangsläufig die Fragen der großen Politik berühren. Bei den Privatisierungen gehen Arbeitsplätze und die Befriedigung der Grundbedürfnisse der breiten Bevölkerung verloren, die Belastungen steigen, die Löhne sinken. Die internationalen Konzerne ersetzen ihre festen Belegschaften durch prekär Beschäftigte, die sich nach ihrem Willen nicht mehr in Gewerkschaften organisieren können. Coca-Cola hat z.B. im Juli beim kolumbianischen „Sozialministerium“ beantragt, Satzungsbestimmungen der Gewerkschaft Sinaltrainal zu streichen, die die Organisierung von „prekären“ Arbeitnehmern erlauben.

Eure „Karawane“ hat auch die erdölreiche Region Arauca besucht. Im August wurden dort drei Gewerkschafter von der Armee exekutiert. Was ist vorgefallen und was ist der Hintergrund? Was habt ihr dort erlebt? 

Wir Deutsche waren im Rahmen der Karawane nicht in Arauca, sondern hatten uns für Barrancabermeja und Bucaramanga entschieden, da zwei von uns aus dem Chemiebereich kommen und wir gerne die „Erdölhauptstadt“ kennen lernen wollten. Aber ich war vor einem Jahr in der Region Arauca. Nur kurz, aber es reichte, um die unvorstellbare Militarisierung und Spannung wahrzunehmen. Arauca kann man als Labor für Menschenrechtsverletzungen bezeichnen. Amnesty International hat einen ausführlichen Bericht dazu verfasst.1 Das erste, was mich bei der Ankunft in Saravena verblüffte, war, dass die kolumbianischen Soldaten, die uns am Flughafen kontrollierten, als Abzeichen einen Bohrturm der US-amerikanischen Erdölfirma Occidental Petroleum (Oxy) auf der Uniform trugen. Direkt neben dem Flughafen gab es einen US-Militärstützpunkt. Dann dämmerte es mir, in Arauca gibt es Öl und wo Öl ist, scheint es Krieg und US-amerikanische Soldaten zu geben.

Aber es gibt in Arauca auch eine starke soziale Bewegung, die große Risiken auf sich nimmt. Viele AktivistInnen waren schon verhaftet oder umgebracht worden. Gewerkschaftsbüros mit Einschusslöchern standen seit einiger Zeit leer. Seit der Verabschiedung des Antiterrorstatuts Ende Dezember 2003, das aber noch nicht in Kraft getreten war und Anfang September dieses Jahres vom kolumbianischen Verfassungsgericht für nicht verfassungskonform erklärt wurde, haben nichtsdestotrotz willkürliche Festnahmen, Bespitzelungen und Gewalttaten seitens des Militärs zugenommen. Die Grenzen zwischen Paramilitärs und staatlichem Militär sind außerdem fließend. In diesem Kontext werden am 5. August drei Gewerkschaftsführer – einer davon ist ein historischer Bauernführer – vom Militär ermordet. Es handelte sich dabei um Soldaten der 
18. Brigade, die von den USA zum Schutz der Erdölanlagen und zur Aufstandsbekämpfung ausgebildet und finanziert wird. Obwohl der offiziellen Version, dass die drei Gewerkschafter schießend im Kampf gefallen seien, sofort von Zeugen widersprochen wurde, hatte der oberste Menschenrechtsbeauftragte und Vizepräsident Kolumbiens nichts Besseres zu tun, als diese Version in der Öffentlichkeit zu stützen. Erst einen Monat später, nachdem es massenhaft in- und ausländische Proteste gehagelt hatte und die Staatsanwaltschaft diese Darstellung für substanzlos erklärt und Haftbefehle für drei Soldaten und einen Spitzel ausgestellt hatte, gab Vizepräsident Santos seinen „Irrtum“ zu. Die Wahrheit ist, dass die drei Gewerkschafter, wehrlos im Schlaf überrascht, vor ihren Mördern noch auf die Knie fallen mussten, bevor sie vom Militär exekutiert wurden.

Die deutsche Delegation bestand aus drei Frauen. Wie seht ihr die Situation aus Frauenperspektive? Einerseits richtet sich die Repression in Kolumbien auch direkt gegen engagierte Gewerkschafterinnen, andererseits sind Frauen auch betroffen, wenn ihre Männer dauernd bedroht sind und sie damit rechnen müssen, dass sie umgebracht werden...

Christine Klissenbauer: Beides ist in Kolumbien der Fall. Dem Bericht der Gewerkschaftsbildungs- einrichtung Escuela Nacional Social (ENS) zu den Jahren 2001 bis Dezember 2003 entnehmen wir eine zunehmende Repression gegen Gewerkschaftsfrauen. Im Jahr 2002 wurden 20 Frauen ermordet und 2003 waren es bereits 27 Frauen. Besonders stark nahmen die Todesdrohungen gegen Gewerkschafterinnen zu. Waren es sechs Frauen, die 2002 mit dem Tode bedroht wurden, so steigerte sich die Zahl im Jahr 2003 auf 104. In diesem Jahr wurden acht Gewerkschaftsfrauen verhaftet, zwei Frauen wurden gewaltsam entführt und 42 Frauen aus ihrem Lebensbereich vertrieben. Die Summe der Menschenrechtsverletzungen an Gewerkschafterinnen belief sich 2003 auf 194. In diesem Jahr, so wurde uns berichtet, trifft die Bedrohung vor allem Lehrerinnen, Anwältinnen und Dozentinnen, die gewerkschaftlich organisiert sind. 
Die gegen Frauen gerichtete Gewalt hat eine weitere schwerwiegende Bedeutung. In ihrer sozialen Rolle sind Frauen nicht nur für ihr eigenes Leben verantwortlich, sondern für ein ganzes Familiengeflecht. Das Wohl und Wehe ihrer Kinder, die Integrität der Familie hängt weitgehend von den Frauen ab. Somit ist ein Angriff auf sie gleichzeitig gegen ihre Kinder, gegen ihre Familie und deren Schicksal gerichtet. Es kann nachgewiesen werden, dass die Gegner dies bewusst mit einkalkulieren und besonders perfide Formen der Bedrohung und Einschüchterung gegenüber Gewerkschaftsfrauen anwenden.
Wir haben auch Zeugenberichte von Frauen gehört, deren gewerkschaftlich organisierte Männer teilweise vor ihren Augen verschleppt und später ermordet wurden, die zutiefst traumatisch belastet sind und ihre Kinder ebenfalls, vor allem, wenn der Mord an dem Vater vor ihren Augen geschah. Die Last, die den betroffenen Frauen und Müttern aufgebürdet ist, die Alleinsorge für die Kinder und der ungesicherte Unterhalt gehen oft weit über ihre Kräfte.

Der Gewerkschaftsdachverband CUT hat Anstrengungen unternommen, mehr auf ILO-Ebene tätig zu werden. Welche Möglichkeiten gibt es?

B.Sassermann: In der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) wird seitens der Gewerkschaftsvertreter schon seit Jahren versucht, Kolumbien wegen der Menschen- und Gewerkschaftsrechtsverletzungen zu sanktionieren und eine Untersuchungskommission ins Land zu entsenden. Dies ist in der drittelparitätischen Organisation bisher immer an den Stimmen von Regierungsvertretern und Arbeitgebern gescheitert. Warum die Bundesregierung der Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht zustimmen konnte, ist mir unverständlich, da das Unrecht an sich überhaupt nicht bestritten wird. Es gelingt der kolumbianischen Regierung anscheinend immer wieder sich als neutrale Instanz darzustellen, die keine Kontrolle im Land habe. Diese Darstellung ignoriert völlig die Abwesenheit rechtsstaatlicher Prinzipien, die zu Unrecht Inhaftierten, die enorme Straflosigkeit von über 90 Prozent der Verbrechen an Gewerkschaftern und die Beteiligung staatlicher Einrichtungen an den Verbrechen, wie zuletzt in Arauca. Daher müssen die Bemühungen auf der institutionellen Ebene aus meiner Sicht durch konkrete Maßnahmen internationaler Solidarität begleitet werden.

Internationale Solidarität tut not... Was läuft im Bereich internationaler – konkret: deutscher – Gewerkschaftssolidarität mit Kolumbien? Sind die Probleme in Kolumbien für die deutschen KollegInnen weit weg oder gibt es Sensibilität, konkrete Aktionen?

Natürlich sind die Probleme in Kolumbien für die deutschen KollegInnen weit weg, außerdem sind sie noch sehr komplex. Dennoch hat erfreulicherweise seit gut einem Jahr so eine Art Aufbruch in der Solidarität mit kolumbianischen Gewerkschaftern stattgefunden. So hat z.B. die NGG (Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten) im Saarland einen kolumbianischen Gewerkschaftskollegen der Sinaltrainal als Ehrenmitglied aufgenommen, der DGB eine kolumbianische Delegation nach Deutschland eingeladen, Verdi den Boykott von Coca-Cola auf ihrem Gewerkschaftstag beschlossen, auf dem auch eine kolumbianische Gewerkschafterin gesprochen hatte. Auch an der Basis und in Sozialforen gibt es eine Reihe von Aktivitäten. 
Aber natürlich gibt es noch viel zu tun und ganz viele Ideen, die zu präsentieren hier den Rahmen sprengen würde. Erwähnen möchte ich nur die angedachte Fortsetzung der Karawane, die Broschüre „Ein Auge auf Kolumbien werfen“, die von Marianne Hürten erstellt wird, und die Rundreise des internationalen Sekretärs der Gewerkschaft Sinaltrainal im Oktober. Die Menschenrechte dürfen nicht wirtschaftlichen oder politischen Interessen geopfert werden. Wichtig ist, dass wir in unseren Ländern dafür sorgen, dass Unrechtsregime nicht unterstützt werden. Die kolumbianische Regierung ist nicht hilflose, unbeteiligte Partei in einem 40 Jahre andauernden Konflikt, sondern ist durch Duldung und Unterlassung mitverantwortlich für unglaubliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die kolumbianischen Kolleginnen und Kollegen schreiben im Aufruf zur Karawane, dass sie das Recht haben an der weltweiten Diskussion über eine mögliche andere Welt teilzunehmen, dass sie aber dafür am Leben sein müssen. Ich glaube, dem ist nur zuzustimmen und nichts mehr hinzuzufügen.

  • 1. Amnesty International: Colombia – A Laboratory of War. Repression and Violence in Arauca. April 2004, AI Index: AMR 23/004/2004 (http://web.amnesty.org/library/index/ENGAMR230042004) – Spanische Fassung: AI: Colombia – Un laboratorio de guerra: Represión y violencia en Arauca. AI Index: AMR 23/004/2004

Beatrix Sassermann ist Betriebsrätin bei Bayer in Wuppertal und Mitglied des BaSo-Chemiekreises (Basis Initiative Solidarität) und des Internationalen Solidaritätsnetzwerkes (ISNRSI). Christine Klissenbauer hat als Friedensarbeiterin von Pax Christi Deutschland in der Erdölstadt Barrancabermeja gearbeitet und ist in der Kolumbien-Menschenrechts- und Solidaritätsarbeit engagiert. Die schriftlichen Fragen stellte Bettina Reis.