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Politisch war mein Leben durch die Familie vorbestimmt

Interview mit Charlotte Janka

Nicht wenige Kommunisten und Kommunistinnen, die den Faschismus im lateinamerikanischen Exil überlebt hatten und später nach Europa zurückkehrten, um am Aufbau des Sozialismus in ihren Heimatländern mitzuwirken, wurden später in diesen sozialistischen Ländern verfolgt. In den Lebenswegen hatten wir vor zwei Jahren die Schriftstellerin und Mexico-Emigrantin Lenka Reinerová vorgestellt, die mehrere Jahre in der Tschechoslowakei im Gefängnis saß und nach 1968 Publikationsverbot hatte. In der DDR gerieten u.a. der nach Bolivien emigrierte Paul Bender, sowie die Mexico-Emigranten Paul Merker und Walter Janka zu unterschiedlichen Zeiten ins Visier der Staatssicherheit. Opfer dieser Hexenjagden wurden nicht nur die Betroffenenen, sondern auch ihre Familien. Charlotte Janka, selbst seit den späten zwanziger Jahren in der kommunistischen Bewegung aktiv und Emigrantin in Frankreich und Mexico, empfand die Verhaftung und Verfolgung ihres Mannes in der DDR als tiefe  schmerzhafte Zäsur, die einen Schatten über ihr Leben legte . Charlotte Janka lebt heute, 85-jährig, in Kleinmachnow bei Berlin, wo Ulrike Schätte mit ihr sprach.

Ulrike Schätte

Frau Janka, Sie wurden 1914 in Berlin geboren. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit und Jugend?

Ich bin in Prenzlauer Berg geboren. Wir hatten ein Laubengrundstück, wie das früher üblich war. Das war eine sehr wichtige Sache, mein Vater hat viele Dinge im Garten gemacht, hat Bäume veredelt und alles Mögliche. Wir – meine ältere Schwester und ich – hatten schon als Kinder eigene Beete und sind sehr früh mit Pflanzen und Blumen in Kontakt gekommen. Zeitweilig hatten wir Kaninchen, auch mal einen Hund und natürlich Katzen.
Meine Eltern stammten aus Niederschlesien. Mein Vater hatte dort im Bergwerk als Schlosser gearbeitet. Der große Bergarbeiterstreik 1906 war der Beginn seiner politischen Teilnahme an den Ereignissen der Zeit; er ist dann über die SPD, USPD und den Spartakusbund in die KPD gekommen. Deshalb muss ich sagen, dass politisch mein Leben durch die Familie vorbestimmt war. Auch meine Schwester nahm den gleichen Weg. 1919, in der Revolution, war mein Vater ein paar Tage verschwunden. Wir machten uns große Sorgen, doch dann erschien er nach etlichen Tagen am Ende der Straße – ich war damals vier Jahre alt, konnte gerade über die Brüstung vom Balkon schauen und sah ihn von der Straßenecke her kommen – mit einem Kommissbrot unterm Arm und wir waren sehr glücklich. Er war als Kämpfer an einer überrannten Barrikade festgenommen und in die Maikäferkaserne im Wedding gebracht worden. Sie sollten natürlich alle an die Wand gestellt werden, wie das so üblich war. Die Reichswehr machte damals kurzen Prozess mit den Leuten. Aber irgendwie hatten er und einige seiner Gefährten Glück. Man ließ sie laufen.
Ich war nicht mal elf Jahre alt, als meine Mutter starb. Das war natürlich ein ganz schmerzliches Ereignis in meinem Leben. Ich hatte dann zwei Stiefmütter. Eine, die nach ein paar Jahren starb, war das, was man eine böse Stiefmutter nennt. Die zweite kannte ich schon von Kindheit an, da sie auch mal im selben Haus gewohnt hatte. Aber, um es kurz zu machen, als ich achtzehn war und die Schule beendet hatte, ging ich ins Ausland. Das war 1932. Abitur zu machen war damals nicht mehr im Bereich des Möglichen und zu studieren schon gar nicht, so habe ich eben nur die Mittlere Reife gemacht und dann zwei Jahre die Höhere Handelsschule besucht. Ich war über die Schweiz nach Frankreich gegangen und lebte bis Ende ‘32 in Paris. Dort habe ich im Wesentlichen mein Schulfranzösisch zu einem wirklichen Französisch umwandeln können. Als ich Ende 1932 wiederkam, gab es in Deutschland  Schlägereien, Morde und Großveranstaltungen, bei denen es zu Toten kam. Und nach dem 30. Januar 1933 war das Leben sofort ein anderes.

Wann sind Sie politisch aktiv geworden?

Ich war in der Pionierorganisation und anschließend im kommunistischen Jugendverband. In den Jugendverband konnte man erst mit 18 Jahren, 1933 hatte ich dort eine leitende Funktion; die erste Hausdurchsuchung war bei uns schon vor den Wahlen vom März 1933. Es dauerte nicht lange, bis meine Schwester verhaftet wurde. Sie wurde dann in Leipzig verurteilt, saß in Bruchsal im Gefängnis und wurde erst 1935 aus der Haft entlassen. Meinen Vater holte die SA ab. Er kam in das berüchtigte Stadtgefängnis von Pankow, das in den Händen der SA war. Dann wurde auch ich verhaftet, aber nur für kurze Zeit, ich war ja schließlich erst 19 Jahre. Dennoch war abzusehen, dass dieser ersten Verhaftung weitere folgen würden auf Grund meiner politischen Tätigkeit und es besser wäre, Deutschland zu verlassen. Aber ich wollte zuvor meinen Vater noch einmal sehen. Da steckte ich mir die Papiere meiner Stiefschwester ein und ging mit meiner Stiefmutter Nummer zwei nach Pankow in dieses SA-Gefängnis, um meinen Vater zu besuchen. Es war ein schrecklicher Eindruck zum Abschied für mich: Wir hatten ihm frische Wäsche mitgebracht. Als er sich auszog, sahen wir, dass er von oben bis unten schwarz geschlagen war.

Wie lange blieb Ihr Vater im Gefängnis?

Noch etliche Monate. Er war ein angesehener und geachteter Mann, es haben sich viele Leute für ihn eingesetzt, offenbar auch einflussreiche Leute, die ich kaum kannte. Er kam dann irgendwie aus dem Gefängnis raus und fand später auch Arbeit. Ich habe ihn während der Emigrationszeit einmal im Saargebiet wiedergesehen. Leider hat er das Ende der Nazibarbarei nicht erlebt, sondern ist im Juli 1944 elend an Magenkrebs gestorben. Das war für mich sehr betrüblich, er wusste auch nicht, wo ich war, und das hat ihn bis an sein Lebensende sehr beschäftigt. Ich hatte einfach Sorge, ihm über das Internationale Rote Kreuz zu schreiben. Meine Schwester, die nach langen Umwegen in schwedische Emigration gelangt war, hatte bis zu seinem Tod Verbindung mit ihm, aber die wusste auch nicht, wo ich war.

Wie ist Ihre Flucht aus Deutschland verlaufen?

Da ich noch eine Carte d‘identité für zwei Jahre hatte, beschloss ich, nach Paris zu reisen. Das war aber gar nicht so einfach; ich floh zwischen zwei Terminen, an denen ich mich bei der Polizei melden musste. Freunde brachten mich weit außerhalb Berlins zum Zug. Über Stuttgart und den Bodensee fuhr ich zunächst in die Schweiz. Ich erinnere mich, dass ich in Stuttgart bei einem Künstlerehepaar untergebracht war. Er war Schauspieler und sie Sängerin. Sie hat mich damals in den Schlaf gesungen, das werde ich nie vergessen. Am Bodensee – das lief auch über Kontakte der Kommunistischen Partei – fand ich erst einmal Aufnahme bei einem Maler am Untersee. Er war verwitwet und lebte zusammen mit einem großen Sohn und einer Schwiegertochter. Im Sommer vermietete er an Feriengäste. So fiel es gar nicht auf, dass ich dort eine Woche verbrachte. Er war jeden Tag auf dem Bodensee mit seinem Boot unterwegs, um zu malen, und den Zollbehörden, die ja ständig auf dem Bodensee kreuzten, bekannt. Eines Morgens setzte er den Reichstagsabgeordneten Hans Schröter, der später mit uns auch in Mexico war, und mich in einem Boot auf die Schweizer Seite über. Dort fuhren wir mit einem Bähnchen weiter. Das war nicht ganz unproblematisch, denn die Bahngleise gingen durch verschiedene deutsche Enklaven. Es war ganz merkwürdig, dass wir immer wieder auf deutschen Boden kamen, aber es passierte nichts. Von Schaffhausen wurde ich dann nach Basel vermittelt. Dort brachte ich etliche Monate zu. Illegal, weil die Schweizer Behörden die Leute sofort wieder auswiesen (vgl. Nachruf auf Nelly Meffert in ila 229). Ich wohnte dort bei einer Frau, die bis zum Tode meine Freundin blieb. Außerhalb durfte ich kein deutsches Wort sprechen. Ich sprach  Französisch, weil man in der Schweiz sofort am Deutsch erkannte, dass man Reichsdeutsche war. Schwytzerdütsch kann man nicht so im Handumdrehen lernen. Von Basel kam ich dann nach Paris, wo ich bis 1934 lebte. Dann gingen wir ins Saargebiet. Die Deutsche Volkszeitung, deren Chefredakteur mein damaliger Lebensgefährte Lex Ende war, erschien in Saarbrücken. (Das Saarland stand seit 1920 unter der Oberhoheit des Völkerbundes und kam erst nach einer Volksabstimmung 1935 an das Deutsche Reich zurück – die Red.)

Haben Sie auch für die Deutsche Volkszeitung gearbeitet?

Nein, im Prinzip nicht, nur gelegentlich mal ausgeholfen. Wir hatten dort eine möblierte Wohnung bei ziemlich reaktionären Leuten. Bei ihnen hing ein Hitlerbild an der Wand und natürlich Hindenburg und alles Mögliche. Vor der Saarabstimmung wimmelte es von Agenten aus Nazideutschland und anderen Ländern. Ein richtiger Hexenkessel. In dieser Zeit waren wir sehr befreundet mit Gustav Regler. Das änderte sich später auf Grund  politischer Differenzen. (Regler sagte sich Ende der dreißiger Jahre von der KPD los – die Red.) Aber in der Saarabstimmung spielte er eine wichtige Rolle, da er als Saarländer einer der wichtigsten Referenten auf den Versammlungen für den Status Quo war (d.h. gegen den Anschluss an Nazideutschland. Ein Bündnis von SPD, KPD, fortschrittlichen Intellektuellen und einigen antifaschistischen KatholikInnen warb unter der Losung „Schlagt Hitler an der Saar“  für den Verbleib des Saarlands unter dem Völkerbundsmandat, solange die Nazis Deutschland beherrschten – die Red.). Es war nicht abzusehen, dass es ein solches Fiasko werden würde. (Bei der Abstimmung 1935 stimmten über 90 Prozent der SaarländerInnen für den Anschluss an Deutschland – die Red.)
Ich ging schon vor der Saarabstimmung nach Paris zurück, weil ich dann für die Gewerkschaftsinternationale arbeitete, und zwar die Internationale der Bergarbeitergewerkschaften. Mein Unglück in Frankreich begann damit, dass ein KPD-Funktionär in Strasbourg verhaftet wurde und in seinem Notizbuch meine Adresse stand. Also musste ich bei Nacht und Nebel aus dem Hotel verschwinden. Wir lebten dann eine Zeitlang illegal bei  Franzosen. Ich hatte vorher schon Schwierigkeiten, denn Lex Ende war illegal und lebte mit falschen Papieren. Man durfte sich nur drei Monate in Frankreich aufhalten ohne endgültige Papiere zu bekommen. Also waren wir gezwungen, alle drei Monate umzuziehen. Für die französische Fremdenpolizei sah das natürlich so aus, dass ich nach drei Monaten einen anderen Mann hatte, denn ich blieb immer unter meinem Namen. Das musste eines Tages schief gehen. Als diese Geschichte in Strasbourg passierte , wurde es für mich bedrohlich. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde ich aus Frankreich ausgewiesen und sollte an die deutsche Grenze gestellt werden. Dass mir das erspart blieb, hat André Simone, d.h. Otto Katz, auf Grund seiner guten Beziehungen zu französischen Politikern erreicht. (Der aus Prag stammende Otto Katz/André Simone wurde 1952 in der Tschechoslowakei im berüchtigten Slansky-Prozeß als angeblich britisch-zionistischer Agent zum Tode verurteilt und hingerichtet – die Red.)  Ich wurde aus Paris ausgewiesen und bekam Zwangsaufenthalt. Ich wählte Saint Malo. Kurz bevor die Nazis Belgien und Holland überfielen, wurde ich dort auf Grund einer Denunziation verhaftet und quer durch Frankreich in das Frauenlager Rieucros im Massif Central gebracht. Ich hatte Glück, ich kam im April 1940 nach Rieucros und bekam Ende Oktober 10 Tage Urlaub, um mein mexicanisches Visum abzuholen. So blieb mir der harte Winter erspart. Von den anderen weiß ich, dass es so kalt wurde, dass das Wasser in den Baracken gefror, denn Rieucros lag 1000 Meter hoch. Es war schon im Sommer kein Vergnügen, aber der Winter muss schrecklich gewesen sein. Ich war nur kurze Zeit in der allgemeinen Baracke, wo sehr unterschiedliche Frauen waren, von Prostituierten bis zu Frauen, die als Spioninnen verdächtig waren. Ich kam schnell in die politische Baracke und tat mich dort mit Hilda Madalena zusammen, die damals so etwas wie meine mütterliche Freundin war. Ihr Mann saß im Zuchthaus Brandenburg, sie hat ihn nicht mehr lebend wiedergesehen. Hilda kam später auch nach Mexico.
Als ich im Oktober die zehn Tage Urlaub bekam, bin ich nicht wieder ins Lager zurückgekehrt. So einfach wollte ich meine Freiheit nicht aufgeben. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sie mich eines Tages in Marseille wieder verhafteten und ins Auswandererlager Bompard sperrten. Das war ein ziemlich heruntergekommenes kleines Hotel und sah eigentlich nach einer Absteige aus, ganz in der Nähe der Canebière, der Hauptstraße von Marseille. Die Betreiber waren aus Nordafrika, sehr unangenehme Leute, aber man konnte am Tag rausgehen, weil das Auswandererlager dazu bestimmt war, dass man seine Botengänge erledigte zu den Botschaften, Konsulaten usw. Ich hatte eine französische Freundin, die ich dort  kennengelernt hatte, eine Professorin. Sie hat so lange bei der Polizei interveniert, bis sie erreichte, dass ich freikam und bei ihr wohnen konnte.
Lex Ende war zu der Zeit der Beauftragte der KPD für Marseille und das ganze Gebiet. Ich habe fast ein Jahr legal gelebt, aber illegal gearbeitet. Ich hielt die Verbindung zu den Behörden und Parteien, denn wir hatten eine Menge illegale Leute, die versorgt werden mußten. Ohne Lebensmittelkarten gab es 1941 überhaupt nichts mehr. Meine Aufgabe war unter anderem herumzufahren und gestohlene oder gefälschte Lebensmittelkarten sowie Lebensmittel für die Illegalen zu besorgen. Die Bereitschaft der Franzosen zu helfen war doch groß.
Bei diesen Aktivitäten lernte ich meinen späteren Mann Walter Janka kennen, er war sozusagen mein Schützling. Walter hat drei Monate am Strand geschlafen oder im Wald. Das machten damals viele Flüchtlinge. Erstens war es eine Geldfrage und zweitens wurden die Hotels jeden Morgen um sechs von der Fremdenpolizei durchkämmt. Da konnte niemand  wagen, illegal zu wohnen. Man kann sich nach der langen Zeit überhaupt nicht vorstellen, was das für eine beklemmende und furchtbare Situation war. Man sah den Hafen, das Meer, die Schiffe und hatte keine Möglichkeit wegzukommen. Vor allem war es eine Geldfrage. Die Überfahrten waren zwar miserabel, aber man verlangte kräftige Dollarsätze dafür, unten im Laderaum einen Platz zu bekommen. Wir hatten natürlich auch kein Geld für die Überfahrt, die amerikanischen Hilfskomitees brachten die Gelder auf.
Ich sage immer,  dass Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“ ein gutes Bild der damaligen Situation in Marseille gibt. Aber das wirkliche Elend zu beschreiben, das Elend der Menschen, die kein Geld hatten und übrig blieben, das konnte auch Anna Seghers nicht. Auch wir konnten es nicht, denn wir sind im Oktober ‘41 abgefahren. Da war Marseille immer noch unbesetzte Zone. Die Nazis waren zwar präsent, sie kontrollierten die Ein- und Ausfahrt der Schiffe und man konnte die SS-Offiziere in den eleganten Hotels auf der Cannebière sitzen sehen. Aber es war noch nicht jede Möglichkeit abgeschnitten, sich ins Hinterland zu retten. Natürlich hat es auch Franzosen gegeben, die das Risiko auf sich nahmen, Leute zu verstecken. Aber ich würde sagen, das war doch nur eine begrenzte Zahl.

Wie kamen Sie zu einem mexicanischen Visum?

Ich habe überhaupt nichts dazu getan, aber ich hatte Glück. Lex Ende hatte auch ein Visum, aber er war der Meinung, solange Franz Dahlem und so viele Leute in Auslieferungshaft sind, verläßt er Frankreich nicht. Er ist das Risiko eingegangen. Für Walter war die Sache mit dem Visum klar. Als Spanienkämpfer hatte er auf Grund des Abkommens zwischen der spanischen Gewerkschaft und der CTAL – Confederación de Trabajadores de América  Latina – Anspruch darauf, nach Mexico zu kommen. (Die mexicanische Regierung unter Präsident Lázaro Cárdenas hatte massiv die spanische Republik unterstützt, nach dem Sieg der Franco-Faschisten erklärte sich Mexico zur Aufnahme der KämpferInnen der Internationalen Brigaden bereit – die Red.) Die anderen, die Visa erhielten, standen auf Listen der mexicanischen Regierung. Bei deren Zustandekommen spielte Toledano (damals einflußreicher Vorsitzender der CTAL – die Red.) eine große Rolle und auch Deutsche, die bereits in Mexico waren.

Und wer hat die Leute ausgesucht?

Das kann man heute nicht mehr feststellen. Ich denke die damalige politsche Leitung und die Flüchtlingskomitees in Amerika. Man hat  natürlich Leute ausgesucht, die besonders  gefährdet waren, darunter viele Schriftsteller und Publizisten.

Wie war die Überfahrt nach Mexico?  

Die ist gut abgelaufen, da das Wetter so war, dass man oben an Deck schlafen konnte. Wir fuhren ab Casablanca auf der Serpa Pinto, einem portugiesischen Schiff. Die Portugiesen haben uns Flüchtlinge wie den letzten Dreck behandelt – in Portugal herrschte das Salazar-Regime (faschistische Diktatur – die Red.). Wir hatten zwei Todesfälle an Bord. Erst ein Passagier, von dem ich nicht weiß, welcher Nationalität er war und dann ist Herbert Firl, ein deutscher Kommunist und Spanienkämpfer, kurz vor Havanna gestorben. Das war natürlich traurig.

Sie sind nach Zwischenstopps auf den Azoren, Bermudas, Santo Domingo und Cuba kurz vor Weihnachten 1941 in der mexicanischen Hafenstadt Veracruz angekommen?

Ja, und da wartete auch Gustav Regler auf seine Parteifreunde. Dort habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Er hat mir nur einen vernichtenden Blick zugeworfen.

Das heißt, die Differenzen hatten schon in Frankreich angefangen?

Die haben in Spanien mit dem Ende des Krieges begonnen. Wir waren so befreundet gewesen, das war schlimm. Jeanne Stern (vgl. Lebenswege in ila 212) hat es bis zu ihrem Tod bedauert, dass sie sich an das Verbot der Parteiorganisation gehalten hat. Kein Kontakt – obwohl sie ganz eng befreundet waren. Paul Merker (Mitglied des Politbüros der KPD und Leiter der KPD-Gruppe in Mexico – die Red.) war in dieser Hinsicht streng.

Sie hatten in Mexico ja auch eine Parteigruppe, wie ging es da zu?

Als Merker kam, beanspruchte er als Politbüromitglied natürlich sofort die Leitung der Gruppe. Es gab politische Auseinandersetzungen und einige Ausschlüsse.

Aber Sie sind zu den Versammlungen gegangen?

Ja, natürlich, alle kamen. Die Treffen fanden so alle drei, vier Wochen statt. Wir waren eine ziemlich große Gruppe, etwa 60 Personen. Das Sagen hatte neben Merker auch eine gewählte Leitung.

Es ist nachzulesen, dass es auf Grund der Entfernung zur SU in Mexico zu sehr eigenständigen Diskussionen in der kommunistischen Parteigruppe kam.

Ja, das stimmt, zum Beispiel in der Frage der Wiedergutmachung an den Juden waren wir die ersten, die diese Frage aufgeworfen haben. Das ist dann  Merker um die Ohren gehauen worden, als sie ihn in der DDR eingesperrt haben.

Was haben Sie beruflich in Mexico gemacht?
 
Ich habe in einem französischen Pharmaunternehmen gearbeitet. Zunächst als Aushilfe. Daraus wurde später eine Dauerstellung. Walter hat immer gesagt: „Das Geld hat meine Frau verdient.“ Die Stelle musste ich 1946 kündigen, als die Leitung der Parteiorganisation weg war und Walter neuer Leiter der Gruppe wurde und die Verantwortung für die restlichen Leute übernehmen musste. Ich half ihm dabei.

Sie bzw. Ihr Mann haben einmal gesagt, Mexico gehöre zu den besten Jahren ihres Lebens.

Das stimmt. Ich zitiere immer das mexicanische Sprichwort: „Como México, no hay dos.“ (Wie Mexico gibt es keine zwei)  Es ist wirklich so, dass im Unterschied zu anderen Emigrationsländern Mexico uns alle Chancen und Möglichkeiten eröffnete. Wir haben fünf Jahre lang keine Papiere bei uns haben müssen, nie hat uns ein Mensch gefragt: „Wer bist denn du?“ Natürlich gibt es in der Geschichte Mexicos ganz andere Zeiten, aber zu unserer Zeit war es so. Ich bin sehr froh, dass wir 1993 bei einem Aufenthalt in Mexico Gilberto Bosques (bis 1942 mexicanischer Generalkonsul in Marseille, vgl. Lebenswege in ila 172) noch erlebt haben, denn er hat wirklich vielen, vielen Menschen das Leben gerettet. Und dass das Schicksal ihm gestattet hat, so alt zu werden, ist ein Geschenk des Himmels, wenn man so sagen kann. (Bosques starb 1995 im Alter von 102 Jahren, vgl. auch Nachruf in ila 188)

Haben Sie nach dem Ende des Krieges überlegt, in Mexico zu bleiben?

Nein. Wir haben immer spaßhaft gesagt: “Wir sind nicht freiwillig aus Deutschland weggegangen, man hat uns verjagt.  Man kann Deutschland ohne unsere Hilfe nicht aufbauen.” Das war natürlich mehr als Scherz gesagt. Aber wir wollten es wissen.

Aber damals haben Sie doch im Ernst gelaubt, dass Deutschland dringend Hilfe braucht.

Wir haben das natürlich im Ernst geglaubt. Natürlich nicht, dass es ohne unsere Hilfe nicht ginge. Aber wir haben Hoffnung in Deutschland gesetzt. Am Anfang sah es ja so aus, aber dann wurde man sehr bald enttäuscht. Ich muss ehrlich sagen, ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte,  wenn ich in die Zukunft hätte sehen können... Auf alle Fälle wäre Walter Bautzen (berüchtigtes Gefängnis in der DDR) erspart geblieben. Und Bautzen ist eine Sache, die mit den Jahren... Man sagt immer, die Zeit heile alle Wunden. Das stimmt nicht. Je mehr Jahre vergingen, desto verbitterter bin ich darüber geworden, dass man unser Leben zerstört hat und dass das Gros der Menschen – viele waren viel zu intelligent, um zu glauben, was man Ihnen erzählte, aber haben es doch hingenommen – sich schändlich verhielten.

Sie sind 1947 mit einem sowjetischen Frachtschiff über die SU nach Berlin zurückgekehrt. Wie hat die Stadt auf Sie gewirkt und mit welchen Gefühle sind Sie den Menschen begegnet?

Sehr misstrauisch und mit gespaltenen Gefühlen, muss ich sagen. Natürlich hat die Zerstörung auch eine Rolle gespielt. Doch 47 war ja nicht 45, es war manches schon anders. Das Leben war geregelter, als es bestimmt 45 noch war. Aber ein Problem waren die Menschen. Wenn einem jemand begegnete, fragte man sich, was hat er in der Zeit gemacht. Ich erinnere mich, dass Grete Merker und ich – wir wohnten damals beide in Friedrichsfelde – fast auf einer Kartenstelle von den Frauen gelyncht worden wären. Ich weiß nicht mehr, wie es zu dieser Diskussion kam, jedenfalls haben Grete Merker und ich gesagt: “Die Zeiten sind vorbei, wo man sich Pakete schicken lassen kann aus dem besetzten Frankreich und anderswo.” Es entstand eine ganz brenzlige Lage für uns beide. Sie wären am liebsten über uns hergefallen.

Weil die Frauen in dem Moment gewusst haben, dass Sie im Exil waren?

So ist es. Und weil bestimmt unter denen, die wir mit den Worten ja angegriffen haben, auch Leute waren, die wirklich profitiert haben, denn es war ja keine Seltenheit, dass man in Haushalten Garn und vieles mehr mit einer französischen Aufschrift gesehen hat. Sie haben doch die besetzten Länder leergekauft.
Eine andere Frage, die immer wieder auftauchte, war die Vergewaltigung von Frauen beim Einmarsch. Ich habe damals bald im Parteiapparat in der Presseabteilung gearbeitet und hatte  dort mit vielen Frauen Kontakt, denen das Schicksal auch das bereitet hatte. Wenn die Frauen zu den Kommandaturen gingen und sich beschwerten, sagten die Russen teilweise: “Nun habt euch mal nicht so.” Tatsache ist aber auch, dass die Elitetruppen, die als erste eingerückt sind, keine Frauen angerührt haben. Wir sehen das auch in den heutigen Kriegen, jetzt vergewaltigen die Albaner serbische Frauen, vorher haben die Serben albanische Frauen vergewaltigt. Für mich als Frau ist es überhaupt ein Phänomen, dass Männer so zu Bestien werden und sich ausgerechnet immer an den Schwächsten vergreifen. Ich denke aber auch an die furchtbaren Greuel in Kroatien, wo systematisch muslimische Frauen vergewaltigt wurden. Irgendwie übersteigt es mein Vermögen, nachzuvollziehen, dass sich jemand so in eine Bestie verwandelt. Aber der Krieg ist eben mal so.

Wie lange haben Sie in der Pressestelle gearbeitet?

Bis mein Sohn geboren wurde. Er kam 1948 auf die Welt. Danach habe ich ausgesetzt und  praktisch nur noch einmal ein paar Monate gearbeitet. Dann war Schluss. Das ist ein Problem, was meinem Mann immer vorgeworfen wurde, dass er der Meinung war, einer müsse sich opfern und für die Kinder da sein. Meine Schwester, die so ein bisschen Emanze war, hat sich mit ihm immer gestritten und gesagt: „Ich finde es unerhört, dass du ihr jede Berufschance vermasselst und sie zu Hause bleiben muss.” Ich habe das aber nicht so gesehen. Wenn ich daran denke, dass später, zwischen 1956 und 1960,  schlimme Dinge auf die Kinder zugekommen sind, bin ich im nachhinein noch dankbar, dass ich zu Hause geblieben bin.

1950 wurde Paul Merker wegen angeblicher Spionage aus der SED ausgeschlossen und in einem Geheimprozess zu langjähriger Haft verurteilt. Auch Ihr ehemaliger Mann, Lex Ende, geriet als „Westemigrant" ins Visier der Stasi und nahm sich das Leben. Wie haben Sie diesen Ereignissen damals gegenübergestanden?
 
Sehr ablehnend, vom ersten Tag an. Im Grunde genommen waren das die Anfänge, um den großen Prozess vorzubereiten, zu dem es ja in der DDR letztlich nicht kam. Wohl aber in Polen, der Tschechoslowakei, Bulgarien, es gab ja genügend. Und dann war eben die DDR dran.  Wir haben das vom ersten Moment an sehr bewusst wahrgenommen. Außerdem waren wir diejenigen, die zu Grete Merker nach Luckenwalde gefahren sind, zu einer Zeit, in der es nicht ungefährlich war, denn die Stasi hat das bestimmt verfolgt. Wir haben Paul Merker erst einmal einen Anwalt besorgt, d.h. seiner Frau, sie musste ja ihre Unterschrift geben. Wir als Außenstehende hätten von den Behörden überhaupt keine Auskunft bekommen, und so hat sie nach Monaten der Ungewissheit durch den Anwalt überhaupt feststellen können, wo ihr Mann war.
Es ist ein ganz betrübliches Kapitel, wie sich die ehemaligen Mexico-Emigranten verhalten haben, als Paul Merker verhaftet worden war. Es ist skandalös, Sie können es im ehemaligen Parteiarchiv, jetzt Bundesarchiv, nachlesen. Es wird Ihnen speiübel, wenn Sie lesen, was die Genossen über Paul Merker gesagt haben. Wie Sie ihm andichten, dass er eigentlich schon in Mexico Verräter war. Es ist beschämend. Und das nur, weil er in die Fänge der Staatsicherheit kam und ein politischer Prozess aus dem Boden gestampft wurde ohne jeden Hintergrund. Leute haben vor Gericht Falschaussagen gemacht, nur um die acht Jahre Zuchthaus zu ermöglichen, die man Paul Merker verpasst hat.
Für meinen Mann war später in seinen eigenen Prozess das Verhalten von Paul Merker eine große Enttäuschung. Schon während der Voruntersuchung sind sie sich einmal gegenübergestellt worden. Mein Mann hat seinen Ohren nicht getraut und gesagt: “Paul, was sagst du denn da? Das stimmt doch überhaupt nicht.” Es war ganz klar, sie hatten ihm gedroht: “Wenn du nicht machst, was wir von dir verlangen, dann...”

Im Dezember 1956 wurde ihr Mann unter dem Vorwand verhaftet, er habe gegen die DDR konspiriert. Er wurde einige Monate später in einem Prozess  zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie hat sich Ihr Leben nach der Verhaftung verändert?
 
Ich habe keine Arbeit mehr bekommen. Im Januar 1957 habe ich bei einem internationalen Metallarbeiterkongress das letzte Mal gedolmetscht. Ab da war Schluss. Aber ich musste ja Geld verdienen. Der Aufbau-Verlag, dessen Leiter  Walter bis zu seiner Verhaftung war, hatte einfach den Vertrag gebrochen. Sie hätten, da sie ja nicht gekündigt haben, Walters Gehalt ein Jahr lang zahlen müssen. Sie haben aber nur drei Monate gezahlt.
Im März 1957 war der Schriftstellerkongress, und da wir mit Bodo und Alma Uhse sehr befreundet waren, habe ich ihn gefragt, ob ich dolmetschen könnte. Er hat mir eine Absage erteilt und gesagt, das könne er den Schriftstellern nicht zumuten. Ich habe ihn daraufhin gefragt, ob er Meinung sei, dass ich nicht mehr Französisch könne. Vierzehn Tage später bot er mir an, seine Bibliothek zu ordnen. Da sagte ich ihm, er solle sich jemand anderen suchen. Danach habe ich von ihm nie wieder etwas gesehen oder gehört. Viel später, wenige Tage vor Uhses Tod, musste Walter aus beruflichen Gründen mit ihm reden, da hat er ihm gesagt, er möchte sich unbedingt mit ihm unterhalten und wie leid es ihm tue, wie er sich seinerzeit verhalten hätte. Zwei Tage später oder, ich glaube, in der gleichen Nacht hatte er einen Anfall und verstarb.

Wie war damals ihre familiäre Situation?

Das alles war schwer für die Kinder. Mein Sohn hat mich gerade vorgestern angerufen und hat gesagt: „Ich  habe heute nacht geträumt, Monika Breite – sie war eine Mitschülerin aus seiner Klasse – ist gestorben.”  Die ganze Klasse hatte ihn damals verprügelt, weil sein Vater ein Staatsfeind wäre. Monika war die einzige – ich sehe sie noch vor mir, so pummelig und ungeschickt – die ihn nach Hause brachte. Das waren so die Begleiterscheinungen. Er flog dann auch von der Schule, was völlig ungesetzlich war. Vater im Zuchthaus, Mutter im Krankenhaus, es war nicht zulässig, dass vom pädagogischen Rat ohne Anwesenheit der Eltern ein Kind von der Schule flog. Es sind so viele Jahre vergangen, aber meine Tochter hat das alles bis heute nicht vergessen können. Obwohl sie zwei Jahre jünger war als ihr Bruder, hat sie vom ersten Moment an ganz anders reagiert als er. Und die Kinder hatten es zusätzlich sehr schwer, weil ich viereinhalb Monate im Krankenhaus lag. Nein, diese Zeit ist unvergessen.

Was war Ihrer Meinung nach der Grund für das ablehnende Verhalten vieler Ihrer Genossinnen und Genossen?

Auf jeden Fall kann ich nicht glauben, dass sie alle geglaubt haben, was man ihnen weismachte. Ich würde sagen, in erster Linie aus Feigheit.

Hätten sie sich durch Kontaktaufnahme mit Ihnen gefährdet?

Nein, das glaub ich nicht.

Gab es auch Menschen, die in diesen schweren Jahren zu Ihnen gehalten haben?

Erich Arendt (Schriftsteller und Übersetzer, während des Faschismus Emigrant in Kolumbien – die Red.) und seine Frau haben uns über die ganzen Jahre die Treue gehalten und die Kinder zu Weihnachten eingeladen. Und es gab auch neue Frende.

Hatten Sie irgendwann überlegt, in die BRD zu gehen?

Nein, diesen Gedanken hatte ich nie. Auch nach Walters Entlassung nicht; denn das wäre ja nur eine Bestätigung für Ulbricht und all die Leute gewesen. Sie hätten dann gesagt: „Jetzt ist er dahin gegangen, von wo er seine Aufträge – wie sie ja behauptet hatten – gekriegt hat.“ Nein, schon aus Protest nicht.
Außerdem waren wir ja schließlich angetreten für diese Welt.

Wie ist Ihr Leben nach der Haftentlassung Ihres Mannes verlaufen?

Mein Mann war aus der Partei ausgeschlossen, d.h., Parteileben war also nicht. Ich bin ab und an aus Pflichtbewusstsein hingegangen, eine Bindung gab es damals schon nicht mehr. Wir hatten neue Freunde gefunden und die berufliche Situation stabilisierte sich auch einigermaßen. Das kam eigentlich nur auf private Initiative hin zustande, denn von amtlicher Seite war für meinen Mann vorgegeben, keine leitende Position mehr haben zu können. Daraufhin hat Walter geantwortet, für eine leidende sei er auch nicht bereit. Er ist ja immer, im Unterschied zu vielen Leuten, die keinen Charakter haben, bis zum letzten ein Mann gewesen, der seinen Prinzipien treu geblieben ist, ohne Rücksicht auf Verluste. Sicher hätten wir es bestimmt in vieler Beziehung leichter gehabt, wenn wir weggegangen wären, aber das wollten wir nicht. Und ich muss sagen, wenn ich mir ansehe, was jetzt ist: Wäre diese Alternative so lobenswert geworden für uns? Das ist ein sehr großes Fragezeichen.
Erst recht, wenn ich heute sehe, wie die Öffentlichkeit auf den Kosovo-Krieg reagiert. Man denkt, Deutschland ist wieder wer, wir können auch einen Krieg führen. Ich war vom ersten Tag an ein absoluter Gegner dieses Krieges. Es wird manipuliert und gelogen. Wir haben zu DDR-Zeiten immer protestiert, dass vieles anders dargestellt würde, als es der Wirklichkeit entsprach. Wenn ich mir heute die Nachrichten anhöre oder die Zeitungen lese, muss ich mit Entsetzen feststellen, dass das auch eine Art Gleichschaltung der Presse ist. Dieser Krieg – das war von vorne herein klar – konnte nichts lösen. Man hat gesagt, der Krieg würde nicht gegen das serbische Volk geführt, sondern nur gegen Milosevic. Das ist völlig abwegig. Ganz gleich wie der Krieg gelaufen wäre, Milosevic wäre immer der Letzte, der unter den Folgen des Krieges leidet. Es leidet das Volk. Und zu sagen, der Krieg werde geführt, damit die Kosovaren zurück in den Kosovo können, ist ja auch nur begrenzt richtig. Warum hat die Luftwaffe das ganze Land zerstört, mit Splitterbomben, die Uran enthalten, wodurch auf Jahre hinaus alles verseucht wird? Wie sollen denn die Menschen in diesem Land leben?
Und jetzt gibt es die umgekehrte Situation. Die Häuser, die Serben gehört haben, die jetzt in Scharen flüchten, werden angezündet von Albanern. Es wird gemordet, gefoltert, bis... ich weiß es nicht.  

Die Autobiographie Ihres Mannes sollte ursprünglich gar nicht zu seinen Lebzeiten erscheinen. Im Sommer 1989, also kurz vor der Wende, haben Sie sich aber doch zur Veröffentlichung entschlossen? Wie kam es dazu, und war es für sie erleichternd?

Ja, es war ein Wendepunkt. Anlass war das, was auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking passierte. Ich erinnere mich genau, von der Minute an – ich habe den Brief auf der Maschine an Rowohlt geschrieben, dass das Buch gedruckt werden soll – war das eine Erleichterung. Und die Wirkung hat es ja auch bewiesen.
In dem Zusammenhang muss man auf die erste Lesung im Deutschen Theater kommen. Ich habe nie einen Abend erlebt wie diesen. Er ist einmalig und wird auch nie wiederkommen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass vom Deutschen Theater Menschen in Fünferreihen bis zur Friedrichstraße standen. Gegen alle Widerstände der Feuerwehr wurden doppelt so viele Personen reingelassen,  als ihnen erlaubt war. Die jungen Leute lagen in allen Gängen des Theaters. Es war eine einmalige Stimmung. Viele Frauen weinten, Ulrich Mühe hat hervorragend gelesen, es war überwältigend. Dann haben Dietewann und Walter von der ersten Etage aus zu den Leuten gesprochen, die draußen standen und nicht mehr reinkamen, und gesagt, sie mögen friedlich nach Hause gehen und sich nicht provozieren lassen, die Veranstaltung würde wiederholt. Wir haben gedacht, am nächsten Wochenende würden kaum Leute da sein, aber im Gegenteil, es war wieder so. Nicht nur das Deutsche Theater, sondern auch die Kammerspiele – das war beim ersten Abend auch, man hatte einen großen Monitor hingestellt – waren voll. Wir waren bei beiden Abenden dabei, auch der zweite Abend war bewegend. Beim zweiten hat das DDR Fernsehen gedreht. Plötzlich standen sie da und filmten. Ich bin sehr froh, dass bei Walter nach all den Dingen und Verbrechen, die man an ihm begangen hat,  beruflich wie menschlich, doch ein bisschen etwas wie Genugtuung entstand. Wir sind in diesem Jahr, dem Wendejahr, 25 000 km gefahren. In Ost und West gab es Lesungen. Rückblickend muss ich sagen, dass die Aufnahme im Westen genauso herzlich war wie im Osten, da war kein Unterschied. Überall volle Veranstaltungen, begeisterte Leute. Ich bin froh, dass mein Mann das erleben konnte, es war eine kleine Genugtuung.

Die Veröffentlichung Ihres Schicksals hat Ihnen ja auch wieder Anfeindungen eingetragen, insbesondere auf Grund der Darstellung von Anna Seghers während des Prozesses 1957, der Ihr Mann vorgeworfen hat, wider besseres Wissen geschwiegen zu haben.

Sie haben sicher den Beitrag von Erich Loest im Argonautenschiff von 1992 „Plädoyer für eine Tote“ gelesen. Ich weiß nicht, was ihn veranlasst hat zu diesem Hass gegen Walter. Dazu hat er keinen Grund. ( Loest wurde 1957 in der DDR aus politischen Gründen verhaftet und zu siebenjähriger Zuchthausstrafe verurteilt – die Red.) Es bestanden freundschaftliche Beziehungen zwischen uns. Dass er im Argonautenschiff sagt, der Janka hat nicht lange genug gesessen, das ist ja ungefähr die niederträchtigste Feststellung, die man sich denken kann. Was hätte denn der  Janka noch tun sollen? Er hat in der Nazizeit gesessen, er hat im Spanischen Krieg vom ersten bis zum letzten Tag  gekämpft, und er hat immerhin fünf Jahre gekriegt, und  davon vier Jahre und einen Monat in  Einzelhaft gesessen. Und da stellt sich Loest hin und sagt so etwas. Ich verstehe es nicht.
Die Tochter von Anna Seghers wollte zunächst Walter verklagen.  Sie hat sich an Walters Anwalt gewandt. Und der hat geantwortet,  dass er überhaupt nicht daran denke, eine Klage gegen meinen Mann zu führen. Außerdem stellte sich heraus – sie hat uns ja dann geschrieben, und wir sind einmal bei ihr gewesen – dass sie in der betreffenden Zeit nicht zu Hause gewohnt hat. Sie hat  die Dinge überhaupt nicht aus der Nähe erlebt.

In den letzten zehn Jahren hat sich gesamtgesellschaftlich sehr viel geändert. Wie sehen Sie die Zeit nach der Wende?

Ich habe nie die Euphorie geteilt. Ich glaube auch, dass viele Menschen, die damals so begeistert „Wir sind ein Volk“ geschrieen haben, bitter enttäuscht worden sind. Die hatten gar keine Ahnung, was Kapitalismus heißt. Wir hatten alle 1989 die Hoffnung , dass der DDR noch eine längere Übergangszeit beschieden gewesen wäre. Es war eine absolute Katastrophe, dass man als erstes die gesamte Industrie platt gemacht hat. Die Treuhand, die man eher die Untreuhand nennen sollte – so hat sie Walter auch immer genannt – hat verheerende Dinge hinterlassen. Die DDR war schließlich nur auf den Export gen Osten ausgerichtet. Über Nacht brach das zusammen und damit auch die Existenzmöglichkeiten der Leute. Wir sehen ja heute, es klingt vielleicht etwas abgedroschen, aber es ist dennoch gültig, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Ich bin die letzte, die auch nur ein Deut übrig hat für alles, was mit Stasi zu tun hat. Aber irgendwie ist diese ewige Debatte auch eine Art Ablenkungsmanöver von den wirklichen Problemen. Und immer so tun, als ob die ehemalige DDR nur mit leeren Händen gekommen wäre, kann man auch nicht. Die DDR hat auch etwas eingebracht in die Vereinigung. Das darf man nicht unterschätzen. Im übrigen sind die vielen Millionen oder Milliarden Mark, die man behauptet, hier reingepumpt zu haben, wieder rausgeflossen. Ich erinnere mich noch sehr gut, was sich ‘89 und ‘90 tat. Alle Ladenhüter, alle Rostkarossen wurden aus dem Westen gekauft, es wurden nur noch Westwaren gekauft, DDR-Waren wollte niemand mehr haben. Die Leute waren besessen vom Westtrend. Viele haben sich meines Erachtens recht würdelos benommen. Ich meine, wir haben ja wirklich Vorbehalte gegen die DDR einzubringen, aber dennoch haben wir die Dinge real eingeschätzt und gewusst, dass im Westen nicht alles Gold ist, was glänzt, und dass man viele Dinge sehr kritisch beobachten muss. Und es sind natürlich auch verheerende Fehler begangen worden. In den Eigentumsfragen hat die DDR bei den Verhandlungen komplett versagt. Wahrscheinlich war sie aber auch zu schwach, um sich durchzusetzten. Wie konnte man Rückgabe vor Entschädigung anstatt umgekehrt vereinbaren. Und Leute, wie Krause und Co, die damals mitverhandelt haben,  haben wirklich für viele Menschen, viele Tausende und Abertausende Unglück gebracht; denn kein Mensch hatte sich willkürlich in ein Haus gesetzt. Der Wohnraum war bewirtschaftet und man bekam eine Zuweisung. Hier in Kleinmachnow (Ort vor den Toren Berlins, heute beliebter Wohnort  wohlhabender WestberlinerInnen – die Red.) ist das ja am besten zu beobachten. Es sind Tausende von Menschen aus Kleinmachnow vertrieben worden, auf recht unfeine Art und Weise, und besonders für alte Leute ist das ja doch eine Katastrophe.

Das Gespräch führte Ulrike Schätte im Juli 1999 in Kleinmachnow.