Anfang der achtziger Jahre hatte die ila regelmäßig einen Infostand auf dem Bonner Münsterplatz. Damals war es nicht unüblich, daß gute deutsche BürgerInnen uns aufforderten, „nach drüben“ (sprich die DDR) zu gehen. Auch Camila, eine lateinamerikanische ila-Aktivistin, mußte sich das anhören. Wütend beschimpfte sie, deren indianische Herkunft nicht zu verkennen war, den deutschen Biedermann daraufhin mit „du blöder Indio!“ An diese Anekdote erinnerten wir uns, als wir diese ila vorbereiteten. Indio wird in Lateinamerika oft als Schimpfwort benutzt, es steht für Menschen, die primitiv, schmutzig oder tölpelhaft sind. Dahinter verbirgt sich auch die rassistische Abgrenzung der „besseren“ Latinos und Latinas zu ihren indianischen MitbürgerInnen. Deshalb wußten wir nicht so recht, wie wir uns ausdrücken sollten, ob wir von Indios, Indígenas, IndianerInnen, UreinwohnerInnen oder indigenen Ethnien – reden sollten. Mit der einen oder anderen Bezeichnung werden Assoziationen geweckt oder Klischees verstärkt. Letztendlich haben wir den Sprachgebrauch unserer AutorInnen respektiert.
Die Indígenas sind in den letzten drei Jahrzehnten zu wichtigen sozialen Bewegungen geworden. Zwar geht es ihnen im materiellen Sinne heute nicht besser als in vergangenen Zeiten; weiterhin sind sie Opfer von kapitalistisch-neoliberalen Angriffen und Expansionsgelüsten. Indígena-Land wird auch heute noch gern mit „Niemandsland“ gleichgesetzt, das sich Erdölkonzerne, SiedlerInnen und Großgrundbesitzer aneignen wollen.
Aber die Indígenas sind nicht nur Opfer. Sie wehren sich täglich, und zwar selbstbestimmt und vehement. Oft scheint es wie ein Kampf David gegen Goliath, wenn sie sich zerstörerischen Megaprojekten widersetzen und für ihr Recht auf Land, Kultur und Autonomie eintreten.
Es gibt in den Industriestaaten eine Tendenz, sich romantisierend für die „Indianer“ zu begeistern, die versehen werden mit den Attributen „ursprünglich, naturbezogen und nicht-entfremdet“. Dabei werden Kulturelemente einzelner Ethnien aus ihrem historischen und materiellen Kontext isoliert und als „indianische Weisheit“ präsentiert. Eine im kollektiven Prinzip von agrarischen Indígena-Gemeinschaften verwurzelte Spiritualität wird auf diese Weise zum Renner für den esoterischen Ego-Trip gestreßter Metropolen-Mittelständler.
Dagegen ist vielen Progressiven eine Beschäftigung mit indigener Kultur grundsätzlich suspekt. Indígenas werden lediglich als klassische Modernisierungsopfer wie Straßenkinder, Obdachlose, Flüchtlinge gesehen. VerliererInnen eben, für die man mal eine Unterschrift leistet, denen aber auch klar sein muß, daß ihre Lebensweise anachronistisch ist und sie sich letztlich in die moderne Gesellschaft integrieren müssen.
Wir haben eine differenzierte Annäherung versucht. Es gilt zuallererst anzuerkennen, daß indigene Völker das Recht haben, so zu leben, wie sie wollen. Es gilt weiter zu respektieren, daß Kulturen und Denkweisen, die nach anderen Logiken funktionieren als die westlich-kapitalistische, kein museales Überbleibsel vergangener Zeiten sind, sondern hier und jetzt existieren, sich verändern und entwickeln. Dazu gehört selbstverständlich, daß kollektive Arbeits-, Entscheidungsprinzipien und Eigentumsformen verteidigt werden müssen, auch wenn sie hierzulande aus der Mode gekommen sind.
Das heißt nicht, daß indigene Gemeinschaften als homogene Kollektive betrachtet werden, sozusagen als ideale Volksgemeinschaften. Natürlich gibt es Widersprüche: zwischen Männern und Frauen, zwischen Kaziken und einfachen DorfbewohnerInnen, zwischen denen, die Zugang zu internationalen Geldern und Kontakten haben und denen, die darüber nicht verfügen können, zwischen Alten und Jungen und sicher noch viele andere.
Die Indígena-Bewegungen Lateinamerikas versuchen heute, das Projekt einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft umzusetzen, in der unterschiedliche Lebensformen als gleichwertig respektiert werden. Diesen Kämpfen gilt unsere Solidarität – zu ihrer Sichtbarmachung wollen diese und die nächste ila beitragen. In dieser Ausgabe haben wir die Indígenafrage aus der Perspektive fremder An- und Eingriffe betrachtet. In der nächsten schreiben wir über Indígena-Organisationen und stellen hiesige Gruppen vor, die sich auf unterschiedliche Weise für die Indígenas in ihrem Kampf um Anerkennung ihres eigenen kulturellen Ausdrucks, um Bewahrung ihrer Umwelt und natürlichen Reichtümer und für Menschenrechte einsetzen.
Wie ihr mit dem Erhalt dieser ila feststellen könnt, gibt es uns noch, und so soll es auch bleiben. Daß wir weitermachen können, verdanken wir der Solidarität unserer LeserInnen, die in den letzten beiden Monaten 22 000 DM gespendet und uns auch mit Neu- und Geschenkabos sowie Werbung und wichtigen Tips unterstützt haben (vgl. S. 57). Dafür ganz herzlichen Dank. Und wie gehabt, wünschen wir euch auch für 1999 viel frische Wut. Ihr werdet sie sicher brauchen, auch wenn der Kohl jetzt von Schröder gekocht wird!