Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus gerieten linke Politikvorstellungen ebenso in die Krise wie die oppositionellen Bewegungen selbst. Die Ursachen für diese Krisen waren vielfältig. Zunächst gab es ganz praktische Gründe. Große Teile der Linken und viele oppositionelle Bewegungen waren primär auf den Staat orientiert: Der Staat sollte Forderungen erfüllen und die Wirtschaft lenken, der Staat sollte die Umverteilung organisieren und das Wohnungsproblem lösen. Staatlichen Unternehmen sollte eine Schlüsselposition in der Wirtschaft zukommen. Und so weiter... Mit den neoliberalen „Reformen“ wurde indessen der Staat zunehmend demontiert, vor allem in sozialen Belangen. Und urplötzlich waren alle linken Politikvorstellungen obsolet, die auf eine stärkere Verstaatlichung gerichtet waren. Konnte im Realen Sozialismus der Staat für jeden Mißstand verantwortlich gemacht werden – was maßgeblich zur Delegitimierung der Regime beitrug –, soll der neoliberale Staat für nichts mehr verantwortlich sein und auf nichts mehr verpflichtet werden können. Als seine Domänen sind nur noch (!) die innere und äußere Sicherheit übrig geblieben.

Doch entschwand nicht nur der Staat als Gegenpart und Objekt linker Begierde (wobei festgehalten werden soll, daß es immer linke Strömungen gab, die die Staatsfixiertheit anderer Linker nicht teilten). Im Zuge von Rationalisierung, Deindustrialisierung und Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen verlor auch die organisierte Arbeiterklasse als politisches Subjekt an Bedeutung.

Im Sog der neoliberalen Offensive gerieten alternative Politikvorstellungen auch ideologisch in die Defensive. Mit dem Verweis auf die Ineffizienz von Staatsbürokratien im Realen Sozialismus oder in sozialdemokratisch geprägten Ländern sowie mit der Propaganda, in öffentlichen Sozialsystemen würden die arbeitenden Menschen Faulenzer und Verlierer finanzieren, wurden in vielen Regionen der Welt kollektive Lösungen diskreditiert – zum Teil auch bei denen, die von einer Individualisierung im Interesse der Privilegierten eigentlich gar nichts zu erwarten haben.

Geschickt haben die neoliberalen IdeologInnen dabei auch Defizite linker Politik aufgezeigt und benutzt: Natürlich sind Staatsbeamte in vielen Fällen arrogant, korrupt und bevormundend, natürlich haben reaktionäre Gewerkschaftsbürokraten oft nur Besitzstandswahrung einer elitären (männlichen) Klientel im Kopf, und natürlich sind in staatlichen Unternehmen viel zu viele Leute, die ihre Jobs vor allem parteipolitischem Klientelismus verdanken. Linke in Lateinamerika (und nicht nur dort) haben oft genug mit ebenso richtigen wie fruchtlosen Hinweisen auf Mißstände reagiert: Denn natürlich sind Privatunternehmer in der Regel ausbeuterischer und repressiver, und natürlich ist die Korruption in den Staatsapparaten noch relativ bescheiden, verglichen mit den gigantischen Betrügereien – Fachleute sprechen hier von Provisionen –, die üblicherweise bei Privatisierungen anfallen.

Die Konsequenz aus dem bisher gesagten: Oppositionellen Bewegungen hier wie in Lateinamerika fällt es immer schwerer, Leute für „alte“ Politikkonzepte zu mobilisieren. Zumal die RepräsentantInnen von Politik in hohem Maße unglaubwürdig geworden sind – weltweit.

Hat der Neoliberalismus also auf ganzer Linie gesiegt? Mag sein. Aber gesellschaftliche Widersprüche verschwinden nicht einfach, nur weil die Mächtigen das so proklamieren und alternative Politikansätze nicht sichtbar sind.
Und weil es – zur Zeit – keine Visionen und keine Ziele für die Gesellschaften dieser Erde gibt, reagieren die Menschen überall auf die sich verändernde Situation spontan, individuell, manchmal auch kollektiv. Viele dieser Reaktionen haben eine sehr begrenzte Tragweite, eine langfristige Perspektive ist selten vorhanden. Trotzdem können sich daraus neue Politikmodelle entwickeln!
Der aktuelle Schwerpunkt der ila wurde unter der Fragestellung „Wo und wozu organisieren sich heute Menschen in Lateinamerika?“ entwickelt. Herausgekommen ist ein unvollständiges Mosaik. Eine Ursache dafür liegt in der visionslosen Vielschichtigkeit der derzeitigen sozialen Bewegungen. Aber: „Die neue Vision, aus der heraus alternative Entwicklungen entstehen, setzt sich aus ausschnitthaften, vielfältigen und sich ergänzenden Utopien zusammen. Diese basieren auf selbstorganisierten lokalen Projekten und auf einem Fundus ethischer Werte, sowie auf gemeinsamen Anschauungen, die aus den kollektiven Bedrohungen entstehen.“ (Xavier Gorostiaga, Nicaragua). Es wird noch eine Weile dauern, bis die Frage nach dem Gesellschaftsystem wieder gestellt werden kann – vielleicht, wenn die vielen kleinen Bewegungen einen gemeinsamen Weg finden.

P.S. Vieles ändert sich zur Zeit und beinahe alles ist im Fluß. Aber manches bleibt dennoch. So zum Beispiel die ila, die ihren LeserInnen auch für 1998 viel frische Wut – und dieses Mal auch guten Mut wünscht.