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Ich habe es trotzdem überlebt

Interview mit der tschechischen Schriftstellerin Lenka Reinerová

Zu denen, die in Lateinamerika Zuflucht vor den Nazis fanden, gehörten nicht nur jüdische und politische Flüchtlinge aus Deutschland, sondern auch BürgerInnen der Länder, die von Nazideutschland besetzt wurden. Nach Österreich war die Tschechoslowakei bzw. das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik das zweite Land, das noch vor dem Zweiten Weltkrieg von der NS-Diktatur okkupiert wurde. Durch Zufall war die junge Journalistin Lenka Reinerová in jenen Märztagen 1939 außer Landes und konnte so der Verhaftung durch die Gestapo entgehen. Ihre Flucht führte sie dann nach Frankreich und Marokko, ehe sie Ende 1941 in Mexico ein sicheres Asylland fand. Als die Nazis besiegt waren, kehrte sie nach einem Zwischenaufenthalt in Belgrad nach Prag zurück. Doch politische Verfolgung blieb ihr auch dort nicht erspart, die stalinistischen Machthaber sperrten die Kommunistin ins Gefängnis. 1967/68 schienen sich ihre Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht endlich zu erfüllen, doch die Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten ließen dem Experiment keine Chance. Aber auch das folgende Berufs- und Publikationsverbot konnten sie nicht brechen. Heute ist die inzwischen 80jährige die letzte deutschsprachige Autorin in Prag.

Gert Eisenbürger

Frau Reinerová, Sie haben 1935 als 19jährige begonnen, bei der„ Arbeiter Illustrierten Zeitung“ zu arbeiten, die seit 1933 im Prager Exil erschien. Die AIZ war eine linke und eine deutsche Zeitung. Wie kamen Sie als junge Tschechin zur AIZ?

Meine Muttersprache – im wahrsten Sinne des Wortes – ist Deutsch. Meine Mutter stammte aus der westböhmischen Stadt Saaz, einer Stadt, die zu mehr als 90% deutschsprachig war. Mein Vater kam aus Prag, er sprach tschechisch, das heißt meine Vatersprache ist Tschechisch. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe in Prag ein deutsches Gymnasium besucht. Seit meinem 16. Lebensjahr war ich in der kommunistischen Jugendbewegung aktiv, so daß mir die AIZ natürlich sehr nahestand. Ich betrachtete es als eine Ehre, in einer so wichtigen linken Zeitschrift mitzuarbeiten.

Die Redaktion hauste damals in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Prag – es war ja kein Geld da – zusammen mit einer anderen Emigranten-Zeitschrift, „Der Gegenangriff“, der später „Deutsche Volkszeitung“ hieß. Nach dem damaligen tschechoslowakischen Pressegesetz mußte der verantwortliche Redakteur jeder Zeitung, die bei uns erschien, tschechoslowakischer Staatsbürger sein. Für die „Volkszeitung“ war es lange Zeit eine Frau. Sie hieß auch Reiner, Grete Reiner, war aber nicht mit mir verwandt. Sie wollte eines Tages diese Funktion abgeben. Lex Ende, der Chefredakteur der Zeitung, rief mich zu sich und meinte, ich hieße doch auch Reiner, genau wie die bisherige Herausgeberin. Ich bejahte, worauf er sagte, dann solle ich die künftige Herausgeberin sein, Grete oder Lenka, das fiele doch gar nicht auf. Darauf sagte ich, das ginge leider nicht, ich sei noch nicht volljährig. Damals war man in der Tschechoslowakei erst mit 21 Jahren volljährig. Schließlich überredete ich meine Mutter, mich frühzeitig volljährig erklären zu lassen. So wurde ich offiziell die verantwortliche Redakteurin der „Deutschen Volkszeitung“.

Das hat mir letzten Endes wahrscheinlich das Leben gerettet. Im März 1939 war ich mit einer journalistischen Aufgabe in Rumänien. Ich war am 4. März 1939 dorthin gefahren und sollte bis zum 14. März bleiben. In Bukarest wohnte ich bei einem befreundeten Journalisten, Heinz Alexander, der nach dem Krieg lange der Korrespondent des „Spiegel“ in London war. Am 14. März kam er nach Hause und riet mir, nicht zurückzufahren. Die Slowakei habe sich von der Republik losgesagt und einen Staat von Hitlers Gnaden gebildet. Er sei überzeugt, daß es am nächsten Tag aus sei mit der Tschechoslowakei.

Ich rief zu Hause an. Es war das letzte Mal, daß ich mit meiner Mutter und mit meiner Schwester sprach. Meine Schwester sagte damals – so etwas merkt man sich: „Hör zu, ich glaube, du solltest jetzt nicht nach Hause kommen, du hattest doch diese Grippe, du hättest hier keine Ruhe, deine Freunde waren heute abend hier.“ Das habe ich verstanden. Ich sagte ihr noch, ich hätte im Schreibtisch Liebesbriefe – d.h. belastende Briefe und Artikel – und ich wolle nicht, daß die der Mutter in die Hände fielen. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei alles erledigt. Sie hatte also den Schreibtisch schon geräumt.

Ich fuhr also nicht zurück, und am nächsten Tag wurde die Tschechoslowakei besetzt. Als verantwortliche Redakteurin – die hatten ja keine Vorstellung, daß ich lediglich ein junges Mädchen war – stand ich auf der Liste der Festzunehmenden. Die Gestapo war schon am Abend vor der Besetzung in Prag und suchte gewisse Leute auf.
Weil ich zu den gefährdeten Personen gehörte, hatte mir ein amerikanischer Journalist in Prag vor meiner Abfahrt nach Rumänien ein französisches Visum beschafft, was man als Jüdin nur schwer bekam. Damit konnte ich von Bukarest über den Balkan und Italien nach Paris fahren.

Was haben Sie in Frankreich gemacht? Wie konnten Sie sich dort etablieren?

Ich hatte in der Emigration immer eine Aversion gegen Unterstützungskomitees. Es paßte mir nicht, mich finanzieren zu lassen. Dennoch ging ich in den ersten Tagen in Paris zu einem jüdischen Hilfskomitee und bat sie, mir leihweise eine Schreibmaschine zu verschaffen. Sie waren erstaunt, daß ich nichts anderes wollte und besorgten mir die Schreibmaschine.

Für eine linke französische Agentur machte ich damit eine Art tschechoslowakische Korrespondenz. Das heißt, ich kaufte mir jeden Tag alle Protektoratszeitungen (Nazideutschland bezeichnete die besetzten Teile der Tschecho-slowakei als Protektorat Böhmen und Mähren – G.E.), setzte mich in ein Café und zog aus ihnen die Informationen, die mir mitteilenswert oder interessant erschienen. Pro Zeile bekam ich einen Franc. Ich hatte jeden Tag mindestens dreißig Zeilen abzuliefern. Damit konnte ich mich ganz gut über Wasser halten.

Ich hatte keine Aufenthaltsbewilligung für Paris, d.h. für das Departement Seine, bekommen. Freunde rieten mir, es im benachbarten Departement Seine-et-Oise zu versuchen. Das klappte. Zu Seine-et-Oise gehört Versailles, wo Egon Erwin Kisch und seine Frau Gisl wohnten, die ich beide aus Prag kannte. Ich zog in das gleiche Hotel und war nicht so völlig allein.

Dann wurde in Paris ein „Maison de la culture tchècoslovaque“ eröffnet. Während des ersten Weltkrieges wurde die Tschechoslowakei eigentlich in Paris gegründet. Man nahm damals an, daß sich so etwas wiederholen würde. Daher gab es in Paris eine größere, z.T. offizielle und halboffizielle tschechoslowakische Emigration, zu der auch viele Künstler gehörten. Gerade als ich als einzige Frau mit zehn Männern, darunter drei Malern, in eine Villa mit Atelier am Montparnasse eingezogen war, begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen.

Jeden Abend kamen tschechische Emigranten zu uns, wir waren immer 20 oder mehr Leute. Nach drei Wochen, am 18. September 1939 – wir saßen gerade beim Frühstück –, fuhr ein Wagen vor. Ein paar Zivilisten kamen in das Haus und verhafteten uns so, wie wir da saßen – alle! Obwohl einige von uns völlig apolitisch waren, natürlich waren sie gegen die Besetzung der Tschechoslowakei, aber sonst in keinster Weise organisiert.

Wir erfuhren nie, was der Grund unserer Verhaftung war. Es gab in Paris einen tschechoslowakischen Botschafter, und es gab das, was man den „Burgflügel“ nannte, also die Leute um Beneš (linksbürgerlicher Politiker, 1935-38 und 1945-48 tschechoslowakischer (Staats-)Präsident – Anm. d. Red.). Zwischen beiden Tendenzen gab es Aversionen. Unser Kreis, das „Maison de la culture tchècoslovaque“, unterstützte die Arbeit des „Burgflügels“. Ob daher der Botschafter dahinter steckte? Jedenfalls rührte die Botschaft nicht den kleinsten Finger für uns. Nach meiner Verhaftung war ich ein halbes Jahr in Einzelhaft im Gefängnis „Petite Roquette“.

Was warf man Ihnen vor?

Als ich zum ersten Mal dem Militärgericht – es war ja Krieg – vorgeführt wurde, sah mich der Untersuchungsrichter erstaunt an und schaute immer wieder in seine Papiere. Beim zweiten Mal sagte er, er wisse immer noch nicht, was man mir vorwerfe. Wir waren von der Sûreté Nationale, der polizeilichen Zivilbehörde, verhaftet worden. Zwischen ihr und der Militärbehörde bestanden ziemliche Spannungen. Die Sûreté Nationale versuchte uns daraus einen Strick zu drehen, daß wir uns im „Maison de la culture tchècoslovaque“ nicht ausdrücklich gegen den Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland erklärt hatten. Sie leitete daraus den Verdacht ab, wir wären möglicherweise für den Feind – Nazideutschland. Völlig idiotisch. Der Militärrichter sprach in unserem Fall ein „non lieu“ aus, d.h. die Anklage ist gegenstandslos. Doch die Zivilbehörde ließ uns nicht frei, sondern wies uns in Lager ein.
Ich kam in das Frauenlager Rieucros, ein Internierungslager, kein Konzentrationslager, wie es manche meiner Mitgefangenen nannten. Aber das ist falsch – man muß bei den Begriffen genau sein. Konzentrationslager haben die Nazis errichtet, und mit denen waren die französischen Internierungslager nicht zu vergleichen.

Schlimm wurde unsere Situation, als die Deutschen Frankreich teilweise besetzten und ihr Einmarsch in die noch unbesetzte Zone wahrscheinlich war. Da die Franzosen die Internierten nicht freiließen, wurden die Lager zu einer gefährlichen Falle. Als die Deutschen 1942 ganz Frankreich besetzten, fanden sie in manchen Lagern noch Antifaschistinnen und Jüdinnen vor, die sie dann nach Deutschland deportierten.

Wie kamen Sie aus dem Lager heraus?

Mir hat immer die menschliche Solidarität geholfen. In den Lagern in Südfrankreich waren auch Tschechen interniert, die in Spanien für die Republik gekämpft hatten. Einige schafften es, auszubrechen und nach Marseille zu kommen. Dort erfuhren sie irgendwie, daß zwei tschechische Mädchen im Lager Rieucros säßen. So bekam ich eines Tages eine Einladung des holländischen Konsulats in Marseille, um mir ein Visum abzuholen. Doch Holland war längst besetzt, es gab gar kein holländisches Konsulat in Marseille. Aber die Verantwortlichen im Lager waren solche Idioten, daß es ihnen nicht auffiel. So bekam ich als erste im Lager einen Urlaub nach Marseille, um meine Ausreise zu regeln – ich glaube, für eine Woche. Ich blieb sechs Wochen. Dann schrieben mir die anderen Mädchen, der Commissaire im Lager habe gesagt, ehe ich nicht zurückkäme, ließe er keine andere mehr gehen.

Inzwischen hatten sich Kisch, F.C. Weiskopf, mein Chefredakteur bei der AIZ, Bodo Uhse und meine Freunde in den USA schon um mein Visum für Mexico bemüht. Ich fuhr also zurück ins Lager, wurde aber bald darauf mit einer Gruppe von Frauen zwecks Ausreisevorbereitungen nach Marseille verlegt und in einem Hotel interniert, das bis dahin ein Puff war. Zur Erledigung der Ausreiseformalitäten durften wir in Begleitung eines Polizisten auf die Konsulate gehen. Die Polizisten wurde man in der Regel in der nächsten Kneipe los. Ich bekam schließlich mein Visum. Da war dieser wunderbare mexicanische Generalkonsul Gilberto Bosques (vgl. Lebenswege ila 172). Ich werde nie vergessen, wie er mir das Visum gab. Er gab mir die Hand und sagte: „Mexico freut sich auf Sie.“ Sie können sich nicht vorstellen, was das in dieser Situation bedeutete. Man war Flüchtling, überall wurde einem vermittelt, daß man lästig und unerwünscht sei, und plötzlich so etwas.

Gilberto Bosques war eine legendäre Figur in Marseille. Er half, wo er konnte, oder besser gesagt, mehr als er konnte. Und er mußte dafür bezahlen: Die Deutschen haben ihn und alle Mitarbeiter des Konsulats verhaftet und irgendwo in Deutschland interniert...

...in Bonn-Bad Godesberg...

...ja. Auch wenn es ihm dort nicht sehr schlimm erging, war die Tatsache an sich schon schlimm genug. Ich hatte das riesige Vergnügen, diesen Mann noch einmal wiederzusehen, als ich 1993 in Mexico war, er war schon über 100 Jahre alt.

Mit dem mexicanischen Visum konnten Sie Marseille verlassen. Fuhr das Schiff direkt nach Mexico?

Nein, nach Martinique. Nach Mexico gab es keine direkte Verbindung. Von Martinique aus sollte es irgendwie weitergehen. Zehn Tage bevor die „Wyoming“, auf der ich war, losfuhr, stach die „Winnipeg“ in See. Sie wurde auf offener See von den Engländern aufgebracht, weil sie zur Flotte Pétain-Frankreichs gehörte. Die Briten zwangen die „Winnipeg“, die britische Kolonie Trinidad anzulaufen. Sie brachten die Passagiere dort sehr gut unter und sorgten für deren Weiterfahrt. Aber die Franzosen verloren ein Schiff. Wir waren zu der Zeit gerade vor Casablanca. Die Pétain-Regierung gab den Befehl, daß die „Wyoming“ dort vor Anker gehen sollte. Da wir nicht wußten warum, brachen Nervosität und Hysterie auf dem Schiff aus. Nach einigen Tagen kam eine Kommission aus französischen Offizieren in Uniform und Herren in Zivil an Bord und sortierte die Passagiere in diejenigen, mit denen es in Frankreich keine Schwierigkeiten gegeben hatte, und diejenigen, die in Frankreich etwas auf dem Kerbholz hatten. Zu letzteren gehörte ich. Die erste Gruppe wurde in einem Lager am Meer interniert, wo es klimatisch erträglich war. Unsere Gruppe wurde in einen Zug verfrachtet und in ein Lager der Fremdenlegion in der Sahara gebracht. Es war sehr heiß, tagsüber über 40 Grad, abends wurde es etwas kühler, aber das Thermometer sank nie unter 35/36 Grad.

Die Wellblechbaracken, in denen wir untergebracht waren, waren regelrechte Brutkästen. Die Menschen waren von ihrer Flucht ohnehin erschöpft, so daß entsprechend viele starben. Für jeden gab es nur einen Liter Wasser pro Tag.
Um dort rauszukommen, ließ ich mich beim Kommandanten melden und hielt ihm einen langen Vortrag darüber, daß ich Tschechin sei und unsere Exilregierung in London wüßte, wo ich sei. Ich bat ihn um einen kurzen Urlaub für Casablanca und versprach, mich dort um die Weiterreise der im Lager internierten Tschechoslowaken zu kümmern. Er gab mir schließlich 48 Stunden Urlaub. Ich kehrte natürlich nicht zurück, sondern blieb in Casablanca – ohne Papiere, ohne Geld, ohne nix – aber es ging wieder. Ich mußte mich auf der Polizei melden, weil ich Lebensmittelkarten brauchte. Da war ein älterer Commissaire, der sehr gut mein Vater hätte sein können. Er fragte mich, ob mit mir in Frankreich alles in Ordnung gewesen sei. Als ich das bejahte, machte er eine Handbewegung und fragte: „Nicht einmal eine kleine Ausweisung?“ Da war mit klar, daß er mein Dossier hatte und wußte, was los war. Ich habe darauf nichts geantwortet. Von diesem Moment an duzte mich der Mann und sagte: „Hör zu, du kannst hier bleiben, und ich gebe dir auch die Lebensmittelkarten. Unter einer Bedingung: Wenn ich dich vorlade, dann kommst du.“ Ich versprach es ihm.

Eines Tages kam eine Vorladung. Ich zögerte lange, was ich machen sollte, ging aber schließlich hin. Und wieder hat mir der Mann kolossal geholfen. Er gab mir ein Papier und sagte, mit dem solle ich am nächsten Tag in ein Lager fahren. Ich sagte sofort, daß ich in kein Lager mehr führe. Aber er gab mir ein zweites Papier, das ich dem Kommandanten nach drei Tagen zeigen sollte. Dann würde ich wieder entlassen und könne zurück nach Casablanca fahren. Als ich fragte, was das Ganze solle, sagte er nur, ich solle nicht fragen, sondern alles so machen, wie er es mir aufgetragen habe. Ich vertraute ihm, und es klappte tatsächlich: Nach drei Tagen ließen sie mich aufgrund des zweiten Papiers wieder gehen. Als ich nach Casablanca zurückkam, erfuhr ich, daß in diesen Tagen in der Stadt eine große Razzia stattgefunden hatte. Der Mann hatte mich also davor bewahrt. So haben mir oft Leute geholfen.

Insgesamt war ich ein halbes Jahr in Casablanca. Ich muß sagen, ich habe es zutiefst genossen. Ich war mir bewußt, daß Casablanca ein Abenteuer war. Wer aus Prag kam schon je nach Casablanca? Ich streunte durch die arabischen Viertel, tippte ab und an Briefe für einen wohlhabenden Tschechen und konnte so ein bißchen Geld verdienen. Ich wohnte in einem kleinen Hotel, das Italienern gehörte, nicht in einem Zimmer, sondern im Lichtschacht, über den sie ein Bettlaken gespannt hatten. Wenn nachts Kontrollen waren, gingen sie stets vorüber. Dort überstand ich sogar eine schwere Gelbsucht.

Heute morgen war ich in einer Berliner Schule. Ein Schüler fragte mich ganz interessiert, ob ich auch in „Rick's Café Americain“ (Bar im Filmklassiker „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann – G.E.) gewesen sei. Er war sehr enttäuscht, als ich ihm sagte, daß es das in Casablanca nie gegeben habe...

Nach einem halben Jahr konnte ich auf der „Serpa Pinta“, einem portugiesischen Schiff, meine Fahrt fortsetzen. Meine Freunde in Mexico mußten alles von neuem in Bewegung setzen, ein neues Visum, eine neue Schiffskarte und und und. Auf dem Schiff waren viele Flüchtlinge – einige kannte ich schon, z.B. Steffie Spira (vgl. Lebenswege ila 155) mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Auch Walter Janka und Lotte, die damals aber noch nicht Lotte Janka war.

In große Aufregung gerieten wir, als während der Überfahrt die japanischen Truppen Pearl Harbour angriffen und die USA in den Krieg eintraten. Unter den Flüchtlingen auf dem Schiff brach erneut Panik aus. Würden wir wieder irgendwo vor Anker gehen? Aber wir fuhren weiter und erreichten schließlich im Dezember 1941 Mexico.

In Mexico war es sicherlich auch nicht einfach, Fuß zu fassen und sich über Wasser zu halten?

Es gab in Mexico schon länger eine tschechoslowakisch-mexicanische Assoziation. Die dort lebenden Tschechen hatten mit Politik eigentlich nichts zu tun. Einige waren nach Mexico ausgewandert, um dort ihr Glück zu machen. Und tatsächlich ging es ihnen sehr gut, einige waren Ärzte, sie hatten sich etabliert. Andere waren zwar nicht als Flüchtlinge nach Mexico gekommen, wollten aber nach der Besetzung der Tschechoslowakei nicht mehr zurück, z.B. der Vertreter der Škoda-Werke. Sie ernannten mich zur Sekretärin der Assoziation. Das machte ich aber nur ein paar Wochen, bis die diplomatischen Beziehungen zwischen Mexico und der tschechoslowakischen Exilregierung neu aufgenommen wurden. Neu deshalb, weil nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 der damalige tschechoslowakische Gesandte nichts Eiligeres zu tun hatte, als die Botschaft den Deutschen auszuliefern, woraufhin die Mexicaner die Beziehungen abbrachen. Nach ihrer Wiederaufnahme begann ich sofort, in der neuen Botschaft zu arbeiten. Das war mir sehr willkommen, nicht nur weil ich etwas Geld verdiente – das Gehalt war in dieser Lage nicht gerade enorm –, sondern auch, weil ich etwas Sinnvolles tun konnte. Ich hatte nicht das Gefühl, im schönen Mexico zu sein und nichts zu tun.

Sie hatten auch enge Beziehungen zu den emigrierten deutschen Künstlern und Künstlerinnen in Mexico?

Die hatte ich die ganze Zeit. Erst im nachhinein ist mir bewußt geworden, daß in diesem Zusammenhang mein Chef, der tschechoslowakische Gesandte, und die ganze Exilregierung sehr großzügig waren. Sie wußten, daß ich mich überwiegend in deutschen Kreisen bewegte. Nie sagte mir jemand, als Mitarbeiterin der Botschaft solle ich mich von den Deutschen fernhalten. Klar, es waren alles Antifaschisten, aber es war eine deutsche Gruppe.

Sie gehörten zum Mitarbeiterkreis der KPD-nahen Exilzeitschrift „Freies Deutschland“, redigierten aber schwerpunktmäßig eine tschechoslowakische Exilzeitschrift?

Ich brachte meinen Chef dazu – und er war sehr dafür –, eine kleine Zeitung herauszugeben. Ausgedacht haben wir uns das bei den Kischs, Egon Erwin Kisch war ja auch ein Landsmann. Wir dachten uns, die deutschen Antifaschisten haben eine Zeitung, die Tschechen haben zwar eine Gesandtschaft, aber kein Organ. Da haben wir ein Blättchen in die Welt gesetzt, das „El Checoslovaco en México“ hieß. Das habe ich praktisch von A bis Z gemacht. Natürlich bekam ich Beiträge von Kisch und André Simone (eigentl. Otto Katz, tschechischer Kommunist, der ebenfalls im mexicanischen Exil war. Nach dem Krieg ging er in die Tschechoslowakei, wo er 1952 als ,Trotzkist, Spion und Agent der Juden' zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde – G.E.) und auch aus London (Sitz der Exilregierung – G.E.), aber ich mußte alles von Anfang bis zum Ende machen, habe viel selbst geschrieben, den Umbruch gemacht, alles.

Wann fingen Sie an, neben ihren journalistischen auch belletristische Texte zu schreiben?

Im Gefängnis in Paris. Das Gute in diesem Gefängnis war erstens, daß sie einem ohne weiteres Schreibzeug gaben, und zweitens, daß es eine große Bibliothek gab. Als ich verhaftet wurde, konnte ich kaum Französisch. Das habe ich mir im Gefängnis durch das Lesen beigebracht. In der Bibliothek waren vor allem Klassiker. Ich habe den ganzen Balzac gelesen, natürlich die Hälfte nicht verstanden, einfach von der Sprache her. Aber mit der Zeit hat man dann kombiniert. Später habe ich ein Heft, eine Feder und ein Tintenfaß bekommen und begonnen, ein Kinderbuch zu schreiben. Auf diese Art konnte ich die Zeit ganz gut überstehen.

Haben Sie auf deutsch oder auf tschechisch geschrieben?

Im Gefängnis habe ich tschechisch geschrieben.

Haben Sie auch in Mexico belletristische Texte verfaßt?

Ja, aber nicht sehr viele. Dazu gehörte die Geschichte „Die kotigen Schuhe“. Ich schrieb sie, nachdem deutsche Soldaten die Bewohner des böhmischen Dorfs Lidice in einer Vergeltungsaktion ermordet hatten. Das war eine fiktionale Geschichte, was bei mir selten der Fall ist, denn ich schreibe eigentlich immer nur über das, was geschehen ist oder was ich erlebt habe, man fabuliert es natürlich. Unter dem Eindruck dieser Aktion in Lidice habe ich eine richtige Erzählung geschrieben, die bis heute immer wieder gedruckt wird.

Ich habe auch eine Geschichte geschrieben, in der ich den Schwejk weiterphantasiere, ihn in die Neuzeit versetze. Aber mein erstes Buch schrieb ich erst nach meiner Rückkehr nach Europa. Es hieß „Grenze geschlossen“ und war die Geschichte meiner Emigration. Ich habe es auf deutsch geschrieben, aber es ist tschechisch und deutsch erschienen.

In Mexico lernten Sie Ihren späteren Mann Theodor Balk kennen.

Ich kannte ihn schon aus Prag, er war aus Prag nach Spanien gegangen. Er war Arzt und arbeitete als solcher bei den Internationalen Brigaden. Ich war die ganze Zeit, als er in Spanien war, mit ihm in loser Verbindung. Damals dachte ich noch nicht, daß er mal mein Mann werden könnte. In Frankreich habe ich ihn flüchtig gesehen, und als ich dann nach Mexico kam, ergab sich ziemlich schnell, daß wir zusammenkamen. Ich engagierte mich in Mexico für die Tschechoslowakei, er war sehr aktiv für Jugoslawien. Er hat eine große Aktion organisiert „Medikamente für die Partisanenarmee Titos“. Es gab in Mexico sehr viele Europäer, die sich mit der Produktion von Medikamenten befaßten. Mit Hilfe des sowjetischen Botschafters Umanski, der später sehr merkwürdig umkam, gelang es ihm, mit Konvois wirklich große Medikamentensendungen nach Jugoslawien zu schicken. Wir waren beide auf unseren eigenen Wegen engagiert, aber er gehörte auch zum Redaktionsrat des Freien Deutschland und arbeitete eifrig mit.
Außerdem schrieb er dort seinen Roman „Das verlorene Manuskript“ und veröffentlichte ihn im Verlag „El Libro libre“. Das Buch erschien nach dem Krieg in der Bundesrepublik, in der DDR, in Schweden, in Polen, es hat also eine ziemliche Verbreitung erreicht.

Theodor Balk stammte aus Jugoslawien?

Ja, er war Serbe. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Semun, einer kleinen Vorstadt von Belgrad. Er hatte in Wien Medizin studiert, war dann lange Schiffsarzt bei der Hapag. Theodor Balk war ein Pseudonym, er hieß eigentlich Dragutin Fodor. Er war ab 1929 in Berlin Mitarbeiter verschiedener kommunistischer Zeitungen. Er benutzte ein Pseudonym, weil seine Mutter in Jugoslawien lebte. Er hätte sie durch seine politischen und publizistischen Aktivitäten möglicherweise gefährdet. Sehr einfallsreich war das Pseudonym nicht, vom Balkan auf Balk zu kommen.

In Mexico erfuhren Sie, daß Ihre Familie umgekommen war?

Ich bekam in Mexico einen Brief. Erst erhielt Kisch die Nachricht über die Ermordung seiner Brüder, und dann bekam ich von einem Freund eine Nachricht, eigentlich nur über meine jüngere Schwester. Daß überhaupt niemand übrig geblieben ist, erfuhr ich erst später.

Anders als die meisten anderen Emigranten haben Sie Mexico schon sehr früh nach Kriegsende, noch 1945, verlassen. Wie fanden Sie so schnell eine Möglichkeit zur Rückfahrt?

Der Balk hatte Verbindung zur Besatzung eines jugoslawischen Frachters, der während des Krieges nicht nach Europa zurückkehren konnte. Sie sagten uns Bescheid, sobald sie zurückfuhren. So mußten wir 1945 zunächst nach Montreal in Kanada, wo das Schiff zur Reparatur lag. Für uns war das kompliziert, wir hatten Schwierigkeiten, ein Transitvisum für die USA zu bekommen. Doch schließlich hatten wir eins, kamen nach Montreal und dachten, am übernächsten Tag weiterzufahren. Doch die Hafenarbeiter in Montreal waren im Bummelstreik. So dauerte es bis zu unserer Abfahrt nicht drei Tage, sondern drei Wochen. Da wir – wie immer – kaum Geld hatten und ich schon schwanger war, war das recht schwierig, zumal sich auch die Polizei für uns interessierte. Aber auch diese Zeit ging vorbei, und wir fuhren schließlich los.

Sie hatten sich entschieden, in Jugoslawien zu leben?

Der Balk hoffte bei unserer Überfahrt noch, daß seine Mutter lebte. Sie war jedoch in einem kroatischen Ustascha-Lager umgekommen. Er war 16 Jahre in der Emigration, weg aus Jugoslawien und wollte nach Hause. Ich war damit sehr einverstanden, weil Jugoslawien wegen des Partisanenkriegs einen tollen Ruf unter uns allen hatte. Ich kann mich erinnern, daß mir Freunde schrieben, sie beneideten mich, daß ich in dieses wunderbare Land fahren könne, das sich so toll gehalten und selbst befreit hatte.

Was haben Sie in Jugoslawien nach Ihrer Ankunft gemacht?

Ich begann sehr schnell, in der tschechischen Sendung von Radio Belgrad zu arbeiten. Nach einigen Monaten kam mein Kind auf die Welt, ich habe aber auch weiter gearbeitet. Der Balk ist dann sehr sehr krank geworden. Er war immer kränkelnd, aber da sah es sehr schlecht aus. Er war eng mit einigen Ärzten befreundet, die auch in Spanien waren. Sie behandelten ihn, sagten mir aber, sie seien am Ende ihrer Kunst, sie könnten ihm nicht helfen, weil sie die notwendigen Medikamente nicht hätten. Sein Zustand sei kritisch. Ich ging zur tschechoslowakischen Botschaft, und binnen 48 Stunden hatte ich ihn in einem Krankenhaus in Prag. Später kam er nach Karlsbad zur Kur. In Jugoslawien hatten sie einfach nicht die Mittel. Das Land war verwüstet. 40 Prozent von Belgrad, praktisch jedes zweite Haus, waren weggebombt. Es gab nichts. Auf den Lebensmittelkarten war alles Mögliche draufgedruckt, man hat es nur nie bekommen, weil nicht einmal die elementarsten Grundnahrungsmittel vorhanden waren. Es war sehr, sehr schwierig.

Hatte der jugoslawische Sonderweg innerhalb des sozialistischen Lagers schon begonnen, als Sie dort waren?

Nein, das war etwas später. Als der Balk in Karlsbad zur Erholung war, fuhr ich mit unserem kleinen Kind dorthin, um ihn für eine Woche zu besuchen. Genau in dieser Zeit begann der Konflikt. Wir blieben in der Tschechoslowakei. Ob das gescheit war oder nicht, sei dahingestellt. Wir hatten Freunde in Belgrad, die wiederum von Tito umgebracht wurden – die Wahl ist einem schwergefallen.

So waren Sie nach etwa zehn Jahren Abwesenheit wieder in Ihrer Heimat...

Das spielte eine Rolle. Wir sagten uns, wenigstens einer müsse zu Hause sein. Und ich wollte nicht mehr weg. Das hat sich dann in den fünfziger Jahren sehr „gelohnt“. Trotzdem bin ich froh, daß ich diese Entscheidung getroffen habe.
Ich begann, als Journalistin beim tschechoslowakischen Rundfunk zu arbeiten. Eines Tages, im Jahr 1952, wurde ich ohne Begründung entlassen. Wir dachten uns damals, das hinge mit Jugoslawien zusammen, wir seien deshalb suspekt. Dann verhafteten sie André Simone, der auch in Mexico im Exil gewesen war. Zehn Tage danach wurde ich verhaftet. Ob es einen Zusammenhang gab, weiß ich nicht.

Ich war fast 15 Monate im Gefängnis, teilweise in Einzelhaft, teilweise mit einer anderen Frau in der Zelle. Dann hatte ich das Glück, daß durch den Tod Stalins und Gottwalds (Generalsekretär der tschechoslowakischen KP – G.E.) die ganze Sache zu bröckeln begann.

Was war Ihrer Einschätzung nach der Grund für die Verhaftungswellen gegen kommunistische Intellektuelle in den fünfziger Jahren?

Das ist schwer zu sagen. Ich kann es bis heute nicht verstehen. Es kam natürlich aus Moskau. Dort hatte es begonnen, dann setzte es sich in all den Ländern, Ungarn, Bulgarien, der DDR, fort. Leider gab es in meinem Land, der Tschechoslowakei – wir sind weiß Gott kein kriegerisches Volk – die meisten Opfer. Wir haben 14 Menschen umgebracht in diesen Prozessen – das konnte kein Mensch verstehen. Politisch verantwortlich war dieser Gottwald. Warum er das gemacht hat, was er damit erreichen wollte, oder welche Angst er hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte er Angst. Er war beim Begräbnis von Stalin, ist zurückgekommen und ungefähr zehn Tage danach gestorben – das war sicher kein Zufall. Er war ein notorischer Alkoholiker, das war bekannt, aber wahrscheinlich hat er bei diesem Begräbnis irgendetwas erfahren über anstehende Veränderungen, die auch sein Ende bedeuten würden. Und in seiner Panik ist er einfach umgekippt.

Von den Verhafteten wurde immer behauptet, sie seien Agenten. Gab es zwischen Ihnen und den anderen Verhafteten überhaupt irgendwelche Verbindungen? Hatten Sie z.B. eine Art Gruppe oder losen Zusammenhang, oder war alles zufällig und konstruiert?

Nein, es gab nichts dergleichen. Ich habe mir darüber auch den Kopf zerbrochen und bin zu dem Schluß gekommen, daß es keine nachvollziehbaren Gründe gab. Leute wurden verhaftet, und dann suchte man etwas, das man ihnen vorwerfen konnte. In meinen Verhören ging es z.B. um die französische Emigration, dann um Jugoslawien, dann um Leute, die ich aus der Vorkriegs-KP kannte. Sie tasteten die ganze Zeit nach etwas, auf dem sie ihre Anklage aufbauen konnten.

Während eines Verhörs sagten sie mir auch: „Ihr Kisch, das war auch ein schöner Agent.“ Ich antwortete darauf, es habe in Mexico immer Gerüchte gegeben, daß er ein Agent der GPU (sowjetischer Geheimdienst – G.E.) sei. Darauf haben sie nichts mehr gesagt.

Die Opfer der Verfolgungen waren meistens Leute, die in der sogenannten Westemigration – also nicht in der Sowjetunion – waren?

Nicht nur. Es waren auch Spanienkämpfer, die hatten eine ganz schlechte Nummer. Dabei hätte man stolz auf sie sein sollen! Es war ein Irrsinn, wirklich. Aber ein Irrsinn, der vielen Menschen das Leben kostete. Und die noch einmal davon kamen? Mein guter Freund Goldstücker wurde zu lebenslänglich verurteilt. Nach neun Jahren kam er raus. Wer gibt ihm diese neun Jahre wieder?

Es muß für Sie besonders schlimm gewesen sein, in der Tschechoslowakei verhaftet zu werden. Als Antifaschistin und Tschechin in Frankreich interniert zu werden, war sicher hart, aber als Kommunistin in einem sozialistischen Land eingekerkert zu werden, muß noch härter gewesen sein.

Das war wahnsinnig, das war eigentlich das Schwerste. Mehr noch. Als ich in Frankreich verhaftet wurde, war ich ein junges Mädchen und unabhängig. Und ich sagte mir, irgendwie ist dir das jetzt passiert, und irgendwie kommst du da durch. Als ich in der Tschechoslowakei verhaftet wurde, hatte ich zu Hause ein kleines Kind. Das ist eine unbeschreiblich größere Belastung. Meine zeitweilige Zellennachbarin sagte mir, ich müsse mit mindestens sieben Jahren rechnen. Ich habe ständig gerechnet, wie alt wird meine Tochter dann sein, nach sieben Jahren, und wird es mich überhaupt noch akzeptieren? Mein Mann kümmerte sich um sie, aber ich wußte, er ist ein kränkelnder Mann.
Wenn man eingekerkert wird, ist der Rest eigentlich ziemlich egal. Sicher, es gibt bessere und schlechtere Gefängnisse. Aber die Tatsache ist immer dieselbe – die Tatsache, daß man seiner Freiheit beraubt wird.

Hatten Sie einen Prozeß, und wurden Sie verurteilt?

Nein, ich bin nach eineinhalb Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

Sie mußten dann aus Prag weg?

Ich mußte nicht offiziell weg. Ich war praktisch weg. Meine Familie war kurz vorher aus Prag expediert worden. Meinem Mann wurden eine Arbeitsstelle und eine Wohnung in der Provinz zugewiesen. Das war auf kaltem Wege gelaufen. Ich suchte eine Arbeit und begann, in einem Großhandelsbetrieb für Glas und Porzellan zu arbeiten. Das hat mir ziemlichen Spaß gemacht, es waren schöne Artikel, und ich kam mit Menschen in Beziehung. Das war nicht das Schlimmste, es hätte schlimmer ausfallen können.

Sie waren seit Ihrem 16. Lebensjahr Kommunistin. Haben Sie sich, als Sie aus dem Gefängnis kamen, immer noch als Kommunistin gefühlt?

Ehrlich gesagt, habe ich mich als gar nichts gefühlt. Da war etwas zerschmettert. Eineinhalb Jahre später kehrten wir nach Prag zurück, dank der freundschaftlichen Geste eines Jugendfreundes von mir, der uns in seine Wohnung aufnahm. Alle Leute redeten mir zu, ich solle doch wieder irgendeine Verkäuferinnenstelle annehmen. Das wollte ich aber nicht. Ich hatte lange genug Glas und Porzellan verkauft. Ich wollte wieder in meinem Beruf als Journalistin arbeiten. Schließlich wurde ich in einem großen Verlag angenommen, dem Orbis-Verlag, und wurde Redakteurin der deutschsprachigen Zeitschrift „Im Herzen Europas“. Sie brauchten dafür Leute, die deutschsprachig waren und journalistische Erfahrung hatten. Nach ein paar Wochen kam jemand von der dortigen Betriebsorganisation der Partei zu mir. Er sagte mir, sie wüßten genau, wer ich sei und was mir widerfahren sei. Es wäre eine Schande. Sie würden sich für meine Wiederaufnahme in die Partei einsetzen. Ich bräuchte nicht den kleinsten Finger zu rühren. Einen Monat später kam er wieder zu mir und sagte, ich solle am Abend zur Parteiversammlung kommen. Ich bin hingegangen. Und ich muß sagen, ich habe das nicht bereut. Als sich in den sechziger Jahren der Umschwung bei uns anbahnte, der zum Prager Frühling führte – diese ganze Erneuerung kam ja aus der Partei heraus –, war ich froh, daß ich dabei war und mitstricken konnte. 1968, nach dem Einmarsch der Sowjets, flog ich dann endgültig raus. Wenn ich heute eine Maxime habe, dann ist es die, daß ich bis an mein Lebensende nie mehr irgendwo Mitglied sein will.

Was war das für eine Zeitschrift, bei der Sie tätig waren?

Der Orbis-Verlag war der offizielle Verlag des tschechoslowakischen Außenministeriums. Er bestand bereits vor dem Krieg und brachte damals eine deutsche Tageszeitung heraus, „Die Prager Presse“, mit sehr guten Journalisten. Der Beneš sagte sich, die Regierung der jungen tschechoslowakischen Republik brauche ein Organ, und das müsse auf deutsch sein, denn Tschechisch könne doch einen Meter jenseits unserer Grenze sowieso keiner lesen. Diesen Verlag hat man nach dem Krieg erneuert, und er brachte in verschiedenen Sprachen Monatszeitschriften heraus, um die Tschechoslowakei im Ausland zu präsentieren. Mit „Im Herzen Europas“ haben wir von der ersten Stunde an das aus der Tschechoslowakei präsentiert, was uns präsentabel erschien aus Kultur und Politik. Später, nach meinem Parteiausschluß, hörte ich den Vorwurf, ich hätte mit Staatsgeldern antistaatliche Propaganda gemacht. Ich war vorige Woche in Leipzig. Da kam ein Mann, legte eine Nummer dieser Zeitschrift vom März 1968 vor mich und bat: „Frau Reinerová, unterschreiben Sie mir das.“ Er sagte, er hätte alle Nummern dieser Zeitschrift, die in der DDR immer unter dem Ladentisch verkauft wurde. Ich hätte im März 1968 einen Artikel geschrieben, den er mindestens 20mal gelesen hätte. Ich selbst weiß gar nicht mehr, was ich da geschrieben habe, ich muß das mal nachlesen. Die Zeitschrift hatte 12 000 Abonnenten in der Bundesrepublik. Auch das wurde mir später vorgeworfen: Was das denn für eine Zeitschrift war, wenn 12 000 Bundesbürger bereit waren, dafür zu zahlen! So hat sich das dann angehört – die Devisen, die die Bundesbürger zahlten, wurden allerdings gerne genommen.

1964 war ich in Prag bei der Premiere eines neuen tschechischen Stücks, absurdes Theater. Ich fand es sehr interessant und übersetzte einige Passagen, um sie in der Zeitschrift zu veröffentlichen. Daraufhin erhielt ich einen Brief von Boleslaw Barlog, dem Intendanten der Schaubühne in Berlin. Er schrieb, das sei ein wahnsinnig talentierter Autor, ob ich ihm mehr über ihn sagen könne. Ich schrieb ihm, der Mann sei 28 Jahre alt, hieße Vaclav Havel, und das sei sein erstes Stück. Barlog nahm dann mit ihm Verbindung auf, und Havel hatte seine erste Premiere hier in Berlin.

Wie haben Sie die kurze Phase des Aufbruchs erlebt, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte einging?

Das war eine tolle Zeit. Das gehört zu den besten Kapiteln meines Lebens. Sozialismus mit menschlichem Antlitz war die Parole. So sollte es auch sein. Es wäre der richtige Sozialismus gewesen, wenn es gelungen wäre. Denn das, was unter der Bezeichnung Sozialismus lief, war ja keiner.

Die Stimmung im Land war unheimlich. Und nicht nur in der Tschechoslowakei. Ich hatte in meiner Redaktion Stöße von Parteibüchern aus der DDR, die uns die Leute als Sympathiebeweis geschickt hatten. Sie wollten mit der SED nichts mehr zu tun haben. Nach der Besetzung hatte ich wahnsinnig damit zu tun, diese Bücher den Leuten wieder zukommen zu lassen, damit sie keine Probleme bekamen.

Im nachhinein weiß man, daß es nicht gut ausgehen konnte. Das konnten sie nicht zulassen. Das hätte um sich gegriffen. Der Westen hat ja auch nicht den kleinsten Finger gerührt. Nichts haben sie getan. Das war ziemlich eindeutig. Denn wenn es aufgegangen wäre, würde wahrscheinlich die ganze Welt ein bißchen anders aussehen.

1968 war der Kapitalismus ideologisch weltweit in der Defensive, das wäre eine ganz andere Situation geworden. Aber es kamen die sowjetischen Panzer und walzten alles platt. Was ist Ihnen dann passiert?

Es ging noch ein Jahr, bis alles „normalisiert“ war. Ich muß sagen – so überraschend es klingen mag –, die ersten Monate nach der Invasion waren mit die schönsten. Die Leute waren noch nicht gebrochen und resigniert, sondern leisteten passiven Widerstand. Ich erinnere mich an die erste Nummer von „Im Herzen Europas“ nach der Invasion. Wir hatten am Anfang immer vier Seiten Fotos, möglichst schöne Fotos mit entsprechenden Legenden. Die Seiten waren schon fertig gestaltet, doch wir warfen alles raus und nahmen Aufnahmen von sehr schönen gotischen Prager Kirchtürmen hinein unter dem Titel „Das aufrechte Prag.“ Die Leser haben glänzend reagiert, sie haben genau kapiert, worum es ging.

Nach einem Jahr wurde ich fristlos entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Nicht nur ich, damals wurden 450 000 Menschen aus der Partei ausgeschlossen.

Vierhunderfünfzigtausend?

Ja, vierhundertfünfzigtausend. Und sofern sie Berufe hatten, in denen sie öffentlich wirken konnten, bekamen sie auch Berufs- und Publikationsverbot. Auch ich hatte bis 1989 Publikationsverbot. Ich besann mich dann, daß ich Sprachen konnte, und versuchte, mich als Dolmetscherin durchzuschlagen. Ich hatte vorher schon manchmal gedolmetscht, in der Kabine. Das ging, es wußte ja niemand, wer in der Kabine hinten im Saal saß. Ich wollte keine Politik übersetzen – davon hatte ich die Nase voll – und habe mich auf Medizin spezialisiert.

Dann fing ich auch an, Bücher zu übersetzen. Das konnte ich wegen des Publikationsverbotes nicht unter meinem eigenen Namen machen. Ich fand aber eine Frau, die meine Verträge unterschrieb. Nicht nur aus reiner Solidarität oder Menschenliebe, sondern weil sie dadurch als Literatin eingestuft wurde und weniger Steuern bezahlte. Mir war angenehm, daß sie mir keine Gnade erwies, sondern etwas davon hatte. Ob da nun mein Name als Übersetzerin stand oder nicht, war mir egal. Ich habe es sehr gerne gemacht und habe mich bei den Übersetzungen auf bildende Kunst spezialisiert. Bei den Übersetzern waren viele Leute untergetaucht, die vorher Journalisten, Autoren u.ä. waren. Das war an sich keine schlechte Arbeit.

Haben Sie mal an Weggehen gedacht?

Nein, überhaupt nicht. Meine Tochter ist weggeblieben. Als Studentin war sie im Sommer 1968 mit ihrem damaligen Freund und späterem Mann in England, wie Hunderte anderer tschechischer Jugendlicher. Das war damals plötzlich möglich. Sie wollten dort einen Monat irgendetwas arbeiten und dann durch England trampen. Und inzwischen passierte, was passiert ist, und in England saßen Hunderte von unseren Jugendlichen. Wahrscheinlich – das ist meine Interpretation – weil England noch ein schlechtes Gewissen wegen München hatte (im Münchener Abkommen von 1939 stimmten England und Frankreich der Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland zu – G.E.), bekamen alle tschechischen Studenten, die dableiben wollten, ein Stipendium. So blieb meine Tochter in England und lebt dort noch immer. Meine Tochter war weg, mein Mann war sehr kränkelnd, und ich wollte nicht noch einmal in die Emigration. Ich denke, das war eine richtige Entscheidung.

Haben Sie während ihres Publikationsverbots weiter geschrieben?

Ich habe für die Schublade geschrieben, aber aus meiner Schublade ist inzwischen alles wieder rausgekommen, gar nicht schlecht.

Und das wurde dann zunächst in der DDR veröffentlicht?

Ja, das Merkwürdige, das Bemerkenswerte ist, daß sich ab Anfang der achtziger Jahre ein DDR-Verlag (der Aufbau-Verlag – G.E.) für mich zu interessieren begann. 1983 erschien mein erstes Buch in der DDR. Das war gar nicht so einfach. Ich konnte nicht einfach als Tschechin einen Vertrag mit einem DDR-Verlag machen. Unsere damalige offizielle literarische Agentur mußte das genehmigen. Ich brachte ihnen einen Durchschlag des Manuskripts. Sie sagten erstaunt: „Das ist doch deutsch“. Ich fragte sie, ob sie glaubten, ein Verlag in Berlin publiziere ein Buch auf tschechisch. Da sagten sie, sie wollten das Manuskript auf tschechisch haben. Ich antwortete, es täte mir leid, das Buch gäbe es nur auf deutsch, und es würde sich doch wohl im Kulturministerium jemand finden, der diese exotische Sprache beherrsche. Es war für sie natürlich eine peinliche Situation, wenn ein DDR-Verlag das Manuskript akzeptierte, dann konnten sie schlecht sagen, daß es fehlerhaft o.ä. sei, d.h. sie waren in eine unangenehme Lage geraten. Nach ein paar Wochen bekam ich den Stempel. Ich bin überzeugt davon, daß es nie jemand gelesen hat.

Der Lektor oder Verlagsverantwortliche, der Ihr Manuskript in der DDR angenommen hat, muß durchaus Mut und Rückgrat gehabt haben. Schließlich waren Sie eine Autorin, die in einem sozialistischen Bruderland Publikationsverbot hatte.

Das war Günter Kaspar, er war damals noch Cheflektor des Aufbau-Verlages und wußte, wer ich bin. Er hat das auf sich genommen. Das erste Buch, das damals bei ihnen erschienen ist, war der „Schwanensee“ – und wer konnte etwas dagegen sagen, daß ich über Ravensbrück geschrieben habe. Das wäre schwierig zu begründen gewesen.
Beim nächsten Buch wiederholte sich das gleiche Spiel. Und 1991 bin ich wieder auf tschechisch erschienen. Und zwar in dem Orbis-Verlag, der mich rausgeschmissen hat – das wollte ich.

Wie haben Sie den Umbruch 1989 erlebt?

Die ersten Tage bei uns waren schön, es war eine echte Volkserhebung. Damals sagte der Havel noch, er mache nur weiter, wenn der Dubcek neben ihm bleibe. Das änderte sich bald. Die Entwicklung war nüchtern gesehen unausweichlich.

Wie es weitergehen wird, das ist die Frage. Wenn man uns jetzt den jungen, wilden Kapitalismus aufoktroyiert, wird das auch nur eine Weile dauern. Das wird wieder anders werden. Das Leben hat sich so verändert und ändert sich mit rasender Geschwindigkeit immer mehr, so daß ich denke, daß kein Muster einer gewesenen Gesellschaftsordnung auf die jetzigen und künftigen Verhältnisse paßt. Wenn man nur die Kommunikation nimmt: Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, wissen wir es im selben Augenblick. Daß wir im Wohnzimmer sitzen und uns einen Krieg anschauen, das hat es noch nicht gegeben, das ändert doch das Leben. Und jetzt um Gottes Willen, was sich in der Medizin abspielt, z.B. in der Gentechnik.

Sie schreiben schon über 50 Jahre, sind aber erst in hohem Alter eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden. Ihre Bücher werden in Deutschland und der Tschechoslowakei verlegt und gut verkauft. Was bedeutet der literarische Erfolg für Sie?

Ich mußte wirklich ziemlich alt werden, ehe ich irgendwie eine Resonanz erfahren habe. Ehrlich gesagt, hat mir das gar nicht so sehr gefehlt. Es verblüfft mich weiterhin, daß es so ist. Wenn ich jetzt ab und an auch vom tschechischen Fernsehen aufgesucht werde und rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, erstaunt mich immer noch, wenn mich danach Menschen deswegen ansprechen.

Schreiben Sie auch literarische Texte auf tschechisch?

Ich habe ein kleines Buch geschrieben, das nur tschechisch erschienen ist und nicht wieder aufgelegt wird. Es ist ein Buch über die fünfziger Jahre, über mein Gefängnis, das den Titel „Die Farbe der Sonne und der Nacht“ trägt. Das habe ich ausnahmsweise auf tschechisch geschrieben, es war mir sozusagen eine innere Angelegenheit. Und ich wollte absolut nicht, daß das irgendwo sonst erscheint. Es hat mir die Ehre eingebracht, daß ich auf der Liste der verbotenen Bücher bin. 1969, nach der Invasion, ist es noch knapp durchgerutscht, wurde gedruckt und kam sofort auf diese Prohibiti-Liste. Es ist aber da. Es hat seine Funktion erfüllt.

Das heißt, es hängt vom Thema ab, in welcher Sprache Sie schreiben?

Eigentlich schreibe ich deutsch. Aber warum hätte ich in dem Fall deutsch schreiben sollen? Abschließend möchte ich noch etwas bemerken. Was ich erzählt habe, klingt alles sehr dramatisch. Es war auch dramatisch, aber es war um Gottes Willen nicht tragisch. Natürlich gibt es tragische Dinge in meinem Leben. Es ist nicht einfach, wenn man seine Familie verliert. Meine Tochter leidet sehr darunter, daß sie keine Familie hat. Sie sagt, hinter ihr sei nichts. Aber das ist weiß Gott kein Einzelschicksal, das ist leider das Schicksal jener Generation, jener Epoche. Ich habe drei Krebsoperationen hinter mich gebracht, eine davon noch, bevor ich verhaftet wurde. Als ich im Gefängnis Kontrolluntersuchungen verlangte, sagte man mir, bei uns müßte alles erst verdient werden, also bekam ich keine Kontrolluntersuchungen. Ich habe es trotzdem überlebt (lacht).

Das Interview führte Gert Eisenbürger im Juni 1997 in Berlin.