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Meine Sprache ist mein innerer Ort

Interview mit Esther Andradi

Die Verfolgung der politischen Opposition in Argentinien begann anders als etwa in Chile nicht erst mit dem Militärputsch im März 1976. Bereits 1974/75 führten die Streitkräfte den sogenannten „schmutzigen Krieg“ gegen die „Subversion“. Dazu zählten sie die Mitglieder von Guerillaorganisationen, aber auch alle, die „verdächtig“ waren, mit diesen zu sympathisieren. Zum „Verdächtigsein“ reichte, in irgendeiner Weise politisch, sozial oder gewerkschaftlich engagiert zu sein. Ein besonderes Verdachtsmoment war, jung und StudentIn zu sein. Dieses Klima erlebte Esther Andradi als junge Studentin an der Universität von Rosario. Wie viele andere junge Leute wollte sie einige Zeit Argentinien verlassen, bis sich die Lage wieder normalisiert hätte und ging 1975 nach Peru. Dort entwickelte sie zwei Grundoptionen, die ihr weiteres Leben prägen sollten: Sie wurde Feministin und verschrieb sich einem engagierten, anspruchsvollen Journalismus, dessen Kennzeichen es ist, die Dinge unter der Oberfläche sichtbar zu machen. 1982 siedelte sie ins damalige West-Berlin über, wo sie weiter feministisch und journalistisch arbeitete und gleichzeitig begann, belletristische Texte zu schreiben. Nach fast 13 Jahren in Berlin zog sie Anfang 1995 mit Mann und Tochter – vorläufig – nach Buenos Aires.

Gert Eisenbürger

Jeder geographische Ortswechsel impliziert den Schritt in ein anderes kulturelles und soziales Umfeld. Dazu gehört die Erfahrung des Fremden wie auch seine intellektuelle und sinnliche Verarbeitung. Dein bisheriges Leben teilt sich in drei Phasen auf, die drei geographischen Orten entsprechen: Argentinien, Peru und Deutschland. Wieso bist du aus deinem Heimatland Argentinien nach Peru gegangen?

Ich verließ Rosario 1975 in einer in Argentinien sehr schwierigen Zeit, um nach Lima zu gehen. Diejenigen unter uns jungen Leuten damals, die das Land verlassen konnten, taten das auch, denn es war eine Möglichkeit, andere Luft zu schnuppern. Die Zeit war sehr von politischer Gewalt geprägt, es gab wenige Perspektiven und in politischer Hinsicht sehr wenig Hoffnung. Ich war zwar politisch engagiert, aber politisches Engagement war für mich keine Frage auf Leben und Tod, wie viele Jugendliche jener Zeit wollten wir einfach nur eine andere Gesellschaft. Ich hatte an der Katholischen Universität von Rosario Publizistik studiert. Wir hatten mit einigen Leuten die erste politische Gruppe an diesem Fachbereich gegründet, eine sozial und christlich inspirierte Gruppe, die stark durch eine Bewegung von Priestern und Ordensleuten in Argentinien geprägt war, die sich „Priester für die Dritte Welt“ nannten. Heute würde man sie als Befreiungstheologen bezeichnen.

1975 schloß ich mein Studium ab. Um zu verdeutlichen, wie diese Zeit damals für mich war, greife ich immer gern zu einem kleinen Beispiel, denn es ist vielleicht die beste Erklärung dafür, wieso sich jemand gezwungen fühlt, zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Land zu verlassen. Ich war damals noch sehr jung, ich war gerade dabei, mein Studium an der Universität abzuschließen, und ich arbeitete parallel dazu in einem der wichtigsten Radiosender. Bei diesem Sender wurde innerhalb eines Jahres neunmal der Direktor ausgetauscht. Aber nicht jedesmal ging das so vor sich, daß er einen Brief erhielt, in dem stand: „Herr Direktor, hiermit werden Sie von Ihrem Amt suspendiert...“, oder so ähnlich, wie man diese Sachen eben formal ausdrückt. Es konnte passieren, daß vor der formalen Kündigung eine Gruppe Bewaffneter auftauchte, ein „Schlägertrupp“, der den Direktor mit Fußtritten hinter seinem Schreibtisch hervorholte... Mit kaum zwanzig Jahren und einem Haufen Illusionen im Kopf kann man es sich nicht leisten, solche Situationen dauernd mitzuerleben. Also sagte ich eines Tages: Aus diesem Land muß ich weg, denn hier gibt es nichts mehr für mich zu tun. Und so fuhr ich also nach Peru...

Die Argentinier, die ihr Land 1975/76 verlassen haben, sind in sehr unterschiedliche Länder Europas und Lateinamerikas gegangen. Nach Peru hat es aber wohl nur sehr wenige verschlagen?

Die meisten jungen Leute emigrierten nach Europa. Ein Charterflug nach Madrid war sogar noch etwas billiger als nach Lima. Aber ich entschied mich für Lima, weil ich nicht so weit weg wollte. Außerdem machten wir uns zu jener Zeit viele Illusionen über dieses Land. Auf der Ebene der Kommunikationsmedien sollten angeblich unheimlich wichtige Dinge im Gang sein. So wurden etwa die Medien enteignet. Klar, von außerhalb hörte sich das alles ganz phantastisch an. Also sagte ich mir: Nun gut, das ist genau das Land, in dem ich einige Erfahrungen machen könnte, während sich die Lage in meinem eigenen Land etwas beruhigt. Ich fahre einfach für drei Monate nach Peru, um mitzuerleben, wie das ist, wenn die Medien enteignet sind... Aus diesen drei Monaten wurden fast acht Jahre.

Du kommst ursprünglich aus einem kleinen Dorf in der argentinischen Pampa, hast länger in der Industriestadt Rosario studiert und kamst dann nach Lima, in eine Stadt und in ein Land, wo die Unterschiede zum Leben in Argentinien beträchtlich sind. Wie hast du diesen Wechsel erlebt?

Zunächst einmal muß ich kurz erzählen, wie jener Ort ist, in dem ich geboren wurde, ein winziger Ort in der argentinischen „Gringa“-Pampa mit 1096 EinwohnerInnen laut Zensus von 1980. Ein Ort, in dem größtenteils Abkömmlinge europäischer ImmigrantInnen lebten, wo die Leute von Land- und Viehwirtschaft leben; ein relativ reiches Gebiet eigentlich, weil die Pampa fruchtbar ist. Den ersten Kontrast dazu bildet allerdings schon das Dorf selbst. Denn dort gibt es – oder gab es in jener Zeit – nur eine Grundschule. Und wenn jemand auf das Gymnasium wollte, mußte er oder sie in eine andere, etwas größere Stadt fahren. Und wer anschließend auch noch auf die Universität wollte, mußte noch etwas weiter weg in eine noch größere Stadt usw... So fanden meine ersten Begegnungen mit der Welt statt, aber zu einer Zeit, wo ich zwölf, dreizehn Jahre alt war, hatte ich keine großen Vorstellungen von dem, was „fremd“ bedeutet. Darüber beginnt man erst nachzudenken, wenn man in ein wirklich anderes Land kommt, in dem eine andere Sprache gesprochen wird und das eine andere Geschichte hat. Erst dann läßt sich all das thematisieren. Zu jenem Zeitpunkt aber geschah alles sehr spontan. Für mich stand alles unter dem Vorzeichen von Aggression und Konflikt. Ich durchlebte schließlich alles als Abenteuer der Veränderung, wenn auch durchaus konfliktiv. Aber es war auch eine sehr wichtige Phase in meinem Leben, denn ich erlebte plötzlich vollkommen neue Situationen. Die wirklich großen Probleme kommen erst später, wenn man das Land wechselt, wenn man die Sprache wechselt, was meines Erachtens zwei unterschiedliche Probleme sind.

Für mich bedeutete Peru, das Land zu wechseln. Gemeinhin denkt man, daß wir schließlich alle LateinamerikanerInnen sind, daß wir daher alle gleich sind usw. Kein Problem also. Es gab jedoch Details im Alltag, die zusammengenommen eine Grammatik bildeten, die nicht immer zu meiner paßte. Das Spanisch, das in Peru gesprochen wird, ist nicht das gleiche, das wir in Argentinien sprechen, ebensowenig die Art, sich zu kleiden, denn in der Tat gab es dort ja eine Reihe sozialer Gruppen, die mit denen in Argentinien nicht übereinstimmten. Ich brachte zwar eine gewisse Vorstellung von Peru mit, doch sie hatte im Grunde mehr mit den Büchern zu tun, die ich gelesen hatte, als mit der Wirklichkeit, die sich als viel komplexer und vielschichtiger herausstellte. Als ich in Lima ankam und Leute aus der Sierra sah, die auf einer Plastikquena (Flöte) spielten, dachte ich, ich falle tot um. Wieso aus Plastik, wie konnte es sein, daß alles vermischt war statt in Reinform? Genau so etwas passiert dann. Wenn frau in das hinterste Dorf in der Puna kommt und dort plötzlich eine Musicbox entdeckt, wo sich zwischen den Huaynos John Travolta oder Udo Jürgens finden, geraten alle Maßstäbe durcheinander.

Als ich z. B. das erste Mal in Peru in der Andenregion war und dort als die „Señorita rubia, que viene de Argentina“ (die blonde Señorita, die aus Argentinien kommt) vorgestellt wurde, dachte ich: Das darf doch nicht wahr sein! Ich hatte eine Mütze auf dem Kopf, so daß man meine Haare, die in Wirklichkeit dunkel sind, nicht einmal sehen konnte. Aber was die Leute dort in Wirklichkeit sagen wollten, war lediglich, daß ich nicht aussah wie eine India.

Da habe ich angefangen zu verstehen, was dieser große Unterschied zwischen den Bevölkerungsgruppen in Peru bedeutet. Eine Sache sind die Leute, die in den Bergen wohnen. Die haben eine ganz andere Kultur, eine ganz andere Sprache, eine ganz andere Entwicklung und eine ganz andere Beziehung zum Land. Die fühlen sich erst einmal nicht als PeruanerInnen, sondern als Quechuas oder Aymaras, und erst in zweiter Linie sind sie – je nachdem – PeruanerInnen oder BolivianerInnen. Diese ganze Geschichte war für mich wahnsinnig, weil ich damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Das war für mich der erste Schock. Ich bin heute für diese Erfahrung dankbar, denn das war für mich eine sehr wichtige Phase, weil ich angefangen habe, meine ganze Information, meine ganze Ausbildung in Frage zu stellen und mich mit einer anderen Geschichte und Kultur auseinanderzusetzen. Dazu gehörte auch, mein eigenes Land, meine eigene Geschichte in Frage zu stellen. Ich fragte mich vor dem Hintergrund der peruanischen Erfahrungen zum Beispiel nach den Rassenproblemen in Argentinien. Die es natürlich auch gibt, und wie! Aber wir haben sie alle mehr oder weniger verdrängt. Plötzlich kommt man in ein Land, wo diese Probleme viel deutlicher und offener zutage treten, und man fragt sich, was ist das denn, wo stehe ich jetzt überhaupt? Ich glaube, wenn ich den Vergleich machen darf, Peru war für mich so etwas wie eine andere Universität. Es war die Universität, in der ich Dinge gelernt habe, die in keiner Universität von Argentinien gelehrt werden.

Wie hast du dich dann nach den ersten Erfahrungen in Peru integriert?

In den Zeitungen und Massenmedien Perus lief damals etwas Interessantes, nämlich der Versuch des „Dritten Wegs“ auch in den Medien, eines Wegs zwischen der privatwirtschaftlichen und staatlichen Organisation der Massenmedien. Die utopische Idee dieses „Dritten Wegs“ war, die Massenmedien den sozialen Gruppen und Sektoren zu übergeben. Im Zuge der Landreform hatte die Regierung schon die Großgrundbesitzer teilweise enteignet. Die Zeitung der Großgrundbesitzer war El Comercio. Auch sie enteignete die Regierung und verfügte, daß diese Zeitung nun den Bauern gehören sollte. Und so lief das auch mit verschiedenen Zeitungen, die dann den Lehrern, den Gewerkschaften oder anderen sozialen Gruppen übertragen werden sollten. Die Frage war, wie kann man diese Zeitungen autonom weiterführen, wie können sie tatsächlich z. B. von den Bauern und nicht von irgendwelchen Regierungsköpfen geleitet werden, die im Namen der Bauern sprechen. Das war die Frage, die natürlich nie beantwortet wurde, und bald ist das ganze Experiment auch gescheitert.

Aber ich bin genau in dieser Zeit nach Peru gekommen, als es begonnen wurde. Es war eine ungeheuer kreative Phase, wo neue Ideen entwickelt wurden und versucht wurde, diese umzusetzen. Es war wie ein großer Topf, in dem etwas Neues gekocht wurde. Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und Sozialarbeiter machten mit. In diesem Klima hatte auch ich als junge Journalistin, die gerade ihr Studium beendet hatte und in Argentinien bei den großen privaten Zeitungen sowieso keine Chance gehabt hätte, die Möglichkeit, etwas zu machen. Ich wurde von den verantwortlichen Redakteuren der verschiedenen Zeitungen empfangen, wir sprachen miteinander, und sie fragten, worüber ich schreiben wollte. Ich sagte mir, in Argentinien gibt es so viele politische Probleme, hier ist es genauso; besser, ich schreibe über Frauen. Ich hatte meine Magisterabeit über das Frauenbild in den Massenmedien Argentiniens, am Beispiel von vier ausgewählten Frauenzeitschriften, geschrieben. Als ich 1975 nach Peru kam, war gerade das „Internationale Jahr der Frau“, und die Frauenfrage war sehr gefragt.

Das war für mich wie eine Tür, die sich öffnete. Ich lernte dadurch z. B. eine Frau kennen, die für mich später sehr wichtig wurde, nicht nur als politische Person, sondern auch als private Freundin, Ana María Portugal. Sie war damals auch bei einer Zeitschrift tätig. Weil ich dort gelegentlich meine Artikel ablieferte, lernte ich sie kennen. Ana María sagte irgendwann zu mir, sie gehöre zu einer feministischen Gruppe. Ich dachte sofort, da sind vielleicht meine zukünftigen Freundinnen. Ich hatte eigentlich keine richtig politische Idee, als Feministin zu agieren, aber ich brauche Freundinnen. Und so bin ich zur ersten feministischen Gruppe in meinem Leben gekommen, und damit hat sich mein Leben verändert.

Die Gruppe bestand nur aus ein paar Frauen, vielleicht fünf oder sechs, sie war keine große Bewegung. Diese Gruppe war übrigens 1973, zwei Jahre vor meiner Ankunft, gegründet worden. Sie hieß damals ALIMUJER (Acción para la Liberación de la Mujer Peruana – Aktion zur Befreiung der peruanischen Frau).

Du sagtest eben, deine Mitarbeit in der Frauengruppe ALIMUJER habe dein Leben verändert. Was war für dich das Wichtigste an dieser Arbeit?

Vor allem war für mich wichtig, das ich mir das erste Mal in meinem Leben erlaubt habe zu sagen, jetzt bin ich da, mit meinem Kopf, meinem Körper und meinen Bedürfnissen, nicht nur abstrakt die Frau, die Gesellschaft, die Regierungen, die Macht...

Plötzlich ging es nicht mehr um die großen Fragen, um die Macht, um die Regierungen, um die Gesellschaft oder die Frau, abstrakt gesehen, sondern konkret um die Person mit ihrem Alltag und ihren Konflikten. Über die Bedeutung dieser Phase schrieb ich einen Essay für das von Gaby Küppers 1992 herausgegebene Buch „Feministamente“. Das heißt, ich sah mir jetzt von hier aus an, was jene ersten Jahre des Feminismus in Lateinamerika bedeuteten. Die große Entdeckung überhaupt war damals: Die Welt des Privaten ist gleichrangig mit der des Öffentlichen. Parallel eroberten wir uns das Lachen und das Feiern, und wir begannen, für ein alternatives Leben zu kämpfen, das nichts mehr zu tun haben sollte mit jener fast religiösen Andächtigkeit und Feierlichkeit, die unsere Arbeit in der Linken begleiteten. Für das Recht auf Ungehorsam zu kämpfen war unsere Art, das Unmögliche zu fordern. Und dann entdeckten wir eines Tages auch, daß wir einen größeren Eindruck hinterließen, wenn wir einen machista mit roter Farbe oder Sahnetorte bewarfen, als wenn wir eine Rede über die geschlechtsspezifische Diskriminierung hielten.

Du hast 1979 zusammen mit Ana María Portugal das Buch „Ser Mujer en el Perú“ (Frausein in Peru) herausgegeben, was ja heute einer der „Klassiker“ der feministischen Literatur in Lateinamerika ist. Wie ist es zu dieser Veröffentlichung gekommen?

Bei unserer journalistischen Arbeit über die Situation und die Benachteiligung der Frauen wurde uns immer wieder entgegengehalten, daß es ja gar nicht so sei, daß die Frauen gesellschaftlich diskriminiert seien. Frauen seien doch überall präsent, auch in einflußreichen Stellungen. Es gäbe eine Vizeministerin, eine Richterin usw. Immer wieder wurden diese beispielhaften Frauen als Vorzeigefrauen angeführt, aber von den ganzen anderen Frauen hat man nie geredet.

So entstand die Idee, ein Buch über Frauen in Peru zu machen, in dem nicht nur die bekannten Frauen zu Wort kommen sollten, sondern auch die unbekannten. Und von den bekannten Frauen wollten wir keine Erfolgsgeschichten bringen, sondern das beleuchten, was sonst im Dunkeln bleibt. Wir sagten uns, wenn immer gesagt wird, hier gibt es eine Vizeministerin, werden wir zeigen, wie sich eine Vizeministerin unter den ganzen männlichen Politikern fühlt, oder wenn gesagt wird, hier gibt es doch eine Gewerkschaftsführerin, werden wir sie fragen, wie es für die einzige Frau in diesen Sitzungen ist, bis spät in der Nacht, immer nur mit Männern zusammen. Also befragten wir eine Gruppe sehr bekannter Frauen, darunter war eben diese Vizeministerin, die Gewerkschafts- führerin, eine der historischen Führerinnen der APRA (peruanische Partei mit sozialreformistischer Tradition – G.E.), eine bekannte Galeristin, eine Schriftstellerin und auch die Führerin einer Bäuerinnen-Organisation. Aber dann haben wir auch eine Sekretärin interviewt, eine ganze normale Hausfrau, eine Prostituierte usw. Als wir mit dem Buch fertig waren, fanden wir keinen Verlag. So haben wir uns gesagt, okay, dann machen wir es selbst und versuchen, die Bücher selbst zu verkaufen. Wir kündigten das Buch in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften an mit einer Telefonnummer, bei der Leute das Buch bestellen und die Veröffentlichung dadurch unterstützen konnten. Die Reaktionen waren wahnsinnig: Die erste Auflage bestand aus 2000 Exemplaren – was in Peru eine ganze Menge ist. Die Hälfte davon war bereits verkauft, bevor das Buch erschienen war. Als es dann heraus war, wurden wir überallhin eingeladen, um über das Buch und unsere Recherchen über die Situation der Frauen in Peru zu berichten. Drei Monate später erschien schon die zweite Auflage, diesmal bei einem Verlag, weil es nach dem Aufsehen, das das Buch erregt hatte, überhaupt kein Problem mehr war, einen Verleger zu finden.

Dieses Thema – bewußt als Frau zu leben – zieht sich wie ein roter Faden – wohl der wichtigste – durch dein eigenes Leben und durch deine literarische Produktion. In der Sparte der Zeugnisliteratur hast du kürzlich die Geschichte einer Frau herausgegeben, die in Deutschland Asyl sucht, also fast so etwas wie die Fortsetzung jener Linie, die du mit deinem Buch „Ser Mujer en el Perú“ begonnen hast...

Es handelt sich dabei um die Geschichte von Aster, einem fünfzehnjährigen Mädchen aus Eritrea, das nach Deutschland flieht. Sie ist aufgenommen in das Buch „Ich bete jeden Tag, bitte laß uns bleiben!“1

Meine Auseinandersetzung mit dem Frausein begann in Peru aus dieser glücklichen Bekanntschaft mit dem dortigen Feminismus heraus, und die Ausrichtung meiner gesamten zukünftigen Arbeit nahm dort ihren Ausgang. Was meine Arbeit bestimmt, ist der weibliche Blick. Ich würde sogar sagen, die einzige bestimmende Linie, die ich habe, ist diese Art, die Dinge zu sehen. Wie du richtig sagst, besteht der verbindende Faden in meiner Arbeit darin zu zeigen, was es hier und heute heißt, Frau zu sein. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, daß er meine journalistische Arbeit ebenfalls durchzieht, sowohl im Radio wie auch in der Zeitungsarbeit, und schließlich auch in der Art, wie ich die Themen behandle, die ich mir ausgesucht habe. Einer meiner durchgängigen thematischen Schwerpunkte ist alles, was mit Frauen, den feministischen Kämpfen in unseren Ländern und dem Eingang dieser Thematik in die Literatur zusammenhängt. Aber ich arbeite auch über kulturelle Unterschiede und die unterschied- lichen Ethnien unseres Amerikas, soweit ich Zugang zu authentischem Material habe. Alle meine Radiosendungen basieren auf Interviews mit den vorgestellten Personen und musikalischen O-Tönen, die meistens in den jeweiligen Ländern selbst aufgenommen sind. In diesem Sinne kann ich mich mit den verschiedensten Themen beschäftigen, aber der Blick bleibt immer der gleiche. 1992 beispielsweise, als alle Welt sich auf die sogenannte Entdeckung Amerikas stürzte, machte ich eine Reihe von Sendungen über die neuen Eßgewohnheiten und die Sinnlichkeit, die die amerikanischen Produkte den europäischen Mahlzeiten bescheren. In meinen Features besangen lateinamerikanische Dichter die Tomate, die Schokolade und die Kartoffel, während Frauen eine wirtschaftliche Analyse ihrer Situation machten. Eine Art Rollentausch, die großen Anklang gefunden hat.

Du bist Anfang der achtziger Jahre von Lima nach Berlin übergesiedelt. Wie bist du nach Berlin gekommen?

Ich war 1980 zum ersten Mal in Berlin. Wegen meiner journalistischen Tätigkeit war ich in Kopenhagen, wo im Juli 1980 ein UN-Frauenkongreß stattfand. Außerdem war ich in den Libanon eingeladen worden, um über die Lage der Palästinenser dort zu berichten. Nach der Frauenkonferenz und dem Besuch im Libanon bin ich nach Berlin gefahren, um dort zwei gute Bekannte, Deutsche, die ich aus Lima kannte, zu besuchen. Als ich nach Berlin kam, war gerade die Zeit der Hausbesetzungen. Berlin war für mich damals eine faszinierende, eine lebendige Stadt. Ich konnte kein Wort Deutsch, ich konnte mit vielen Sachen überhaupt nichts anfangen, aber ich habe einfach die Leute gesehen. Und natürlich habe ich mir von meinen Bekannten vieles erzählen lassen, wie das ist, was das und jenes bedeutet. Was ich dadurch mitbekommen habe und vor allem, was ich wahrgenommen oder mitgefühlt habe, war mir sehr wichtig. Da habe ich gesagt, Mensch, in so einer Stadt, da muß man leben.

Also habe ich alles entsprechend organisiert, und zwei Jahre später war Berlin mein neues Zuhause. Als ich dann einmal hier war, merkte ich, daß viele Dinge sich von außen besser anhören, als sie es sind, wenn man hier lebt, aber da war es schon zu spät für eine Alternative. Und so bin ich dann fast zwölf Jahre hiergeblieben.

Du hast eben über deine Probleme beim Wechsel von Rosario nach Lima gesprochen. Was liegt für dich näher bei Rosario, Berlin oder Lima?

Mein Bezugspunkt ist nicht Rosario, sondern das Dorf, in dem ich geboren wurde. Das ist dieser Punkt, zu dem ich immer zurückkehre, je mehr ich in der Fremde bin. Man erinnert sich viel mehr an die Kleinigkeiten, die Alltäglichkeiten.

Seitdem ich in Berlin bin, frage ich mich häufig, wer ich bin, woher ich komme, woher meine Vorfahren sind. Diese Fragen hatte ich mir in Lima so nie gestellt. In Lima bist du Argentinierin, das bedeutet dort etwas ganz Bestimmtes. Aber hier sind die Ländernamem Argentinien, Brasilien, Peru usw. wie ein Nebel, es ist alles gleich, man sagt hier, man ist Lateinamerikaner. Diese Frage war für mich unglaublich schwierig: Lateinamerikanerin, was bedeutet das überhaupt, Lateinamerikanerin zu sein? Natürlich fragt man sich dann viel mehr, woher kommen meine Großeltern eigentlich, wie ist es mit meinen Eltern, meinen Tanten, meinen Onkeln, wie war das mit der Sprache, die man in der Kindheit gehört hat. Man wird hier viel stärker mit diesen Fragen der Herkunft konfrontiert als in anderen Ländern.

Ich habe hier viele Leute aus Lateinamerika kennengelernt, die nicht die Zwischenstation in einem anderen lateinamerikanischen Land gemacht hatten. Viele Probleme, die sie hier haben, hatte ich hier nicht, wohl aber in Lima. Die erste Trennung war für mich Rosario-Lima, das war für mich eigentlich der größte Schock. Das Reinkommen in ein Land, von dem ich eigentlich gedacht hatte, es sei meinem Land ähnlich, da würde ich keine Probleme haben. Ich hatte gedacht, etwas Gleiches, etwas Familiäres finden zu können, und fand etwas Fremdes vor. Seitdem habe ich keine Angst mehr, irgend etwas Neues zu entdecken, im Gegenteil.

Du hast dann angefangen, neben deiner journalistischen Arbeit auch belletristische Texte zu schreiben, Erzählungen, Kurzgeschichten. War oder ist diese schriftstellerische Arbeit für dich so etwas wie Identitätsfindung in der Fremde, oder hast du immer schon diese Ambitionen gehabt, und sie haben sich dann hier realisieren lassen, weil vielleicht der Raum dafür da war?

Ich glaube, es hat etwas mit meiner Existenz hier zu tun, aber ich habe schon in Peru angefangen, literarische Texte zu schreiben. Aber erst seitdem ich hier bin, habe ich veröffentlicht, habe ich die Kraft gehabt, das zu sagen, das weiterzusagen, das zu veröffentlichen. Das hat tatsächlich etwas mit den großen Fragen zu tun, die man sich hier stellt: Wer bin ich, wohin gehe ich usw. Und vor allem hat es zu tun mit dieser Verbindung, die meine eigene Sprache bedeutet. Zu meiner eigenen Sprache habe ich, seitdem ich hier bin, eine tiefere Verbindung entwickelt. Meine Sprache ist für mich mein eigener innerer Ort, wenn du so willst. Wenn du mich fragen würdest: Würdest du irgendwann zurückkehren?, würde ich sagen: Ja wohin denn? Ich weiß nicht, wohin, aber der Ort, wohin ich immer zurückkehren möchte, wo ich immer sein möchte, ist dieser innere Ort, ist diese eigene Sprache. Dieser Sprachraum mit seiner eigenen Geschichte, mit seiner eigenen Entwicklung und mit seiner eigenen Persönlichkeit. Das ist ein Ort, der eine Heimat geworden ist. Das ist vielleicht die wichtigste Sache, die ich hier entdeckt habe, entwickelt habe, mir erlaubt habe zu entwickeln.

Du hast in Peru angefangen zu schreiben, schreibst jetzt hier in Deutschland bzw. in Berlin. Dein erstes Buch mit Erzählungen hast du in Peru veröffentlicht, dein zweites in Argentinien. Zu welcher Literatur würdest du dich zugehörig fühlen?

Das ist eine interessante Frage. Eine Verlegerin in Frankreich hat gerade eine Anthologie veröffentlicht über die, die sie „La generación perdida“ (Die verlorene Generation) nennt. In dieser Anthologie hat sie verschiedene lateinamerikanische AutorInnen aufgenommen, die in Europa leben. Die meisten sind zwischen 1945 und 1955 geboren. Sie meint, das sei die verlorene Generation, die aus politischen oder sonstigen Gründen ihr Land verlassen hat und entweder nicht zurückgekehrt ist oder, wenn doch, stark durch die Länder geprägt ist, in denen sie als ImmigrantInnen gelebt haben. Sie hat verschiedene AutorInnen aufgenommen, etwa fünfzig insgesamt. Sie meint, das Exil der LateinamerikanerInnen in Europa fing mit den Chilenen an und endet heute mit den Kubanern. Vielleicht gehöre ich zu dieser Generation. Sie hat keinen richtigen Raum, trotzdem aber einen Raum in der Leere. Meine Geschichten haben viel mit dem kleinen Dorf zu tun, in dem ich geboren wurde. Dieses kleine Dorf rennt immer mit mir umher und hat sich in meiner Phantasie wahrscheinlich auch weiterentwickelt. Ich habe oft erlebt, daß mir Leute gesagt haben, das könnte auch ein Dorf in Peru sein. Oder Leute hier sagten mir, das könnte auch ein verlorenes Dorf in Deutschland sein, denn das sind die Geschichten von hier.

Du sagtest eben, die Sprache sei für dich ein Stück Heimat, ein innerer Ort. Wie ist das für dich, wenn du deine Erzählungen oder journalistischen Texte auf deutsch liest?

Manchmal ist es sehr schwierig. Da ich inzwischen ein bißchen Deutsch kann, denke ich manchmal, nein, das ist nicht das Wort, was ich sagen wollte. Manchmal handelt es sich nur um eine Kleinigkeit für den Übersetzer oder den Zuhörer, die man gar nicht richtig merkt. Aber für mich sind es sehr wichtige Sachen, und das ist natür- lich eine Plage. Ich versuche, mich immer weniger um die Übersetzungen zu kümmern. Aber es ist sehr schwierig, die beiden Sachen zu trennen, denn man hat ja etwas damit zu tun. Trotzdem denke ich z. B. nicht, daß ein Text unbedingt etwas verliert durch eine Übersetzung. Ich bin der Meinung, ein Text kann viel gewinnen, in einem anderen Raum, in einem anderen Sprachraum, kann etwas Neues, etwas Bereicherndes in dem neuen Raum bekommen, wie er auch in seinem eigenen Raum verlieren kann. Wenn das nicht gelingt, ist das ein Problem. Das ist natürlich immer der gleiche Kampf. Aber ich habe mich inzwischen etwas daran gewöhnt.

Unter den ausländischen AutorInnen, die in Deutschland leben, haben nicht wenige einen Sprachwechsel unternommen. Wie siehst du deren Schreiben als Bestandteil der deutschen Literatur?

Ich kenne hier viele ausländische Autoren, die als ausländische Autoren gelten, weil sie ausländische Vor- fahren haben, z.B. türkische Autoren, die hier geboren sind oder hier mit der Sprache aufgewachsen sind. Sie haben eine wahnsinnig andere Art, mit der deutschen Sprache umzugehen. Dadurch wird sich diese Sprache weiter bereichern, weil die Sprache ein Instrument ist, mit der man so oder so umgehen kann. Als Ausländer geht man ein bißchen abenteuerlich mit der Sprache um. Das kann auch gefährlich sein, denn ein abenteuerlicher Umgang mit der Grammatik ist sehr schwierig, aber es kann auch sehr spannend sein.

In Berlin bist du zu einer Autorin geworden, die Features für das deutsche Radio schreibt. Du hast da also etwas keineswegs Einfaches geschafft für jemanden, die sich den Tücken einer Sprache aussetzen muß, die nicht die eigene ist. Wie entstehen deine Features?

Für mich war es außerordentlich wichtig, in Deutschland die Kraft, die vom Radio ausgeht, noch einmal neu zu entdecken. Und ich sage: noch einmal neu zu entdecken, weil das Radio in meiner Kindheit aufgrund seiner Fähigkeiten, die Phantasie zu wecken und zu entwickeln, eine phänomenale Rolle gespielt hat. Die Welt der Klänge öffnete die Türen zum Unbekannten damals mit einer größeren Kraft, glaube ich, als das Bild. Denn das Wort bietet Tausende von Möglichkeiten, es zu interpretieren, im Gegensatz zum Bild, das ich diesbezüglich für sehr viel eingeschränkter halte. Die Möglichkeit, im Radio zu arbeiten mit Manuskripten und strukturierten Sendungen, wie es in unseren Ländern im allgemeinen schon gar nicht mehr der Fall ist, war für mich sehr wichtig. Das Problem dabei ist wie immer die Sprache. In welcher Sprache soll ich schreiben, war die Frage. Ich machte die Probe auf's Exempel und schrieb meine Manuskripte auf Spanisch, um sie danach übersetzen zu lassen. Das Ergebnis war fast immer katastrophal, denn die Texte ,hörten sich" einfach nicht mehr so „an“, wie ich sie konzipiert hatte. Also schreibe ich sie jetzt in meiner Art „Deutsch“, denn schließlich ist es die Form, in der ich die Dinge sagen muß, und anschließend unterwerfe ich mich der grammatikalischen Korrektur, damit man am Ende auch versteht, was ich sagen will. Das ist eine doppelte Arbeit, die ich am liebsten delegieren würde. Aber sie ist eben fester Bestandteil der Arbeit, die ich mache.

Du hast in den vergangenen sieben Jahren eine beachtliche Anzahl von Radiosendungen gemacht, „alle Erfolge auf journalistischem Gebiet ... Sie führten indessen nicht zum Verzicht auf das literarische Schreiben, bei dem der Mitteilungsdrang aus tieferen Seinsschichten rührt, wo es um Momente geht, die in literarischen Formen ausgedrückt zu werden verlangen, welche über die einfache Informationsübermittlung hinausgehen...“ Dich hat diese Formulierung von mir (Rosa Santos-Ihlau) sehr gestört. Warum?

Ich habe mich geärgert, weil ich keinen Unterschied mache zwischen Journalismus und Literatur. Für mich ist alles Schreiben. Es handelt sich lediglich um unterschiedlich dichtes Schreiben. Wenn ich einen Artikel oder ein Radiomanuskript verfasse, ist das selbstverständlich etwas anderes, denn ein Text für ein Radioprogramm besteht aus Umgangssprache, er ist direkter, damit er möglichst viele Leute erreicht. Im Journalismus hat man immer einen konkreten Ansprechpartner. Trotzdem halte ich einen journalistischen Artikel für genauso wertvoll wie das literarische Schreiben, wie das beste Gedicht, das ich vielleicht in meinem Leben geschrieben habe... Im Grunde glaube ich, daß ich immer am gleichen Thema arbeite, ob es sich dabei um ein Drehbuch für einen Kinofilm, eine Kurzgeschichte oder eine Glosse handelt. Das sind für mich nur unterschiedliche Ebenen des Schreibens, unter- schiedliche Dichten. Wenn ich eine Kurzgeschichte von mir lese, ist das etwas anderes, als wenn ich eine Chronik lese. Beim Lesen der Kurzgeschichte merke ich, daß ich mit Sicherheit alles viel endgültiger sage. In einigen Texten steckt zweifellos eine viel essentiellere, viel striktere Kraft als in anderen, aber in allen Texten, die ich schreibe, gebe ich mich meines Erachtens ganz dem literarischen Schreiben hin. Natürlich gibt es Unterschiede in den Formen, die jeder einzelne der Texte annimmt und weitergibt, aber ich glaube nicht, daß der Journalismus – guter Journalismus – etwas Geringeres wäre und in so etwas wie die hintersten Ecken der Literatur gehörte...

  • 1. Ich bete jeden Tag, bitte laß uns bleiben – 12 Porträts asylsuchender Frauen aus aller Welt von Esther Andradi, Gabriele von Arnim, Herrad Schenk, Ruth Rehmann, Peggy Parnass u.a., herausgegeben von Anne Rademacher, Goldmann, München 1993

Die vorliegende Interviewfassung hat Esther Andradi zusammengestellt auf der Basis eines Interviews, das Gert Eisenbürger im Juli 1993 mit ihr führte, und aus den Fragen und Antworten während einer Veranstaltung im Dezember 1994 in Berlin, wo Rosa Helena Santos-Ihlau sie anläßlich ihres bevorstehenden Wegzugs aus Berlin befragte.