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Es ist kein „Programm“ für reiche Länder!

Interview mit Soledad Salvador über das uruguayische Care-System

In Uruguay ist seit dem Jahr 2010 ein institutionalisiertes Care-System, das Sistema Nacional Integrado de Cuidados (SNIC) aufgebaut worden. Es bildet einen übergreifenden Rahmen für verschiedene Care-Aufgaben im Land, in dem es nun auch ein per Gesetz verankertes „Recht auf Sorge“ gibt. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Soledad Salvador hat diesen Prozess aktiv begleitet und dazu publiziert. Sie forscht darüber für das Interdisziplinäre Studienzentrum zu Entwicklung (CIEDUR) und hat 2020 für UN Women eine Studie veröffentlicht, in der sie analysiert, wie hoch der wirtschaftliche Beitrag der uruguayischen Frauen mit ihrer bezahlten und unbezahlten Arbeit ist. Britt Weyde hat sich über Zoom mit ihr darüber unterhalten, wie Uruguay es geschafft hat, das Care-System aufzubauen und mit welchen Herausforderungen es aktuell konfrontiert ist.

 
Britt Weyde

Uruguay gilt mit seinem integrierten Care-System als beispielhaft für die Region. Welche Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen?

Schon 1984/85, als die Diktatur zu Ende ging, setzten sich feministische Genossinnen dafür ein, damals konzentrierten sie sich auf die sogenannte Hausarbeit. Abgeordnete des linken Parteienbündnisses Frente Amplio platzierten das Thema im Parlament. Rosario Aguirre ist als feministische Theoretikerin der ersten Stunde zum Thema Hausarbeit, Familie und Geschlechterverhältnis zu nennen. Oder Clara Fassler, eine Psychologin, die in ihrer Praxis beobachten konnte, welche Folgen Gender-Ungleichheit hat: Paare, die sich wegen der Verteilung der Sorgearbeit streiten und trennen.

In den 1990er-Jahren kam es zum Strukturwandel in der uruguayischen Wirtschaft, weniger Industrie, mehr Dienstleistungen, womit eine stärkere Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt stattfand. Die vormals rigide traditionelle Arbeitsteilung, der Mann geht arbeiten, die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um Haushalt und Kinder, begann zu erodieren, die uruguayischen Frauen erlangten mehr Autonomie, was zu Lasten der Care-Tätigkeiten ging. Die Scheidungsrate stieg, was auch mit der Überlastung der Frauen zu tun hatte. Im Jahr 2007 wurde die erste Umfrage zur Nutzung der Zeit in Uruguay veröffentlicht. Diese Erhebung zeigte schwarz auf weiß, was wir aus unserer Alltagserfahrung bereits wussten. Sie bot eine gute Argumentationsgrundlage, um die Zweifler zu überzeugen. Der Direktor des Nationalen Statistikinstituts sagte zum Beispiel, dass er sich stets gefragt habe, warum Frauen im Durchschnitt zehn Wochenstunden weniger lohnarbeiten. Als er diese Zahlen sah, begriff er, dass es daran liegt, dass sie so viel mehr Stunden unbezahlt Care-Arbeit leisten.

Es war nicht einfach, das Thema Care auf die Agenda zu setzen, selbst im Feminismus dominierten andere Fragen, etwa sexualisierte Gewalt oder Frauenhandel, aber im Jahr 2009 griff die Nationale Kommission zur Verfolgung der Pekinger Verpflichtungen1, in der alle feministischen Organisationen vertreten sind, das Thema auf. Ein Jahr später, unter der Frente Amplio-Regierung von Pepe Mujica, bildete sich eine ministerienübergreifende Arbeitsgruppe zum Thema Care.2

Das „Netzwerk Gender und Familie“ (Red Género y Familia) mit Clara Fassler an der Spitze schaffte es, die UN-Mittel effektiv für konkrete Dinge einzusetzen. So gab es Arbeitstreffen, an denen alle mit Care befassten Regierungsinstanzen beteiligt waren, außerdem Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, um jeweils anfallenden Bedarf, Reichweite und Verbesserungsmöglichkeiten zu diskutieren. Zwischen 2010 und 2014 wurden Vorbereitungen getroffen, um Konzepte für ein Care-System zu erarbeiten. Was ist Care-Arbeit, welche Zielgruppen gibt es, welche öffentlichen Dienstleistungen existieren bereits, was muss zusätzlich entwickelt werden? Gleichzeitig haben wir vor Ort mit den Beschäftigten gesprochen, Probleme identifiziert sowie über die Pläne informiert. Von unserer Seite wurde der Gender-Aspekt eingebracht, damit das herrschende Ungleichgewicht aufgebrochen wird. Deshalb sprechen wir nicht von der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, weil dabei mitschwingt, dass Männer bei der Care-Arbeit außen vor bleiben, sondern zielen auf ihre Mitveranwortung ab.

Damit sich auch die Zivilgesellschaft organisiert und einbringt, wurde 2013 ein Netzwerk ins Leben gerufen, das Netzwerk Red Pro Cuidados, um mit einer Stimme sprechen zu können, schließlich gibt es im Care-Bereich viele verschiedene Akteur*innen.

Was konnte von den Plänen umgesetzt werden?

Das Gesetz wurde 2015 verabschiedet, Ende 2015 kam der Haushaltsentwurf, sodass sich die Planungen auf den Zeitraum 2016 bis 2020 beziehen. Allerdings gab es Anfang 2020 einen Regierungswechsel, und es begann die Pandemie, sodass die Regierung aktuell überall spart. Das untergräbt natürlich die Vorhaben zum Care-System!

In dem genannten Zeitraum ist zwar längst nicht alles umgesetzt worden, aber ich kann ein paar Punkte nennen, auf die Wert gelegt wurde. Es gab Fortschritte beim Programm für persönliche Assistent*innen (für Menschen mit Behinderungen), ebenso ist in den Ausbau der Kleinkindbetreuung investiert worden, damit alle Kinder ab drei Jahren in den Kindergarten gehen können; auch die Betreuung für die Jüngsten unter drei Jahren ist ausgebaut worden.

Die aktuelle Regierung hat gesagt, unser Care-System sei ein sehr gutes „Programm“, sie sieht es also noch nicht einmal als ein komplettes System an, das erarbeitet wurde, und zwar für reiche Länder, womit sie sich einen Shitstorm einhandelte. Gleichzeitig betrachtet die aktuelle Regierung Care-Fragen vor dem Hintergrund der Krise als Luxusproblem. Gabriela Bazzano, die aktuell dem Sekretariat für Care vorsteht, kommt aus dem Bereich der Menschen mit Behinderungen. Ihr Vorgänger war von der kleinen Partido Independiente, die wenig politisches Gewicht in der Regierungskoalition hat. Da er nicht viel ausrichten konnte, schmiss er den Posten hin. Die jetzige Spitze vertritt den Sparkurs der Regierung beziehungsweise den Kurs, die bisherige Ausstattung aufrechtzuerhalten, aber weitere Investitionen und Maßnahmen, etwa was die frühkindliche Betreuung betrifft, hintan zu stellen. Bazzano spricht davon, das System insgesamt und die Ausbildungsmöglichkeiten zu „verbessern“. Im Prinzip will aber die Regierung alles abschaffen, was die Frente Amplio zuvor aufgebaut hatte.

Was entgegnest du, wenn gesagt wird, es sei ein gutes „Programm“ für reiche Länder?

Wir sagen, dass das Gegenteil stimmt: Um wachsen zu können, um sich weiterzuentwickeln, brauchen wir ein ausgebautes Care-System. Die sogenannten reichen Länder stehen heute auch aufgrund der erreichten Sorgeinfrastruktur dort, wo sie sind. Finnland und Schweden etwa, selbst Spanien, haben mit dem Ausbau der Kinderbetreuung begonnen, als die Einbindung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt stieg. Wir hängen etwas hinterher, die Betreuungsmöglichkeiten müssen den Erfordernissen des Arbeitsmarkts angepasst werden. Seit 1988 gibt es hierzulande zwar das Programm der CAIF (Centros de Atención a la Infancia. In diesen Kinderkrippen werden die Allerkleinsten (von 0 bis 3 Jahren) betreut, allerdings nur für den Zeitraum von vier Stunden, was nicht ausreicht. Außerdem sind die CAIF weniger aufgrund der Erwerbstätigkeit der Mütter, sondern vor allem für arme Familien ins Leben gerufen worden, damit deren Kinder besser betreut werden. Das nationale Care-System hat hier die Stundenzahl ausgedehnt und das Angebot insgesamt ausgeweitet.

Zum Glück widmet sich auch der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT verstärkt dem Thema, so hat er bei den letzten Tarifverhandlungen 2019 erreicht, dass es bessere Urlaubs­regelungen für diejenigen gibt, die für andere sorgen müssen. Außerdem hat der PIT-CNT nun auch eine Care-Kommission.

Wichtig ist aber auch der Punkt, den du am Anfang genannt hast, dass das Recht auf Sorge gesetzlich verankert ist. So konnte sich erst das Bewusstsein dafür herausbilden, zum Beispiel dass Menschen mit Einschränkungen das Recht auf eine persönliche Assistenz haben. Einige Familien haben sich bereits rechtlich beraten lassen, um eine persönliche Assistenz notfalls einzuklagen.

Wie weit ist es um den kulturellen Wandel bestellt, also das Bewusstsein, dass auch Väter, nicht nur Mütter, ein Sorgegen haben und dementsprechend auch Vaterschaftsurlaub beantragen könnten?

Das Transportunternehmen CUTSCA hat zum Beispiel eine Kampagne gestartet, die ein Umdenken anregt, mit Plakaten und Werbebotschaften in Bussen und an Haltestellen. Der kulturelle Wandel vollzieht sich aber, wie überall, nur sehr langsam. Die Gewerkschaft der Bauarbeiter, SUNCA, war die erste, die Regelungen für Personen geschaffen hat, die Kinder mit Behinderung betreuen. Ein anderer Baustein ist das Programm von UN-Women, „Ganar-ganar“.3

In einem Interview hast du erwähnt, dass es vonseiten etablierter Akteur*innen im Care-Sektor anfangs Widerstände gegen ein übergreifendes Care-System gab. Welche Vorbehalte waren da im Spiel?

Das erste Thema, das 2010 bei der Entwicklung des Care-Systems in Uruguay eine Rolle spielte, waren die fehlenden Arbeitskräfte in dem Sektor. Was bringt es, neue Kindergärten aufzuziehen und dafür viel Geld in die Hand zu nehmen, wenn die ausgebildeten Erzieherinnen fehlen? Also wurden mehr Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen, vor allem für die Kinderbetreuung. Bei den Akteuren, die bis dato für die Ausbildung zuständig gewesen waren, mag es gewisse Vorbehalte gegeben haben, weil sie dachten, dass ein übergeordnetes System Vorschriften machen würde, aber diese Sorge hat sich zum Glück schnell erledigt. Mit der INAU (Kinder- und Jugendbehörde) gab es anfangs auch Diskussionen. Die Gewerkschaften unterstützen bei den Tarifverhandlungen die Forderung, dass es für Kinder unter drei Jahren mehr Betreuungseinrichtungen gibt. Dafür gab es Mittel vom Staat, aber es bedurfte Einrichtungen der Zivilgesellschaft, die sie einsetzen. Hier kam die INAU ins Spiel, die sich anfangs dagegen sperrte, die Kleinkinder länger als vier Stunden am Tag betreuen zu lassen, das sei schädlich für die sie. Aber wohin sollten die Kinder die restlichen Stunden eines Arbeitstags? Die Diskussionen zogen sich, letztlich wurde ein erweitertes Betreuungsangebot für die Allerkleinsten etabliert.

Bei der Sorge für Menschen mit Behinderungen kam es zu Diskussionen über die Bezeichnung des Personals, Pflegekräfte oder persönliche Assistenz? Die Kritik an der Bezeichnung Pflegekräfte besteht darin, dass die Person mit Behinderung herabgestuft wird zu einer Person, die abhängig von der pflegenden Person ist, während die Bezeichnung „persönliche Assistenz“ diese Unterordnung nicht herstellt.

Wie ist die aktuelle Situation des nationalen Care-Systems?

Die aktuelle Regierung sorgt dafür, dass der interinstitutionelle Ansatz rückgängig gemacht wird, es soll wieder spezielle Zuständigkeiten geben. Das Sekretariat des Care-Systems, das alle Institutionen zusammengeführt hat, macht jetzt das, worauf seine Leiterin spezialisiert ist, es konzentriert sich auf die persönlichen Assistenzen; INAU ist für die Kinder und Jugendlichen zuständig etc. pp. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass es nicht noch mehr zerstört wird. Und wir müssen versuchen, den Dialog mit der Regierung, der gerade stockt, aufrecht zu erhalten.

ONU Mujeres (2020), El aporte económico de las mujeres en Uruguay: https://parlamento.gub.uy/sites/default/files/informe_completo.pdfhttp://www.redprocuidados.org.uy/

  • 1. Auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) verabschiedeten 189 UN-Mitgliedstaaten das Konzept zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung von Frauen.
  • 2. 2011 veröffentlichte die interinstitutionelle Arbeitsgruppe den Vorschlag für ein „solidarisches Care-Modell“, die konzeptionelle Grundlage für die Gestaltung des SNIC, u. a. mit Auswahlkriterien dafür, wer innerhalb der drei Zielgruppen (Kleinkinder, Menschen mit Behinderung, Alte) zu priorisieren ist, mit Vorschlägen für Dienstleistungen, Freistellungsregelungen, Finanzierung sowie Evaluierungs- und Durchführungsbestimmungen.
  • 3. „Win-win“: Seit 2018 zielt das von der EU finanzierte Programm (Motto: „Die Gleichheit zwischen den Geschlechtern ist ein gutes Geschäft“) auf Geschlechtergleichheit im Privatsektor ab.

Das Interview fand am 24. Februar 2021 per Zoom statt, Transkription und Übersetzung: Britt Weyde