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Zukunft oder Zombie

Raul Zelik bespricht in „Wir Untoten des Kapitals“ den Weg in eine bessere Gesellschaft
Lars Weiß

Wir kennen Zombies aus diversen Filmen. Ein Monster, das zwischen Leben und Tod verweilt und nur dem simpelsten Trieb folgt. Mit dieser Metapher beginnt Raul Zelik sein neues Buch „Wir Untoten des Kapitals“. Das Buch wurde noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt. Trotzdem trifft es absolut den Zeitgeist. Wenn Zelik von seelenlosen Städten spricht, so hat das Virus diese Tendenz nur verstärkt. Zombies sind für Zelik einerseits die arbeitenden Menschen, zugespitzt die Arbeitssklaven, deren Alltag sich immer stärker ähnelt: „Verblödet, ungelenk und fremdgesteuert (…) wandeln wir durch unsere Welt und sorgen dafür den Absatz von Waren sicherzustellen. Nur jene menschlichen Bedürfnisse, die mit dieser Aufgabe vereinbar sind, können berücksichtigt werden.“
Und auch wenn Unternehmensberater*innen und die großen Konzerne derzeit gerne Diversität propagieren, widerspricht Zelik dieser Behauptung: „Der Mainstream der Gesellschaftswissenschaften debattiert gebannt über poststrukturalistische ‚Mannigfaltigkeit‘ und Luhmann‘sche ‚funktionale Differenzierung‘, während in Wirklichkeit doch vor allem eine enorm homogenisierende Kraft zu beobachten ist.“ Damit meint Zelik nicht, dass sich Reichtum gleichmäßig verteilt, sondern dass die Art des Konsums, die Güter und deren Herstellung sich immer weniger unterscheiden. „Unterschiede beruhen in erster Linie auf Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Hautfarbe.“

Der zweite Aspekt der Zombiefikation betrifft die politischen Monster, die sich derzeit wieder erheben. Gemeint sind längst tot geglaubte Ideen, die sich in Gestalten wie Trump, Bolsonaro oder Modi manifestieren. Und auch die alten politischen Systeme erscheinen Zelik wie die Überbleibsel einer lebendigeren Zeit, die auf ihr Ende wartet. Ein sehr düsterer Ausblick, der an anderer Stelle im Buch mit einem Zug verglichen wird, der auf eine Wand zurast und dringend angehalten werden müsste.

Doch Zelik, der sich im Vorstand der Linkspartei für die Bewegungslinken stark macht, bleibt natürlich nicht bei einem pessimistischen Nihilismus stehen. Er möchte für einen neuen ökologischen Sozialismus werben, für die neue Utopie, die trotz aller Rückschläge immer noch durch die Köpfe dieser Zombies spukt.

Zunächst legt er daher die Konturen fest, die eine solche Utopie mit sich bringen würde. Ein emanzipatives linkes Projekt des 21. Jahrhunderts müsste sechs Elemente verbinden: ein gutes Leben für alle, eine Gesellschaft der Solidarität, eine Demokratisierung, eine Überwindung des feststehenden Geschlechterbildes, Antirassismus als Grundlage für globale, universelle Rechte sowie eine radikale ökologische Wende. Damit fasst Zelik die wichtigsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre zusammen, wenngleich zwischen diesen Bewegungen durchaus einige Widersprüchlichkeiten bestehen. Als Rahmenprogramm eignen sie sich aber, um die Richtung vorzugeben. Zelik ist sich allerdings dessen bewusst, dass auch der Start in eine bessere Zukunft nicht von allein passiert, und nutzt dafür den Roman „Tschewengur“ aus den Jahren 1927-1929 des sowjetischen Schriftstellers Platonow. Hier stellen Revolutionäre auf dem Land mit Entsetzen fest, wie hoffnungslos sich ihre Lage nach der Revolution darstellt. Er folgert daraus, dass radikale Brüche noch keine radikalen Veränderungen garantieren. Damit überlegt Zelik, wie eine Politik der ersten Schritte aussehen könnte, um dann in einem ausführlichen historischen Teil zu zeigen, woran in der Vergangenheit viele linke Regierungen gescheitert sind.
In seinem historischen Teil setzt sich Zelik mit den bisherigen Versuchen auseinander, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Dabei holt er alte Lektüre hervor und bespricht ehemalige Utopien, über die heutzutage kaum noch nachgedacht wird. Unter vielen anderen Beispielen erinnert uns Zelik an die Ziele des späteren französischen Präsidenten Mitterrand, der 1974 folgendes Programm darlegte: „Die reale und vollständige Zerstörung aller Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (setzt) die Schaffung einer Wirtschaftsdemokratie voraus, deren Ausgangspunkt die kollektive Aneignung der großen Produktions-, Investitions- und Tauschmittel ist.“ Als er dann tatsächlich gewählter Präsident wurde, knickte er nach anfangs durchaus linken Politiken schließlich ein und bereitete die Grundlage für ein neoliberales Wirtschaftsprogramm.

Wenn nicht durch Wahlen, wie aber soll die Utopie denn erreicht werden? Den vulgären Erklärungen, dass nach der Revolution und der gesellschaftlichen Übernahme der Produktionsmittel auf einmal alle anderen Gegensätze verschwinden, schließt sich Zelik jedenfalls nicht an. Er warnt davor, dass das absolute Primat des Politischen in der Wirtschaft sogar zu noch schlimmeren Ergebnissen führen kann als eine Wirtschaft, die sich vorrangig an der Kapitalakkumulation orientiert. Denn auch Macht strebt nach Akkumulation, und Zelik ruft hier die Erfahrungen aus Stalinismus und Maoismus ins Gedächtnis. Die Produktion orientierte sich nun an den Zielen der oft unkontrollierten Führung, die dann zwar im Wettlauf um Waffenproduktion mit den USA mithalten konnte, aber den Konsum der eigenen Bevölkerung hier unterordnete.

Bleibt dann etwa die Rätedemokratie als Option? Noch so ein Gespenst, das sich hartnäckig in den Köpfen der Zombies hält. Gemeint ist, dass Räte die Produktionsmittel demokratisch verwalten und die Gesellschaft damit nicht losgelöst von der Ökonomie bleibt. Denn aus materialistischer Sicht kann eine Demokratie, die nur bis zu den Toren der Fabriken und Büros reicht, nur unvollendet bleiben. An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass Sowjet der Begriff für derartige Räte war, diese Räte aber letztlich gleichgeschaltet wurden, um im großen Zentralstaat aufzugehen. Unter Räte werden also eine ganze Reihe von Ansätzen verstanden, die vereinfacht dargestellt das Ziel haben, Arbeiterselbstverwaltung zu ermöglichen. Doch auch in den Räten bleiben eine Reihe von Problemen ungeklärt: politische Professionalisierung, Unterschiede zwischen Produzent*innen und Konsument*innen, mögliche Diktatur der Mehrheit. Zusammengefasst bestehen einige Widersprüche also auch in sozialistischen Demokratieversuchen fort. Als konkretes Beispiel wählt Zelik Venezuela, um seine Gedanken konkret darzustellen. Dabei zeigt er, wie die Abhängigkeit von den Zahlungen des Zentralstaats – trotz einiger ernstgemeinter Dezentralisierungsversuche – die Nachbarschaftsräte korrumpierte. Die Frage für einen demokratischen Sozialismus muss also sein, wie man die Gewaltenteilung im bürgerlichen Staat noch weiter ausdehnt, um die Konzentration politischer Macht zu verhindern.

Im letzten Teil des Buches konfrontiert Zelik die Leser*innenschaft mit der beliebten These, dass der Mensch einfach nicht für eine bessere Gesellschaft gemacht wäre. Hierfür nutzt er den anschaulichen echten Fall einer rücksichtslosen Wissenschaftlerin, die ihre Kolleg*innen mobbt, um in ihrer eigenen Forschung voranzukommen. In ihrer Forschung bemühte sie sich, das menschliche Vermögen zu Güte und Barmherzigkeit nachzuweisen. Der Druck im Wissenschaftsbetrieb hatte ihr diese Fähigkeiten aber selbst wohl genommen. Daraus schlussfolgert das Buch, dass das Ziel ein gesellschaftlicher Rahmen sein sollte, „der Kooperationsbereitschaft belohnt und Gleichheit stärkt“.

Der Weg zum Sozialismus hat eine lange Geschichte an Diskussionen, die Zelik hier kurz umreißt, um die Gedanken der materialistischen Staatstheorie wieder aufleben zu lassen, allen voran Antonio Gramsci, Nicos Poulantzas, Joachim Hirsch und Alex Demirovic. Sie begreifen den Staat als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“. Dies bedeutet, dass die Widersprüche in der Gesellschaft immer auch ihre Regelung in den Staatsapparaten finden, so dass der Staat durchaus genutzt werden kann, um Errungenschaften abzusichern. Gleichzeitig reicht es aber nicht aus, über eine Partei Reformismus zu betreiben, sondern soziale Bewegungen müssen die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft verändern. Dafür bedarf es eines Organizing, das aber nicht einfach Subalternen sozialistische Ziele aufdrückt, sondern Menschen ermutigt, eigene Positionen zu entwickeln und zu kollektiv handelnden Akteur*innen zu werden. Um eine Utopie entwickeln zu können, muss eine derartige Bewegung aber auch nach innen ihren eigenen Zielen folgen. „Dauerhaft gibt es Gegenmacht nur dort, wo sich Solidarität, Gleichheit und Freiheit auch in Umgangsformen, Milieus und Organisationskulturen niederschlagen.“ Das Buch endet mit einem sehr präzisen Satz, der noch einmal daran erinnert, dass in utopischen Bewegungen immer auch autoritäre Elemente stecken, derer man sich bewusst sein sollte: „Niemand muss ein ‚neuer Mensch‘ werden, und doch ist es wichtig, jene Beziehungsweisen zu pflegen, die als Kern des linken Projekts gelten können, nämlich die Solidarität und die Sorge umeinander.“

Die Stärke des Buches liegt in seiner Mischung aus Theorie und Empirie, die an vielen Stellen sogar durch Literatur oder (Pop-)Kultur ergänzt wird. Dass Zelik nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, macht die komplexen Themen dennoch zu einer fast entspannten Lektüre, was in materialistischen Schriften eher unüblich ist. Wer schon länger Zeliks Theorie und Aktivismus verfolgt, findet in diesem Buch keine ganz neuen Erkenntnisse. Und dennoch lohnt sich die Lektüre, gerade weil einige historische Beispiele gewählt werden, die nicht in den üblichen Debatten auftauchen.