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Die politische Linke neu denken

Das Buch „Epochenwechsel“ von Maristella Svampa
Laura Held

Im August 2020 erschien im Unrast Verlag das Buch „Epochenwechsel in Lateinamerika“ von der argentinischen Soziologin und Linksintellektuellen Maristella Svampa. Es setzt sich intensiv mit der „rosa Welle“, den progressiven Regierungen in Lateinamerika zwischen 2000 und 2015 auseinander. Dabei werden weniger die einzelnen Linien vom Aufstieg und Fall der Regierungen in Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Peru und Venezuela verfolgt. Vielmehr untersucht Svampa, wie Basisbewegungen und traditionelle Linke – in ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungen – den Epochenwandel überhaupt erst möglich gemacht haben, der dann die progressiven Regierungen an die Macht brachte, die dann aber eine einseitige und durch Populismus geprägte Politik betrieben, die sich vor allem auf Rohstoffexporte stützte. Sie benennt schonungslos die Defizite und Misserfolge der linken Regierungen und legt ein besonderes Augenmerk auf den Extraktivismus und seine Mensch und Umwelt zerstörenden Kräfte. Die Auswirkungen des „realexistierenden Progressismus“ auf die sozialen Bewegungen – gewerkschaftliche und Arbeitslosenkämpfe, plebejische Ansätze, Feminismen, territoriale und indigene Kämpfe, ökosoziale und urbane Kollektive – und deren Reaktionen wiederum interessieren die Autorin dabei ganz besonders.

Das Buch besteht aus verschiedenen Texten, die nachträglich zusammengeführt wurden, was man trotz einer intensiven Überarbeitung auch merkt. Das Buch erschien auf Spanisch im April 2017, analysiert also die politischen Transformationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika bis zu diesem Zeitpunkt. Glücklicherweise hat Herausgeberin und Übersetzerin María Cárdenas eine umfangreiche Einleitung geschrieben: „Vom Ende eines progressiven Zyklus, dem Aufstieg rechter Regierungen und Möglichkeiten solidarischen Widerstandes ,von unten‘“, in der sie die Analysen Svampas zusammenfasst, fortführt und sogar noch einen kleinen Kolumbien-Exkurs einfügt. Für Eilige reicht diese Lektüre, da sie alle wesentlichen Inhalte in gut verständlicher Sprache erläutert und auch die Proteste von 2019 und 2020 mit einbezieht.

Das Buch analysiert das Versagen, aber auch die Verdienste der progressiven Regierungen: Es kam zu einer Armutsreduzierung und zu größerer Inklusion von vorher ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen, gleichzeitig verschärfte sich aber die soziale Ungleichheit – in Lateinamerika schon vorher am stärksten ausgeprägt weltweit –, ebenso die politische Polarisierung und die Abhängigkeit vom internationalen Kapitalmarkt. Der lateinamerikanische Populismus in Geschichte und Gegenwart mit seiner Konzentration auf einen Führer/eine Führerin und dem nationalen Staat als Integrator und Versöhner sowie die Missachtung der Peripherie sind ebenso Thema wie der Rohstoffkonsens, das heißt die Konzentration aller Regierungen auf Bergbau, Agrobusiness und Rohstoffexporte in ihrer Wirtschaftspolitik. Letzteres wird in den Kontext des immer noch aktuellen Mythos vom „El Dorado“ gestellt. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen haben während und nach dem „realexistierenden Progressismus“ durch den fortschreitenden Extraktivismus samt seinen Vertreibungen und der Kriminalisierung des Umweltschutzes in erschreckendem Ausmaß zugenommen. Auch diesen Kämpfen wird ein breiter Raum zugewiesen. Schlussendlich wird die Entwicklung kollektiver und territorialer Widerstandsformen zum Hoffnungsträger in dem insgesamt recht desolaten Szenario dargestellt.

Der sehr umfangreiche erste Teil behandelt ausführlich die verschiedenen Dimensionen kollektiven Handels, den Rohstoffkonsens, die Feminismos Populares und den Aufstieg Chinas zum wichtigsten Handelspartner Lateinamerikas. Der sehr kurze zweite Teil fasst noch einmal die Kritik an den progressiven Regierungen zusammen und entwickelt dann emanzipatorische Horizonte für Lateinamerika. Der wiederum sehr umfangreiche dritte Teil handelt von Aufstieg und Fall des Kirchnerismus in Argentinien von 2001 bis 2015.

Das Buch eignet sich weniger dazu, hintereinander weg gelesen zu werden, sondern eher als Nachschlagewerk. Die meisten Kapitel können separat gelesen werden. Zum Beispiel das über Feminismos Populares: Es fasst auf rund 16 Seiten sehr prägnant die verschiedenen Aspekte der Feminismen zusammen: vermehrt Frauen in Führungsrollen während der progressiven Regierungen, eine allgemeine Feminisierung der Proteste (immer mehr und immer öfter sind Frauen die tragenden Säulen der verschiedenen Widerstandsbewegungen, auf dem Land und in der Stadt), die Care-Wirtschaft samt dem Nord-Süd Gefälle (Frauen des Südens kümmern sich um Kinder, pflegen, putzen im Norden, um Geld nach Hause zu schicken), den Zusammenhang der Gewalt auf „Körper und Territorien“, Extraktivismus als Angriff auf die Frauen (Prostitution, Frauenhandel, Abwertung der Frauen), die immer schwereren Ketten der Gewalt (von häuslicher Gewalt über Feminizide bis hin zur strukturellen Gewalt) und die immer stärkeren, breiteren und mehrdimensionalen Bewegungen dagegen. Da auch dieses Kapitel wie die meisten anderen eine Einleitung und Zusammenfassung hat, kann es gut einzeln gelesen werden, ähnlich wie das Kapitel über die kulturellen Kollektive oder die Piqueter*s in Argentinien, das Kapitel über Extraktionsgeografie oder den Post-Progressismus.

Ein besonderer Pluspunkt ist das umfangreiche Glossar, das die Herausgeberin María Cárdenas erstellt hat. Hier werden nicht nur Abkürzungen wie etwa ALBA, APPO, CELAG, CUT aufgelöst, sondern vor allem wird das umfangreiche, speziell lateinamerikanische Bewegungsvokabular kurz und knapp erläutert, von A wie Asamblea (offene Versammlung, zur hierarchiearmen, kollektiven Entscheidungsfindung) über Buen VivirDesarrollismo (Entwicklungsideologie), Escrache (argentinische Demonstrationsform gegen Menschenrechtsverletzungen), Montoneros (quasi-paramilitärische Gruppe in Argentinien, die ihren Caudillo verteidigt), Piqueter*s (in Argentinien politische Bewegung von Arbeitslosen), das allgegenwärtige Popular (positiver Begriff für die breite, marginalisierte Masse) bis Puebladas (Ein-Punkt-Demonstrationsform, etwa gegen Kriminalisierung) und vieles anderes mehr.

Insgesamt ist das Buch ein guter Einstieg, um sich mit der Gedankenwelt und den Analysen Maristella Svampas beziehungsweise der zeitgenössischen lateinamerikanischen, undogmatischen Linken insgesamt vertraut zu machen. Durch die Bemühungen der Herausgeberin María Cárdenas werden auch Begriffe wie Produktivismus, Transformismus und variable Geometrie verstanden. Svampa geht in ihrem Nachwort auch auf die (2017) aktuelle Lage in Europa ein, wo sie in einer Anmerkung schreibt: „Wie lange kann eine reiche Gesellschaft am tiefen Abgrund entlanggehen, ohne zu stürzen?“ Auch in Europa ist es dringend geboten, die politische Linke neu zu denken, die für die Clases Populares und gegen das Patriarchat kämpft, mit einem Bewusstsein für die Pluralität des Denkens und des Lebens – und grundlegend ökologisch.