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Menschenrechte dürfen keine Frage des Preises sein

Interview mit Isabell Ullrich von der Kampagne für Saubere Kleidung

Seit fast 25 Jahren setzen sich die in der Initiative für Saubere Kleidung zusammengeschlos­senen Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und kirchlichen Institutionen für bessere Arbeitsbedingungen in der weltweiten Textilndustrie ein. Zu den Gruppen, die dieses Bündnis mit initiiert haben, gehörten auch Initiativen aus der Mittelamerika-Solidaritätsbewegung der 80er-Jahre wie die Infostelle El Salvador (damals Nachbar der ila im Bonner Oscar-Romero-Haus) und die Christliche Initiative Romero in Münster. Während die Arbeit der Solidaritätsgruppen heute in Rückblicken und wissenschaftlichen Arbeiten fast ausschließlich auf die Unterstützung der mittelamerikanischen Guerillagruppen reduziert wird, war ihre Arbeit sehr viel breiter. Dazu gehörte auch die Beschäftigung mit den elenden Arbeitsbedingungen und der Repression in den Maquilabetrieben in El Salvador, Honduras, Guatemala und etwas später auch Nicaragua. Heute ist die Kampagne für Saubere Kleidung ein starkes Netzwerk mit einer klaren politischen Agenda. Gert Eisenbürger sprach mit Isabell Ullrich vom Koordinationsbüro der Kampagne über deren Geschichte und Arbeitsschwerpunkte.

Gert Eisenbürger

Wie ist die „Kampagne für Saubere Kleidung“ entstanden, und wie ist das Spektrum eurer Mitgliedsorganisationen?

Wir sind Teil eines internationalen Bündnisses, der Clean Clothes Campaign, die 1989 in den Niederlanden gegründet wurde. Die Textilindustrie hatte sich schon sehr früh globalisiert. Bereits zu Beginn der 70er-Jahre entstanden die ersten Freihandels- und Freien Produktionszonen, in denen sich Textilbetriebe ansiedelten. Dort waren die Arbeitsbedingungen wirklich grauenhaft und menschenunwürdig. Dazu begannen auch in Deutschland verschiedene Nichtregierungsorganisationen und Gruppen aktiv zu werden. So thematisierte die Solidaritätsbewegung mit Mittelamerika die Arbeitsbedingungen in den Textilbetrieben der Region. 1996 schlossen sich dann eine Reihe von Organisationen, Gewerkschaften und Verbänden zur „Kampagne für Saubere Kleidung“ zusammen. Inzwischen sind es 24 Organisationen, darunter die großen Gewerkschaften wie die IG Metall und ver.di, kirchliche Institutionen und Jugendverbände wie die Christliche Arbeiterjugend und eine Reihe sehr rühriger Nichtregierungsorganisationen wie Femnet, das INKOTA-Netzwerk, die Christliche Initiative Romero oder das entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen. Zusammen streiten wir an der Seite unserer internationalen Partner*innen, häufig Gewerkschaften in den Produktionsländern, für bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechte in der Textilindustrie.

Wie agiert ihr und was sind eure wichtigsten Aktionsformen?

Erst einmal steht die Aufklärungsarbeit im Vordergrund. Dafür geben wir Studien in Auftrag und befragen in Zusammenarbeit mit unseren Partnern vor Ort die Arbeiter*innen über die Situation in den Fabriken. Wir informieren die hiesige Öffentlichkeit über die Arbeitsbedingungen und die Verantwortung deutscher Unternehmen, die von den niedrigen Standards und den Hungerlöhnen in den Produktionsländern profitieren, auch wenn sie dort nur Auftraggeber sind, die einheimische Betriebe für sich produzieren lassen.

Dazu machen wir auch Aktionen, vor allem wenn konkrete Fälle an die internationale Clean-Clothes-Campaign herangetragen werden. Wenn es deutsche Unternehmen betrifft, werden wir damit betraut, uns darum zu kümmern. Wir haben eine Koordinationsstelle, die in Absprache mit den Gewerkschaften das Gespräch mit den Unternehmen sucht, um Lösungen zu finden. Wenn sich die Unternehmen uneinsichtig zeigen und nicht an Lösungen interessiert sind, gehen wir an die Öffentlichkeit. Wir thematisieren auch, welche Unternehmen bereit zu Veränderungen sind und welche nur „Greenwashing“ betreiben, also in ihrer Öffentlichkeitsarbeit den Eindruck erwecken, sie wollten etwas verändern, es aber in der Realität nicht tun.

Neben der Öffentlichkeitsarbeit und dem Druck auf Unternehmen, ihre Verantwortung und Sorgfaltspflichten gegenüber ihren Beschäftigten wahrzunehmen, versuchen wir zum Beispiel mit der Initiative Lieferkettengesetz Einfluss auf die Politik zu nehmen, damit die Industrie als Ganzes in die Verantwortung genommen wird, die Einhaltung der Arbeitsrechte in den Betrieben und bei ihren Zulieferern zu gewährleisten. Das geht nur über ein Lieferkettengesetz sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene.

Was heißt genau „Lieferkettengesetz“ und was würde es an Verpflichtung für die hiesigen Unternehmen bedeuten, wenn es durchgesetzt würde?

Lieferkettengesetz bedeutet, dass bestimmte Umwelt-, Arbeits- und Menschenrechtsstandards in der gesamten Lieferkette eingehalten werden müssen und dass die Unternehmen dafür verantwortlich sind. Alle Unternehmen, die in Deutschland etwas verkaufen möchten, müssten gewährleisten, dass auch in den vorgelagerten Verarbeitungsstufen, die oft nicht in Deutschland stattfinden, die Einhaltung dieser Standards gewährleistet ist, das gilt auch für externe Zulieferer. Wichtig ist, dass es für alle Unternehmen verbindlich ist, nicht mehr nur freiwillig und mit viel BlaBla wie beim Bündnis für nachhaltige Textilien, das vom Entwicklungsministerium initiiert wurde.

Wichtig ist außerdem, dass die ökologischen Standards mitgedacht werden. Wenn diese nicht eingehalten werden, führt das oft nicht nur zu Umweltproblemen, sondern auch zu Menschenrechtsverletzungen, wenn zum Beispiel durch Gerbereien und Färbereien oder durch den Pestizideinsatz im Baumwollanbau das Trinkwasser vieler Menschen vergiftet wird.

Absolut zentral ist, dass der deutsche Staat beziehungsweise die zuständigen Behörden das auch kontrollieren und Sanktionen verhängen können, wenn es Verstöße gibt. Bei Schädigungen, für die die Unternehmen die Verantwortung tragen, etwa die immer wieder vorkommenden Brände in Textilbetrieben infolge unzureichender Absicherungen oder die angesprochenen Verunreinigungen des Trinkwassers, müssen die Geschädigten, also die Arbeiter*innen oder Anwohner*innen, das Recht haben, bei deutschen Gerichten auf Entschädigungen zu klagen. Dagegen wehren sich die Unternehmensverbände vehement und argumentieren, dann komme eine riesige Klagewelle auf sie zu. Das sehen wir nicht so, denn wenn die Unternehmen eine Risikoanalyse machen und ihren Sorgfaltspflichten nachkommen, haben sie auch nichts zu befürchten.

Das ist natürlich alles nicht einfach. Aber die Unternehmen haben ja selbst entschieden, dass sie in Asien oder Mittelamerika produzieren beziehungsweise von dort ihre Waren beziehen. Damit sind sie auch dafür verantwortlich, dass ihre Lieferanten die hier geltenden gesetzlichen Standards einhalten.

Die Unternehmen argumentieren häufig, sie würden ja schon etwas tun, zum Beispiel Auditoren zu ihren Zulieferern schicken, die überwachen sollen, ob diese Betriebe vorgegebene Standards einhalten. Natürlich kündigen sich die Auditoren vorher an, und eigenartigerweise entdecken sie fast nie Verstöße, während die Leute, die für uns Studien erstellen, immer wieder auf Missstände stoßen, weil sie nicht nur in Anwesenheit der Eigentümer beziehungsweise der Leitung der Betriebe mit Beschäftigten sprechen.

Wie ist der aktuelle Stand bei der politischen Dis­kussion um ein Lieferkettengesetz, und droht nicht die Gefahr, dass durch den Einfluss der Wirtschaftslobby ein solches Gesetz nur sehr weiche Forderungen an die Unternehmen stellt und wenig Kontrollmechanismen und Sanktionsmöglichkeiten vorsieht?

Bei dem Thema gibt es im Moment Bewegung und auch erste Entwürfe, vor allem von Entwicklungsminister Müller (CSU) und Arbeitsminister Heil (SPD). Das sind die beiden Minister, die das Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. In ihren Vorschlägen gibt es gute Ansätze, aber auch Aspekte, die wir eher kritisch sehen, etwa den Save-Harbour-Ansatz, der bedeutet, dass bei Unternehmensbündnissen, die Selbstverpflichtungen zur Einhaltung bestimmter Standards abgegeben haben, davon ausgegangen wird, dass ihre Lieferketten ausreichend kontrolliert werden. Das sehen wir nicht so. So hat etwa das von der Bundesregierung initiierte Textilbündnis bisher kaum etwas für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Löhnen gebracht. Es darf nicht als sicherer Hafen gelten, in dem Unternehmen von jeglicher Haftung befreit sind.

Gegenwind gegen ein effektives Lieferkettengesetz kommt vor allem vom mächtigen Wirtschaftsministerium und Minister Altmeier mit den großen Wirtschaftsverbänden im Rücken. Seit es starke Initiativen für ein Lieferkettengesetz gibt, schreien die Wirtschaftsverbände Zeter und Mordio und tun so, als würde man von den deutschen Unternehmen Unmenschliches verlangen. Diese Verbände und ihre Lobbyisten werden natürlich alles daran setzen, ein für die Unternehmen möglichst weiches Gesetz zu bekommen. Umso mehr müssen wir Gegendruck aufbauen und den Gesetzgebungsprozess intensiv begleiten, damit am Ende ein wirklich effektives Lieferkettengesetz steht.

Um bessere Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie zu erreichen, wird immer wieder für fair produzierte und gehandelte Produkte geworben. Kürzlich las ich, dass das sogenannte „ethische Marktsegment“, also die Kund*innen, die sich bei ihrer Kaufentscheidung von sozialen und ethischen Kriterien leiten lassen, bei maximal drei bis fünf Prozent der Konsument*innen liege. Das heißt, dass für 95-97 Prozent der Käufer*innen diese Kriterien keine Rolle spielen. Kann vor diesem Hintergrund der faire Handel eine Alternative sein?

Die Funktion des fairen Handels ist, zu zeigen, dass es geht, dass es möglich ist, bessere Bedingungen zu schaffen. Der nächste Schritt ist, dass man das für alle verpflichtend machen muss, dass es keine Wahl mehr ist, die die Endverbraucher*innen im Laden treffen müssen, also: „Kaufe ich jetzt ein faires Produkt oder eines, bei dessen Produktion Menschenrechte und Umweltstandards mit Füßen getreten werden?“ Die Einhaltung von Menschenrechten darf keine Option sein, sondern muss Standard werden. Da müssen die Unternehmen, zum Beispiel durch ein Lieferkettengesetz, in die Pflicht genommen werden.

Das letzte Thema, das ich ansprechen möchte, ist Corona/Covid 19. Welche Konsequenzen hat das für die Arbeiter*innen in der Textilindustrie in den Ländern des Südens?

Corona wirkt in gewisser Weise wie ein Brennglas, das viele Probleme, die es schon vorher gab, noch einmal verschärft hat. Die Bedingungen, unter denen die Arbeiter*innen in den Betrieben im Süden arbeiten und leben, haben die Unternehmen im Norden kaum interessiert. Mit Beginn der Coronakrise hat sich das von Neuem gezeigt. Um Verluste zu vermeiden, wurde das komplette Risiko an den Anfang der Lieferkette weitergegeben. Das heißt, die meisten europäischen und nordamerikanischen Unternehmen haben Aufträge kurzfristig storniert, haben bestellte und teilweise bereits produzierte Waren wegen des Lockdowns nicht mehr abgenommen. Die Lieferanten, die auf riesigen Bergen schon produzierter Kleidung beziehungsweise Vorprodukten sitzen blieben, haben ihrerseits versucht, Verluste in Grenzen zu halten und ihre Arbeiter*innen einfach nicht mehr bezahlt, vielfach nicht mal mehr die Löhne für bereits geleistete Arbeiten. Viele haben ihre Belegschaften ohne jegliche Kompensationen einfach nach Hause geschickt. Oft wurden im Zuge von Lockdowns die den Betrieben angeschlossenen Wohnheime der Arbeiter*innen geschlossen. Da sie sonst keine Unterkünfte hatten, mussten viele Kolleg*innen in ihre weit entfernten Herkunftsorte zurückkehren, oft zu Fuß. In Indien kam es vor, dass Arbeiter*innen auf diesen Märschen an Entkräftung gestorben sind, weil sie bei den ohnehin niedrigen Löhnen nichts ansparen konnten und nun kein Geld für den Kauf von Lebensmitteln hatten.

Nach einer gerade erschienenen Studie der internationalen Clean Clothes Campaign, die auf Befragungen und Schätzungen beruht, sind den Arbeiter*innen in der Textilindustrie in den Monaten von März bis Mai zwischen drei und sechs Milliarden Euro an Löhnen vorenthalten worden. Wir fordern mit der internationalen Clean Clothes Campaign, dass die Unternehmen im Norden wenigstens einen Teil der Gelder, die sie durch die stornierten Verträge gespart haben, in einen Fonds einzahlen, damit den Arbeiter*innen zumindest die nicht ausgezahlten Löhne erstattet werden. Obwohl es eigentlich nicht zum Selbstverständnis eines politischen Netzwerks gehört, haben unsere Mitgliedsorganisationen in den letzten Monaten Nothilfe geleistet und Spenden eingesetzt, um Nahrungsmittelpakete zu verschicken, weil unsere Partner*innen in den Textilbetrieben uns dringend um Überlebenshilfe baten.

Ein anderes Problem, das wir seit den Lockerungen des Lockdowns und der wieder steigenden Nachfrage nach Textilien im Nordens bemerken, ist, dass nun Beschäftigte in Asien oder Mittelamerika zur Wiederaufnahme der Arbeit gedrängt werden, obwohl die Betriebe bereits Corona-Hotspots sind oder zu werden drohen. Denn die Bedingungen in den Fabriken, die oft qualvolle Enge und die Situation, dass es schon vorher keine Schutzkleidung, zum Beispiel für den Umgang mit Chemikalien, gab und es auch jetzt keine gibt, erhöhen natürlich die Ansteckungsgefahr.

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger am 18. August 2020 per Skype.