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Alles nur Weiberkram?

Geschichte des Fachbereichs der Textilarchäologie und Bedeutung und Potenzial von Textilien in der Archäologie und Anthropologie

Ein Blick auf Autor*innen der Forschungsdisziplin Textilarchäologie genügt, um die Dominanz weiblicher Akteur*innen zu bemerken. Eine kurze Recherche bestätigt den Eindruck: Sowohl in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und internationalen Konferenzen als auch in Vereinen und Organisationen sind männliche Kollegen eher selten anzutreffen. Es drängt sich die Frage auf, wieso die Textilarchäologie augenscheinlich eine Frauendisziplin ist, welche Folgen dieser Umstand hat und welche Faktoren dazu beitragen, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird.

Viola Mautsch

Deutschlandweit gibt es nur eine einzige Planstelle für Textilarchäologie, die 2004 im Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg ins Leben gerufen wurde. Sie ist durch eine Frau besetzt, Dr. Johanna Banck-Burgess, Textilarchäologin. Im Gespräch erzählt sie, dass es nur eine einzige Professur in Europa für Textilarchäologie gibt. Das im Jahr 2005 gegründete Centre for Textile Research wurde 2010 an der Universität Kopenhagen in Dänemark angesiedelt. „In Skandinavien ist dieser Fachbereich viel etablierter als hier“, berichtet Banck-Burgess. Rund zwanzig Frauen umfasst das Team der Mitarbeitenden, in der Auflistung von weiteren vierzehn Gastforscher*innen finden sich lediglich zwei Männer.

Das Phänomen der „weiblich“ geprägten Disziplin beschränkt sich nicht nur auf Europa. In Lateinamerika finden wir von institutioneller Seite eine ähnliche Situation vor. Hauptsächlich weibliche Wissenschaftler*innen der Archäologie und Anthropologie haben sich auf Textilien spezialisiert. Anders als in Deutschland gibt es in lateinamerikanischen Großstädten spezialisierte Textilmuseen, in denen Textilien aus vorkolumbischer Zeit ausgestellt werden. Ein Grund dafür mag sein, dass wüstenähnliche Bedingungen an der peruanischen Küste zu einer guten Konservierung der tierischen und pflanzlichen Fasern beigetragen haben, und daher ist die Quellenlage komplexer und die Anzahl „schöner Textilien“ bedeutend höher. Auch heute nehmen Textilien einen wichtigen Stellenwert in einigen indigenen comunidades des zentralen Andenraums ein. So wird die komplizierte und langwierige vorspanische Textilproduktionspraxis des Rückengurtwebstuhls mancherorts bis heute weitergeführt. Die im internationalen Vergleich ungewöhnlich komplexen „dreidimensionalen“ Textilien erfordern eine langjährige umfassende Ausbildung, die Mädchen schon früh beginnen. Sie erlernen die einzelnen Schritte der gesamten Produktionskette, die mit der Haltung der Alpakas und Lamas beginnt.

Elvira Espejo, gelernte Weberin und Anthropologin (vgl. Interview in dieser ila), sieht ein Versäumnis vieler wissenschaftlicher Einrichtungen darin, Textilien allein anhand des theoretischen Wissens zu analysieren. Gerade weil viele Handwerkstechniken in indigenen andinen Gruppen heute fortgeführt werden, müsse man Weberinnen als Expertinnen der Praxis in Analyseprozesse mit einbeziehen. Wichtig sei hier die Gegenseitigkeit, die Anerkennung ihres Wissens und ihrer Ausbildung. Espejo selbst ist in einer comunidad indígena in Bolivien zweisprachig aufgewachsen. Von Kind an wurde sie von ihrer Großmutter und ihrer Mutter in die Welt der Textilien und Textilproduktion eingeführt, später studierte sie in La Paz. Diese zwei Ausbildungswege ermöglichen ihr multiple Herangehensweisen und Perspektiven auf archäologische, historische sowie heutige Textilien.

Um die vorspanischen Gesellschaften und die sie bestimmenden sozialen Prozesse richtig verstehen zu können, ist es wichtig, Textilien in den Fokus der Forschung zu rücken. Unsere europäische Wahrnehmung von Textilien beschränkt sich auf das Textil als Objekt. Im Andenraum dagegen werden Textilien bis heute neben Objekt- auch Subjekteigenschaften zugeschrieben. Durch langwierige Lernwege und den aufwendigen Produktionsprozess werden und wurden sie in familiäre, gesellschaftsbildende und politische Prozesse eingebunden. So benötigten beispielsweise Inka-Herrscher ein spezielles Gewand, um in ihr Amt eingeführt werden zu können. Nach der Ernennung mussten sie eine zweijährige Reise durch den Inkastaat antreten, um das entsprechende Textil in verschiedenen hochspezialisierten comunidades anfertigen zu lassen. Die Reise gewährleistete dem späteren Inka-Herrscher den Aufbau einer politischen Struktur und ein Netzwerk an sozialen Kontakten. Gleichzeitig galten inkaische Textilien als identitätsstiftend. In einem Akt der Unterwerfung wurden Besiegte entkleidet und verloren im Verständnis der Inka dadurch ihre kulturelle Identität.

Die Arbeitsteilung in der Textilproduktion bei den Inka basierte neben dem Konzept der geschlechtlichen Arbeitsteilung auch auf gesellschaftlicher, räumlicher und qualitativer Arbeitsteilung. Weben wurde sowohl von Männern als auch von Frauen erlernt. Die Spezialisierung auf bestimmte Techniken und Prozesse wiederum erfolgte nach Geschlecht. Hochspezialisierte Weberinnen, die acllas, was mitunter mit vírgenes del sol (Jungfrauen der Sonne) übersetzt wurde, produzierten Textilien für die Inka-Elite. Die acllas lebten und arbeiteten in eigenen, acllawasi genannten Produktionsstätten in den politischen Zentren und waren hochangesehene Handwerkerinnen, die der gesellschaftlichen Elite angehörten.

Mit dem Beginn der Kolonisierung stülpten die Spanier ihre binären Geschlechtervorstellungen der inkaischen Gesellschaft über. Hieraus resultierten falsche Analysen wie die Annahme, dass die acllas ein Harem des Inka-Herrschers seien. Die Übernahme europäischer Gesellschaftskonzepte, die in der Kolonialzeit fußt, wurde in der Wissenschaft festgeschrieben durch den Fokus auf Geschlecht als vorausgesetzte Kategorie, über die sich Gesellschaft ordnet. Bis heute werden sie von Forscher*innen, sogar in der feministischen Anthropologie, reproduziert und zu selten hinterfragt.

Textilarbeiten werden so bis heute als natürliches Handwerk von Frauen* interpretiert. Diese Naturalisierung vermeintlich weiblicher Tätigkeiten spiegelt sich im 20. Jahrhundert in einer gesellschaftlichen Haltung wider, die Familie, weibliches Handwerk und Haushalt umfassende Arbeit abwertend als Weiberkram hinstellt. Wenn Männer in der Textilbranche auftauchten, dann nur bei der Arbeit mit modernen Werkzeugen und Maschinen.

 

Genaue Anfänge der Textilarchäologie lassen sich nur schwer festlegen, sie sind nicht dokumentiert. In den archäologischen Ausgrabungen wurden Textilien, als „natürliches Frauenhandwerk“, lange nicht beachtet. Vielmehr wurden Metallobjekte wie Waffen, (Schmuck-)Keramik und Überreste baulicher Substanzen dokumentiert und untersucht. Die Archäologie war in dieser Zeit eine reine Männerdomäne. Die recht einseitigen Interessen der Archäologen und Sammler dieser Zeit sehen wir heute beispielsweise in überfüllten Waffendepots unserer Museen abgebildet.

Die einzigen Fundkontexte, in denen Textilien wohl dokumentiert wurden, sind Gräber gesellschaftlicher Eliten, denen wertvolle Textilien beigelegt wurden. Häufig wurden aus diesen Grabbeigaben nur schöne und aufwendige Ornamente ausgeschnitten und mitgenommen. Die ohnehin fragilen Gewebestrukturen wurden mutwillig zerstört und ein enormer Informationsverlust (wissentlich) in Kauf genommen. Zudem führt die unzureichende und unprofessionelle Konservierung zahlreicher Textilien in heutigen Analysen dazu, dass fremde Strukturen auf diesen gefunden werden, die die Ergebnisse verfälschen.

Im 19. Jahrhundert zeigten einige Forscher erstmalig Interesse an Textilien als archäologischen Quellen, und es wurden aufwendige Zeichnungen von Textil und Grabungskontext gefertigt. Auch wenn diese Textilien nicht weiter untersucht und vielfach nicht „gesammelt“ wurden, kann dieser Zeitraum als Ursprung der Textilarchäologie angesehen werden.

Die wissenschaftliche Anerkennung als eigener Forschungsbereich dauerte trotzdem noch bis Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts. Bis vor zwanzig Jahren stand die reine textiltechnische Untersuchung im Mittelpunkt der Analysen. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wurde dieser Ansatz um die Analyse der Fundumstände erweitert und bildet nun einen interdisziplinären Ansatz aus geistes- und naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden. Dieser Ansatz gewährleistet eine differenzierte Herangehensweise und bietet enormes Potenzial, umfassende Forschungsergebnisse zu erzielen. Mit dem neuen Forschungsansatz hat sich herausgestellt, dass selbst kleine textile Fragmente außergewöhnlich viele Informationen tragen, die umfangreiche Analysen zulassen.

Doch Untersuchungen der Textilarchäologie sind langwierig und schwierig, Wissenschaftler*innen brauchen daher Begeisterung, viel Ausdauer und die finanziellen Mittel, um aufwendige Untersuchungen durchzuführen. Aus eigener Erfahrung berichtet Banck-Burgess, dass all dies oft leider fehle. „Archäologie ist auch Politik“, so die Wissenschaftlerin. Während in den Naturwissenschaften langwierigen und schwierigen Forschungsprojekten nichts im Wege steht, werden in Geistes- und Gesellschaftswissenschaften „zumeist schnellere Ergebnisse“ erwartet. So ist es schwierig, Fördermittel zu vereinen, um große Textilforschungsprojekte ins Leben zu rufen.

Gilt die Forschungsdisziplin Textilarchäologie als weibliche Domäne, so ist die Archäologie im Ganzen, wie viele andere universitäre Fachrichtungen auch, männerzentriert. Wichtige Positionen werden meist von Männern besetzt und im Fall der Andenarchäologie wird dies zum Problem.

Erst kürzlich wurden eine Reihe von strukturell organisierten sexuellen Übergriffen von führenden Andenarchäologen auf junge Archäolog*innen von der Zeitschrift Mano alzada und dem US-amerikanischen Journalisten Michael Balter aufgedeckt. Die Übergriffe fanden meist während Grabungen in Peru statt. Wer sich den übergriffigen Annäherungsversuchen widersetzt, der drohen Konsequenzen, die den Karrieren der Betroffenen ein Ende setzen können. Viele der Betroffenen haben sich mittlerweile beruflich umorientiert. Hauptsächlich werden in den Artikeln der peruanische Archäologe und ehemalige Kulturminister Perus Luis Castillo Butters und der US-amerikanische Harvard-Archäologe Gary Urton, einer der wichtigsten Quipu-Spezialisten, beschuldigt. Mittlerweile wurden weiteren Professoren sexuelle Übergriffe vorgeworfen. An den genannten Fällen wird sehr deutlich, dass die strukturelle Machtausnutzung von Andenarchäologen in hohen Positionen vielen angehenden Archäologinnen den Weg in die Wissenschaft versperrt. Während die Beschuldigten die Vorwürfe zurückweisen und ihre Anwälte eingeschaltet haben, beurlaubten die Universitäten Harvard und die Pontificia Universidad Católica del Perú in Lima die Professoren und brachten ein Untersuchungsverfahren in Gang. Ausgelöst durch die Veröffentlichungen haben sich internationale Netzwerke von Betroffenen und Wissenschaftler*innen der Archäologie und Anthropologie zusammengeschlossen. Trotz Drohungen und Gegenanschuldigungen kämpfen sie dafür, dass dem Handeln der Täter endlich Konsequenzen folgen.

Die noch junge Forschungsdisziplin Textilarchäologie muss viele Hürden nehmen. Zum einen sind Textilien gesellschaftlich negativ vorbesetzt. Die scheinbar untrennbare Verknüpfung des Weiblichen mit Textil verhindert eine neue Ausrichtung von Forschungsschwerpunkten in der Archäologie, die hauptsächlich durch Männer gestaltet werden. Da sich nur wenige Männer dem Thema Textil widmen, ist aus dieser Richtung vorerst kein Umbruch zu erwarten. Auf der anderen Seite wird vielen Frauen in der andinen Archäologie der Weg in die Wissenschaft durch sexistische Netzwerke der Macht versperrt. Die aussichtsreiche Verknüpfung praktischen und theoretischen Wissens in den Amerikas, um Erkenntnisse über die Vergangenheit und die Gegenwart zu erlangen, wird nicht zuletzt durch diskriminierende Prozesse und Geringschätzung von nicht universitärem Wissen in der Forschung verhindert. Zudem erfahren die wenigen Textilarchäolog*innen, die sich erfolgreich Stellen erkämpft haben, viel Zurückhaltung. Neue Grabungstechniken und Analysemethoden werden nicht ausreichend anerkannt, um diese weiter ausbauen zu können. Banck-Burgess berichtet, dass sich die Anerkennung der Forschungsdisziplin seit der Schaffung ihrer Stelle im Jahr 2004 nicht verbessert habe. Auf die Frage nach der Zukunft der Textilarchäologie antwortet sie resigniert: „Wenn es überhaupt eine Veränderung geben wird, dann erst in fünf bis sechs Generationen.“ Die Textilarchäologie bleibt wohl vorerst „nur Weiberkram“.

Quellen: Telefonat mit Dr. Johanna Banck-Burgess am 7. August 2020 und Interview mit Elvira Espejo in dieser ila