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Gegenseitiger Respekt

Interview mit Rosa Colta, einer Hebamme und Heilerin aus Otavalo/Ecuador

Der Beruf der Hebamme darf zu den ältesten weltweit gezählt werden. Während Hebammen heute in den meisten lateinamerikanischen Staaten ein formalisiertes Ausbildungsprogramm, nicht selten ein Studium, durchlaufen, gibt es unzählige, vor allem indigene Geburtshelferinnen, die außerhalb der institutionalisierten Gesundheitssysteme praktizieren. Ihr spezialisiertes Wissen ist Teil der indigenen medizinischen Systeme, ihre Praktiken in den sozialen und kulturellen Kontext eingebettet.

Naomi Rattunde

Die Verfassung Ecuadors von 2008 sieht ein nationales Gesundheitssystem vor, das die Komplementarität mit der indigenen Medizin fördert. Heiler*innen, die mit Mitteln der überlieferten Medizin arbeiten, werden explizit als Akteure anerkannt, denen die Gewährleistung der öffentlichen Gesundheitsversorgung obliegt. Es liegt in der Verantwortung des Staates, die Praktiken der indigenen Gesundheitssysteme durch die Anerkennung und Förderung des überlieferten Wissens, der Medikamente und Instrumente zu garantieren. Neben der Förderung zählt auch die Erforschung der indigenen Medizin zu den Aufgaben des Gesundheitsministeriums, wie das Gesundheitsgesetz (Ley Orgánica de Salud) spezifiziert, das außerdem vorsieht, dass interkulturelle Programme, Projekte und Modelle in das nationale Gesundheitssystem integriert und das Wissen der „traditionellen“ Medizin verbreitet werden.

Vor diesem Hintergrund sind sogenannte „interkulturelle“ oder „kulturell angemessene“ Entbindungen seit einigen Jahren Teil der Politik des Gesundheitsministeriums. Diese integrale Versorgung, bei der Mutter und Kind „humanisierte Aufmerksamkeit“ zuteil wird, beginnt mit pränatalen Vorsorgeuntersuchungen, bei denen über Gefahren während der Schwangerschaft und Risiken durch Vorerkrankungen aufgeklärt wird, schließt Beratungen zur Planung der Geburt ein und zielt auf eine respektvolle Betreuung bei und nach der Geburt in einer „nicht so krankenhausmäßigen“, sondern „warmen und freundlichen Umgebung“ ab, in der sich die Frauen „wohl und sicher fühlen können“. Zur „humanisierten Aufmerksamkeit“ gehört auch, dass die Frauen die Geburtsposition frei wählen können und die ihrer kulturellen Identität entsprechende Kleidung tragen dürfen.1

Im Hospital San Luis de Otavalo kommen inzwischen 87 Prozent aller Kinder durch vertikale oder „traditionelle“ Geburten zur Welt.2 Das ist vor allem Rosa Colta zu verdanken, einer Kichwa-Kayambi-Heilerin aus der comunidad Angla im Bezirk San Pablo des Kantons Otavalo, die dort von Montag bis Freitag als Hebamme arbeitet.

Rosa, wie sind Sie Hebamme und Heilerin geworden? Wer hat Ihnen dieses Wissen beigebracht?

Danke für die Frage. Mir wurde das nicht beigebracht, sondern ich wurde mit diesem don, mit dieser Gabe, curandera (Heilerin) zu sein, geboren. Mein Großvater war curandero und meine Großmutter Hebamme und ich bin mit ihnen aufgewachsen und habe von ihnen gelernt. Man muss geduldig sein und die Bereitschaft haben, all diese Dinge zu lernen. Meine Eltern haben diesen don meiner Großeltern an mich weitergegeben. Deshalb arbeite ich so wie sie. Die Menschen, die zu mir kommen, sind von überall her, hier aus der Provinz Imbabura, aus anderen Teilen Ecuadors und auch aus anderen Ländern. Und ganz egal, von wo sie kommen, helfe ich ihnen mit dem, was ich kann. Das Wissen und die Weisheit sind dazu da, um mit den Menschen geteilt zu werden.

Sie haben über 30 Jahre Berufserfahrung und seit bald acht Jahren arbeiten Sie als Hebamme im Hospital San Luis de Otavalo. Was ist das Besondere an diesem Krankenhaus?

Das Hospital San Luis in Otavalo ist ein interkulturelles Krankenhaus und ein wichtiges Referenzprojekt auf provinzieller und nationaler, aber auch auf internationaler Ebene. Bei der interkulturellen Gesundheit geht es darum, beide Systeme miteinander zu kombinieren, also die Verfahren und Medikamente der westlichen Medizin und das Wissen der indigenen Medizin. Für uns geht es darum, dieses Wissen zu stärken und zu teilen. Eigentlich müsste das überall so gemacht werden, aber der Aufbau eines interkulturellen Gesundheitssystems muss auch von den Regierungen gefördert und begleitet werden. Leider hat bisher nur Otavalo ein solches Krankenhaus, vor allem auch wegen der Kämpfe der indigenen Bewegungen. Dank dieser Kämpfe sind wir hier im Gesundheitsbereich weitergekommen.

Warum ist es wichtig, diese beiden Perspektiven zusammenzubringen?

Ich habe mit dem formellen, westlichen Gesundheitssystem genauso zu tun wie mit der traditionellen Medizin. Beide können sich ergänzen und dabei viel gegenseitigen Respekt erfahren, was mir sehr gefallen hat. Es gibt viele, die eine interkulturelle Geburt oder in selbst gewählter Geburtsposition (parto en libre posición) entbinden wollen, das heißt, so wie unsere Vorfahren es gemacht haben, oder im eigenen Haus. Ich selbst habe auch bei mir zuHause entbunden und viele indigene Frauen brauchen und wollen das. Es gibt heute außerdem zu viele Probleme wegen schlechter Ernährung, wir konsumieren oft nicht mehr die natürlichen, gesunden Lebensmittel, die hier wachsen und seit langem angebaut werden. Auch bei diesem Thema ist die Kombination von westlicher und traditioneller Gesundheitsversorgung fundamental, gerade auch innerhalb einer öffentlichen Institution. Mir geht es also sehr gut mit meiner Arbeit und ich wiederhole, das sollte überall, in allen Krankenhäusern auf nationaler und internationaler Ebene so praktiziert werden.

Wie funktioniert denn die Zusammenarbeit mit den formell ausgebildeten Ärzt*innen? Gibt es manchmal auch Schwierigkeiten?

Nein, Schwierigkeiten gibt es eigentlich nicht, sondern vielmehr gegenseitigen Respekt zwischen den formell ausgebildeten Fachkräften und meiner Person. Gegenseitiger Respekt bedeutet Dialog; wir sind im Dialog und müssen das auch sein. Bei uns gibt es nicht so was wie „Du mit deiner wissenschaftlichen Ausbildung“ oder „Du hast ja nur dein indigenes Wissen“. Respekt, Kommunikation und Information sind sehr wichtig. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau ohne Voruntersuchungen kommt, bringe ich sie zu einem Gynäkologen, damit er die entsprechenden Untersuchungen durchführt. Andere verweise ich an ein öffentliches Gesundheitszentrum (Subcentro de Salud), damit sie da untersucht werden.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag im Hospital San Luis aus?

Einen typischen Arbeitstag habe ich nicht. Bei meiner Arbeit geht es mehr darum, mein Wissen, meine Weisheit anzuwenden, um die Menschen, die dort hinkommen, bei einer humanisierten, vertikalen oder traditionellen Entbindung zu begleiten. Ich helfe dabei, gebe den Frauen Erklärungen, unterhalte mich mit ihnen, unterstütze diese Kraft, die sie mitbringen, damit sie in Ruhe gebären können. Oder anders gesagt, damit sie mit allem Enthusiasmus, mit dieser Energie, die sie mitbringen, den Geburtsprozess beginnen, um pressen und das Baby auf die Welt bringen können. Darum geht es bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Aber ich bin auch nicht die einzige Hebamme, die so arbeitet. Wir sind alle gleich, wir haben alle dieses Wissen, zum Beispiel darüber, was wir mit der Plazenta machen und weshalb.

Ich habe gelesen, dass Sie selbst schätzen, dass sie mehr als 5000 Geburten als Hebamme begleitet haben, eine ziemlich beeindruckende Zahl. Sind alle Frauen, die Sie begleiten, Kichwa?

Überhaupt nicht. Wir suchen die Frauen nicht danach aus, ob sie Kichwa, Mestizinnen oder Afroecuadorianerinnen sind. Denn eine Entbindung in einer Position, in der sich die Gebärende sehr gut fühlt, also eine humanisierte Entbindung, vertikal, im Sitzen oder Liegen, ist für alle Frauen, egal ob von hier oder woanders. Sie sollen die Möglichkeit haben, sich so zu positionieren, wie es für sie angenehm ist, um richtig pressen zu können. Es hängt alles vom Wunsch der Patientin ab, wir sagen nicht, dass interkulturelle Geburten nur für indigene Frauen sind.

Das Konzept der interkulturellen Gesundheit ist in der Verfassung Ecuadors von 2008 verankert, die auch ihre Förderung durch staatliche Institutionen vorsieht. Wie beurteilen Sie die Fortschritte in diesem Bereich und was ist noch zu tun?

Dank der Verfassung von 2008 darf ich der Patientin zum Beispiel meine agüitas („Wässerchen“, Heilkräutertees) geben, wenn sie das möchte. Ich darf den espanto3 (Schrecken, Schock) heilen, ich darf Reinigungen von schlechten Energien durchführen. All das erlaubt die ecuadorianische Verfassung. Sie sagt auch, dass es im ganzen Land Krankenhäuser geben muss, die sich der interkulturellen Gesundheit verschreiben, damit diese Rechte auch praktisch ausgeübt werden können. Aber mit Blick auf ganz Ecuador ist noch unglaublich viel zu tun! Ich habe das Gefühl, dass wir hier in Otavalo mit dem Hospital San Luis ziemlich komplett ausgestattet sind. Aber wie gesagt, das ist Ergebnis von harten Kämpfen. Ich bin Vorkämpferin für ein interkulturelles Gesundheitssystem in Ecuador, sehr intensiv war es in den Jahren 1999 und 2000. Zuerst habe ich mich für interkulturelle bilinguale Bildung eingesetzt und dann für interkulturelle Gesundheit. Gott sei Dank und weil ich wirklich gekämpft habe, hat das in meinem Fall geklappt. Ich habe meine Ernennung, meine Arbeit hier, und das schon seit fast 20 Jahren. Aber dieses Recht, im Krankenhaus arbeiten zu können, ist mir nicht zugefallen, sondern ich habe mir diese Position erkämpft. Mir geht es also gut, aber es fehlt noch enorm viel. Ich bin auch viel herumgereist und kann daher sagen, dass es in vielen Krankenhäusern eben keine Hebamme gibt. Natürlich gibt es Hebammen in den comunidades, aber nicht in den Krankenhäusern. Es ist also noch einiges zu tun. Aber die Verfassung erlaubt, dass ich meine Steine, meine agüitas, meine Frösche, meine Heilpflanzen und all das einsetze.

Sie sind Teil der Asociación Pachamama in der comunidad Angla, die neben vielem anderen auch im Bereich der Medizin aktiv ist.

Die Frauenorganisation Asociación Pachamama gibt es seit 1996. Ich habe sie ins Leben gerufen. Wir bieten Agrotourismus an, sind in den Bereichen andine Musik und Gastronomie aktiv, indem wir von unseren Vorfahren überlieferte Speisen und Getränke zubereiten, wir machen Stickereien (identitätsbildendes Element der Blusen den Kichwa-Frauen - N.R.) und führen auch Reinigungen von schlechten Energien und andere Reinigungsrituale durch. Ich bin so etwas wie der Kopf der Gruppe, weil es mir immer gefallen hat, für eine Gruppe zu arbeiten, nicht für mich persönlich. Ich habe solche Initiativen immer unterstützt und sehe mich als eine Unternehmerin für die Asociación Pachamama, für alle Frauen, nicht für mich selbst.

Würden Sie noch etwas näher auf ein Beispiel für die Aktivitäten im Feld der indigenen Medizin eingehen?

Gerne, zum Beispiel die Pflanzensalben. Darüber habe ich 2003 in Toronto eine Menge gelernt, wohin ich mit einer Ernährungswissenschaftlerin von dort gereist bin, die eine Zeit lang hier in Ecuador gearbeitet hat, sodass wir uns eng angefreundet haben. Ich war dort bei einem Treffen, an dem Menschen aus verschiedenen Ländern teilgenommen haben, zum Beispiel Indigene und auch Hebammen aus unterschiedlichen Regionen Kanadas, und wo wir uns über alles mögliche ausgetauscht haben. Dort habe ich das ganze theoretische Wissen über die Herstellung von Pflanzensalben her, also genaue Mengenangaben, wie viele Milliliter Olivenöl oder Honig man für wie viele Unzen kleingeschnittene oder anders vorbereitete Pflanzen benötigt. Aber ich mache die Salben hier, auf meine Art und Weise, mit meinen Heilpflanzen und meinem Wissen, bei mir zu Hause. Und ich gebe auch dieses Wissen weiter, habe anderen gezeigt, wie es geht. Leider haben sie damit bisher nicht weitergemacht, aber ich stelle weiter diese Salben her. Ein anderer wichtiger Teil  sind die andinen Reinigungen. Das ist sozusagen mein Fachbereich, den ich mit den anderen Frauen teile. Zwei Compañeras lernen von mir, aber ihnen fehlen noch die Bitten und vieles andere. Manchmal machen wir auch etwas falsch und es kommen keine Tourist*innen, um unsere Angebote von der Asociación wahrzunehmen.

Das Interview führte, übersetzte und bearbeitete Naomi Rattunde im November 2019.