ila

Beschimpfungen statt Debatte

Interview mit dem bolivianischen Medienexperten Samuel Alcácer

Samuel Alcácer ist als Grafikdesigner dafür prädestiniert, Memes zu produzieren. Früher war er bei der Nichtregierungsorganisation CEADL in El Alto für Internetkampagnen verantwortlich. Dabei hat er sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich Jugendliche über die sozialen Medien politisch beteiligen können. Heute arbeitet er für das bolivianische Staatsfernsehen „Bolivia TV“.

Peter Strack

Inwiefern tragen die sozialen Medien in Bolivien zur Demokratisierung der politischen Meinungsbildung bei?

Die sozialen Medien haben neue Diskussionsräume vor allem für diejenigen aufgemacht, die früher von der Politik, geschweige denn der Regierung ausgeschlossen waren: Jugendliche, Frauen etc. Über das Internet können sie die Regierenden jetzt erreichen. Früher kostete 1 MB Geschwindigkeit pro Monat 400 bis 500 Bolivianos (Bs.) heute kosten 10 MB um die 380 Bs. (etwa 35 US-Dollar) im Monat, Internet-TV eingeschlossen. Zumindest in den Städten haben heute die meisten Internetanschluss. Und die Geräte sind auch günstiger geworden, seit chinesische Produkte auf dem Markt sind. Ein Androidhandy bekommt man heute für 1000 Bs., das können sich die meisten leisten. Und für 2 Bs. am Tag ist man Teil der sozialen Netzwerke. Das Problem ist allerdings, dass diese Kanäle nicht angemessen genutzt werden. Wenn der Präsident eine Meldung twittert, gibt es kein Debatte, sondern vor allem Beschimpfungen. Bei der Rechten ist es genauso. Wenn Carlos Mesa, einer der Twitterer mit den meisten Followern, eine Nachricht schickt, bekommt er zwar auch Unterstützung, aber auch erniedrigende Antworten.

Angesichts der häufigen Verletzung der Persönlichkeitsrechte und Falschmeldungen im Internet spricht die Regierung immer wieder von der Notwendigkeit, die sozialen Medien durch ein Gesetz zu regeln.

Das dürfte schwer sein, denn das Internet basiert auf der Anonymität. Du kannst eine falsche Identität erschaffen.

Der Innenminister hat jüngst gesagt, dass seine Leute jede Quelle im Internet identifizieren könnten.

Das wird nicht so einfach sein, auch wenn das Internet für kriminelle Aktivitäten genutzt wird. Das Instrument ist diesbezüglich neutral. Was wir wirklich brauchen, ist Bildung. Die Schulen müssen vermehrt das Internet als eine Chance zum Lernen ansehen und nicht nur als ein Medium für persönlichen Austausch oder Ablenkung. Die Sekundarschulen und Lehrpersonen verfügen inzwischen über Laptops; was fehlt, ist die pädagogische Arbeit, Lehrpläne, Unterrichtseinheiten.

Hast du Erfahrungen damit gemacht, wie die sozialen Netzwerke im positiven Sinne auf die politische Meinungsbildung oder Entscheidungsfindung Einfluss nehmen konnten?

Ja, vor allem bei meiner Arbeit mit Jugendlichem und sozialen Bewegungen im CEADL. Da kam das Thema von einem besseren Internet für Bolivien auf. Wenn wir zu einer Demonstration aufriefen, kamen vielleicht zehn Leute, aber im Internet beteiligten sich viel mehr. Damit die Internetfirmen ihre Angebote verbessern, wurde zum Beispiel die Seite des Telekommunikationsunternehmens TIGO gehackt, Dienstleistungsangebote wurden verweigert. Das Thema war so präsent, dass der Aufsichtsbehörde ATT am Ende nichts anders übrig blieb, als uns und die Anbieterfirmen zum Gespräch einzuladen. Es kam zu Verbesserungen und heute haben wir Internet für alle.

Und in der Politik? Hast du Carlos Mesa einmal geschrieben, um mit ihm zu diskutieren, hat er dir geantwortet?

Nein, der dürfte auf seine Tweets mindestens tausend Antworten bekommen. Er ist zwar ein fleißiger und effizienter Twitterer, aber reagiert direkt nur auf einige wenige, mit denen er sich austauschen will. Der Präsident und andere Präsidentschaftskandidaten antworten überhaupt nicht. Das sind reine Kanäle zur Verbreitung der eigenen Auffassungen. So werden getrennte Bereiche unterschiedlicher politischer Ausrichtung geschaffen, aber keine politische Debatte, wo Ideen und Vorschläge in einen Schlagabtausch treten.

Manche sagen, Politik werde nicht im Internet gemacht.

Dass das ein Irrtum ist, hat der Medienkrieg im Internet gegen die erneute Kandidatur von Evo Morales beim Verfassungsreferendum am 21. Februar 2016 gezeigt. Schließlich haben heute fast alle ein Smartphone. Und viele Leute lesen und glauben, was in Facebook geschrieben wird, und prüfen nicht, ob es stimmt. Das war die erste Abstimmung, die Evo Morales verloren hat. Das Internet hat heute mehr Einfluss auf die Politik als die traditionellen Medien. Es ist viel schneller, viel umfassender, du kannst während der Busfahrt zur Arbeit oder sonst wo darin lesen. Im Internet findest du alles, während die traditionellen Medien je nach ihrer politischen Ausrichtung die Nachrichten auswählen. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, wie der oder die Einzelne diese Vielfalt dann filtert und verarbeitet.

Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen in den USA wurde Facebook gezielt genutzt, um über Programme persönlich zugeschnittene Nachrichten an die Nutzer*innen zu schicken. Man kann die Verbreitung der eigenen Nachrichten auch durch den Kauf von Filtern und Verteilern gezielt verstärken. Wie ist das in Bolivien?

Diejenigen, die die nötigen Mittel haben, zahlen dafür bei Facebook oder Twitter. Die wichtigsten Influencer bei Twitter sind der Präsident, der Politiker und Unternehmer Samuel Doria Medina und Carlos Mesa. Es ist davon auszugehen, dass sie die Möglichkeit, für eine bevorzugte Verbreitung zu zahlen, auch nutzen. Beim Präsidenten weiß ich es. Aber eine so gezielte Auswertung von Personendaten mit Analysetools wie bei Cambridge Analytica gibt es in Bolivien wohl noch nicht. Das ist ja auch sehr teuer.

Die MAS hat ihre Guerreros Digitales, ihre „Digitalen Krieger“.

Bei der MAS handelt es sich vor allem um die eigene Parteijugend. Und die anderen Parteien haben das wohl auch, aber sie sagen es nicht so offen. Jeden Tag gibt es ein neues Meme gegen den Präsidenten, den Vizepräsidenten oder irgendjemand anderen in der Regierung. Und bei aller Kreativität der Internautas (Internetaktivist*innen) glaube ich, dass auch die Opposition Leute dafür beschäftigt. Und um dem etwas entgegenzusetzen, hat die Regierung eine eigene Abteilung im Informationsministerium geschaffen.

Es ist etwas delikat, wenn eine Regierungsstelle mit Staatsgeldern parteipolitische Interessen verfolgt.

Im Grundsatz ist es ein gute Entscheidung, im Ministerium einen eigenen Arbeitsbereich für die Informations- und Kommunikationstechnologien zu haben. Denn die sozialen Medien haben ein großes Potenzial für politische Bildung und Beteiligung, auch wenn sie für komplexe Informationen wenig geeignet sind und es deshalb leicht zu Manipulation kommen kann. Aber selbstverständlich ist es etwas anderes, wenn dieses Instrument dann nur für bestimmte Interessen einer Partei genutzt wird.

Das Interview führte Peter Strack am 25. Mai 2019 in La Paz.