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Es war immer mein Traum, Fotograf zu werden

Interview mit José Giribás Marambio über sein Leben zwischen Chile und Deutschland

Unter der Rubrik „Lebenswege“ stellt die ila Menschen vor, deren Geschichte sich zwischen den Kontinenten Europa und Lateinamerika bewegt, weil sie auf der einen oder anderen Seite des Atlantiks ins Exil gehen mussten. Durch seine Ausstellung „Über Folter spricht man nicht“ (siehe ila 419) lernten wir den Chilenen José Giribás kennen, der heute als Fotograf in Berlin lebt. In der Zeit der Allende-Regierung arbeitete er in einer Getränkefabrik und beteiligte sich an der Organisierung der Arbeiter*innen in den Cordones Industriales (siehe ila 345 und 368). Am Tag des Putsches besetzte er mit einigen Kollegen die Fabrik. Danach floh er nach Argentinien und konnte von dort nach West-Berlin ausreisen. Seinen Versuch, nach dem Ende der Diktatur wieder in Chile zu leben, brach er nach kurzer Zeit ab, aber er beschäftigt sich weiterhin intensiv mit seinem Herkunftsland. Alix Arnold sprach mit José Giribás über sein in vieler Hinsicht außergewöhnliches Leben.

Alix Arnold

Du hast vor dem Putsch 1973 in Santiago in einer Fabrik gearbeitet. Was war dein sozialer Hintergrund?

Diese Fabrik war für mich ein Lottogewinn! Wenn du aus einer armen Familie kamst, konntest du damals in Chile nur über Freunde einen Job bekommen. Ich hatte einen guten Freund in der Kirchengruppe, die ich besuchte. Dieser Junge hatte einen Job in einer privaten Firma für Getränke gefunden und hat mir den Kontakt zu der Firma vermittelt. Wir haben Ginger Ale produziert.

Die Kirche hatte in Chile eine sehr wichtige soziale Funktion. Für Jugendliche aus armen Familien bot sie eine Beschäftigung. Du kamst in eine Jugendgruppe, natürlich musstest du zur Messe gehen, aber danach bekamst du ein gutes Frühstück und du konntest vielleicht einen Film angucken. Und einmal im Monat habe ich eine große Dose mit Cheddarkäse bekommen, mit der ich ganz stolz nach Hause marschierte. Das kam aus dem Programm „Allianz für den Fortschritt“ der Amerikaner und die Kirche hat diese Sachen verteilt. Unter der Diktatur hat mir die Kirche über das Komitee Pro Paz geholfen, das Land zu verlassen, und später hat sie mit der Vicaría de Solidaridad enorme Arbeit geleistet, um die Verbrechen der Diktatur zu dokumentieren.

Wie hast du dich politisiert und wie lief die Organisierung im Betrieb?

Ich war als Jugendlicher stark von der cubanischen Revolution beeinflusst. Fidel und Che sind für mich bis heute unantastbar. In der Fabrik fand ich die Idee unserer Leute ganz klug, Gewerkschaften mit mehr Kraft zu bilden. Die Firma war klein, da haben mit Produktion und Verwaltung etwa 130 Leute gearbeitet. Die Gewerkschaften in Chile waren pro Firma organisiert. Das bedeutete, dass du überhaupt keine Durchsetzungskraft hattest. Wenn die Gewerkschaft sagte, wir streiken, hatten die Leute vielleicht zwei Monate lang kein Ginger Ale mehr zu trinken, aber das ist ja nicht lebensnotwendig. So kam die Idee der Cordones Industriales auf, um gemeinsam wirkungsvoller streiken zu können. In den Cordones Industriales organisierten sich nicht nur die Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern auch Schüler und Bewohner des Viertels.

Ich gehörte der Arbeiterorganisation Frente de Trabajadores Revolucionarios (FTR) an. Die Organisation war von der Partei MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) gegründet worden und Genossen der Partei kamen auch zu unseren Treffen. Ich war aber kein Parteimitglied. Unsere Fabrik war die größte in unserem Bezirk, dem Viertel Vivaceta in Santiago. Wir waren die Hauptfabrik in dem Cordón Industrial. Alle kleineren Firmen hielten Kontakt zu uns. Eine schöne Erinnerung an diese Zeit ist für mich, dass wir durch diese Organisation Zugang zu kulturellen Aktivitäten schaffen konnten. Über unsere Kontakte konnten wir zum Beispiel Theaterkarten besorgen und haben viele ins Theater gelotst. Wir haben kulturelle Möglichkeiten eröffnet, die vorher in Chile für Arbeiter gar nicht vorhanden waren.

Am Tag des Putsches habt ihr die Fabrik besetzt?

Wir sahen, dass sie unsere ganze Hoffnung der letzten drei Jahre zerstören wollten, und mussten irgendwie unsere Regierung verteidigen. Ich habe meine Frau mit unserem drei Monate alten Kind alleine zu Hause gelassen. Ich musste in die Fabrik! Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Ich war drei Tage in der Fabrik eingesperrt, denn es war erstmal Ausgangssperre, und ich hörte jeden Abend die Schießereien. Da habe ich nach Möglichkeiten gesucht, meine Frau zu benachrichtigen, die kein Telefon hatte. Ich habe zwei Nächte lang im Telefonbuch gesucht, bis ich jemanden mit Telefon in der Nähe gefunden hatte, und ich konnte dabei nur hoffen, dass das kein Anhänger des Putsches war. So schaffte ich es nach zwei Tagen, meiner Frau Bescheid zu geben, dass ich noch lebte und dass sie sich keine Sorgen machen sollte.

Wir dachten damals, dass vielleicht Teile des Militärs loyal zu Allende stehen und dass die linken Parteien die Waffen bringen würden, die sie immer versprochen haben. Aber das war alles Utopie. Wir haben nie eine Waffe gesehen und wir hätten auch gar nicht damit umgehen können. In einigen Vierteln waren tatsächlich Waffen, da wurde gekämpft, aber nicht in unserem. Zum Glück ist das Militär nicht zu uns gekommen. Wir waren nicht wichtig für sie. Nach drei Tagen kamen die privaten Besitzer und haben uns mit Arschtritten rausgeworfen. Wir wurden entlassen und wegen Sabotage angeklagt. Sie haben uns zur Last gelegt, dass wir am Tag des Putsches, als wir erfahren haben, dass Allende tot ist, eine chilenische Fahne mit Trauerflor auf dem Dach der Fabrik angebracht haben. Sie meinten, das Militär hätte das zum Anlass nehmen können, die Fabrik zu bombardieren, und das sahen sie als Sabotage. Aber als der Prozess war, war ich schon in Argentinien.

Nach der Entlassung hat ein Freund, der Grafiker war, mir einen Flyer gemacht: „Fotograf für Familien und Kinder.“ Die zwei, drei Monate, die ich noch in Chile blieb, hat mir das erlaubt, mich in der Stadt zu bewegen. An vielen Ecken standen Soldaten und wenn du während der Arbeitszeit auf der Straße warst, musstest du das erklären können. Ich konnte nicht sagen, dass ich entlassen worden war. Aber ich war ja nun Fotograf. Das hat auch zu einer interessanten Geschichte geführt. Eines Tages saß ich zu Hause und sah eine Militärpatrouille kommen. Ich wohnte in so einer Passage, da hast du keine Möglichkeit wegzukommen. Die Militärpatrouille hielt vorm Haus und klingelte. Ich dachte nur noch: „Jetzt ist die Zeit gekommen“. Ich machte auf, und drei junge Soldaten mit MPs kamen rein. Die wollten sich fotografieren lassen! Drei Fotos von ihnen habe ich auch in meiner Ausstellung „Bilder einer Diktatur“. Ich würde gerne wissen, wie das Leben dieser Soldaten weitergegangen ist.

Wie bist du dann aus dem Land gekommen?

Ich hatte keinen Pass. Ich bin erst nach Argentinien geflohen, da brauchte man nur den Personalausweis. Mir war vom Komitee Pro Paz empfohlen worden, nach Mendoza zu fliegen, weil der Landweg zu gefährlich war. Wenn du da irgendwo verschwindest, merkt das keiner. Ich hatte natürlich kein Geld für einen Flug. Meine Frau und ich haben in Chile beide gearbeitet. Meine Frau war Sekretärin bei einer staatlichen Stelle. Wir konnten unsere Miete bezahlen und das Essen, aber wenn wir zum Beispiel Schuhe brauchten, mussten wir die in drei Raten kaufen. Um das Ticket für den kurzen Flug zu bezahlen, musste ich mir meine Rentenbeiträge auszahlen lassen.

In Argentinien hatten wir keinen Job und waren ständig latent in Gefahr. Perón lag im Sterben, man sah den Militärputsch in Argentinien kommen, und die Mörderbande AAA (Alianza Anticomunista Argentina) war auch bei der Verfolgung von Geflüchteten aus Chile sehr aktiv. Aber die Bevölkerung hat uns immer beschützt und gewarnt. Ich arbeitete als Nachtportier in einem Hotel, wo ich keinen Lohn bekommen habe, aber ich hatte wenigstens ein Zimmer zum Schlafen. Wir suchten einen Ausweg aus dieser Misere. Dann hat sich unter den Chilenen herumgesprochen, dass es vielleicht über die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Möglichkeit gäbe. Ich habe dort ein Stipendium für die Freie Universität bekommen, 580 DM im Monat. Ich bin einer der 70 Stipendiaten aus Chile. Aber ich musste noch vier Monate in Argentinien bleiben, bis ich einen Pass bekam und im Mai 1974 nach Berlin fliegen konnte.

Meine Frau kam mit unserem Kind aus Chile nach. Wir waren Flüchtlinge der Vereinten Nationen. Die haben das organisiert, dass wir nach Berlin fliehen konnten. Die erste Zeit lebten wir in einem Altenheim des DRK in Zehlendorf. In Berlin habe ich viele junge Leute getroffen, die sehr aktiv für Chile waren. Die haben uns auf Händen getragen Mit diesen Leuten bin ich bis heute noch befreundet. Wir haben später in einer Studentenwohngemeinschaft gewohnt, dort habe ich Deutsch gelernt.

Deine Flucht hat für dich auch einen sozialen Aufstieg gebracht – von der Fabrik über die Uni zur Fotografie.

Das war eine politische Geschichte. Ich war ja kein Wissenschaftler, keine Leuchte, die unbedingt ein Stipendium bekommt. Die Partei MIR wurde in Concepción in der Uni gegründet. Dort waren in dieser Zeit viele deutsche Dozenten. Als die überblickt haben, was auf uns nach dem Putsch zukommt, haben sie beschlossen, die Freie Universität dazu zu bewegen, Stipendien für gefährdete Chilenen zu vergeben. Das war nicht leicht in den 70er-Jahren, als das Wort Sympathisant hier schon kriminalisiert war. Unsere Unterstützer waren auch im Auge der Sicherheitsdienste und sogar meine Mentorin an der Uni sagte einmal zu mir: „José, wir müssen klar reden, auch wenn du morgen Deutsch sprichst und Supernoten in der Uni hast, wirst du hier nie einen Job kriegen. Du hast einen dicken Stempel 'Terrorist' auf dem Rücken.“ Deshalb bin ich nach anderthalb Jahren von der Uni weg und habe mich an der Fachschule für Optik und Fototechnik angemeldet. Damals gab es in diesem Bereich Arbeitsplätze in Massen und wenig Bewerber. Von 1976 bis 1988 habe ich in der Foto-Großlaborbranche als Techniker gearbeitet. Fabrik ist Fabrik, aber ich hatte zumindest mit Fotografie zu tun. Jahre später kam die Schule auf mich zu und fragte, ob ich nicht Fachdozent für Großlabortechnik werden wollte. Ich habe dann acht Jahre als Fachdozent gearbeitet.

Es war immer mein Traum, Fotograf zu werden. Ich habe immer fleißig fotografiert, auch in der Zeit, wo ich kein Bild verkauft habe. Die Studentenbewegung, die Hausbesetzerbewegung. Die Filme konnte ich umsonst in der Firma entwickeln. Aber ich hatte zunächst keinen Kontakt zur Presse und habe ihn auch nicht gesucht.

Du bist noch während der Diktatur wieder nach Chile gefahren um zu fotografieren?

Ich war sogar dreimal in Chile während der Diktatur, einmal für die taz und zweimal frei. Es war ziemlich brenzlig und sehr risikoreich, weil ich jedes Mal auch mein Asyl aufs Spiel gesetzt habe. Aber die Deutschen waren in der Richtung sehr großzügig zu mir. Ich hatte mir auch einen chilenischen Pass besorgt. In den Konsulaten gab es Leute, die zu uns standen. Das war meine große Sorge, als ich das erste Mal in Chile ankam. Ich hatte einen Flüchtlingspass der Vereinten Nationen, mit dem man an jeder Grenze schikaniert wurde. Mit diesem Pass bin ich nach Peru gereist und dann nach Tacna an der Grenze zu Chile. Es gab zwischen Tacna und Arica einen Taxitransfer. In dem Taxi habe ich die Pässe gewechselt. Ich habe allen Passagieren dieses Autos erzählt, was Sache ist, die hatten Telefonnummern in Deutschland, wo sie im Fall des Falles hätten anrufen sollen. Aber es ist alles gut gegangen.

In den ersten Tagen habe ich mich in Chile gar nicht getraut, mit der Kamera auf die Straße zu gehen. Dann bekam ich Kontakt zu Fotografen der AFI (Asociación de Fotógrafos Independientes), die die ganze Zeit der Diktatur dokumentiert haben. In dieser Zeit konntest du als Fotograf in Chile nicht alleine auf die Straße gehen. Wir waren immer in Gruppen. Mit Bildern dieser Fotografen haben wir hier in Berlin 1987 mit der NGBK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst) die Ausstellung „Ohne Filter“ gemacht.

Hast du nie daran gedacht, nach Chile zurückzukehren?

1989 habe ich die Kampagne für ein „No“ im Plebiszit von Pinochet in Chile fotografiert. Ich spürte schon den Wechsel und dachte: „Mein Chile ist wieder da.“ Diese Massenkundgebungen! Aber das war eine Täuschung. Meine Frau wollte auch zurück und wir hatten geregelt, dass ich 1989 nach Chile gehe. 1989 fiel in Berlin die Mauer, aber ich hatte schon ein Flugticket für den 9. Dezember. Ich habe tatsächlich die Wohnung und meine Arbeit gekündigt und bin mit 42 Umzugskartons nach Chile gefahren. Aber da hat sich schnell rausgestellt, dass das ein Fehler war. Die erste Pressekonferenz von Aylwin, dem gewählten Christdemokraten, wurde von Federico Willoughby geleitet, der nach dem Putsch Pressechef von Pinochet gewesen war. Das war für mich unerträglich. Der zweite politische Krach: Ich war in einer Diskussion mit Genossen und wollte meine Meinung sagen. Nach 16 oder 17 Jahren im Ausland hast du vielleicht einen anderen Blick, kannst vielleicht etwas beitragen. Aber ein Kollege stand auf und sagte: „Compañero, bitte Schnauze halten. Du hast 17 Jahre im Luxus gelebt, wir waren hier in der Scheiße.“ Ich merkte, dass ich nichts mehr zu sagen hatte. Und dann kam noch der Bruch mit meiner Familie, weil meine Frau unbedingt in Chile bleiben wollte. Das konnte ich nicht. Im Dezember 89 war ich nach Chile gekommen, und im Mai 90 habe ich einen Freund angerufen: „Ich werde hier verrückt, schick mir ein Ticket. Ich bezahle es dir, wenn ich zurückkomme.“ Mit nur einem Koffer kam ich Mitte Mai 1990 nach Berlin zurück.

Du hast dann schließlich doch noch als Fotograf gearbeitet, für große Medien im In- und Ausland.

Als ich zurückkam, dachte ich: „Ok, ich war jahrelang in der Fabrik, jetzt bin ich frei und kann doch noch versuchen, Fotograf zu werden.“ Und das habe ich dann gemacht. Ich fing beim Sender Freies Berlin (SFB) an zu fotografieren und dann hab ich für den „Spiegel“ gearbeitet als freiberuflicher Fotograf, das ging bis 2006. So bin ich mit einem ziemlich riesigen Umweg Fotograf geworden.

Ab und zu begleite ich als Fotograf führende Persönlichkeiten auf offiziellen Reisen. Das Projekt über Folter in Chile (vgl. Ausstellungsbericht „Über Folter spricht man nicht“ in der ila 419) ist nur zustande gekommen, weil ich mit dem Bundespräsidenten Gauck in Chile war und auf diese Weise den Kontakt zu den Menschenrechtsorganisationen bekommen habe. Ich bin glücklich und auch ein bisschen stolz, dass ich es doch noch geschafft habe, Fotograf zu werden, und ich denke, dass ich einige Zeitdokumente geschaffen habe, die ein Beitrag zum historischen Gedächtnis meines Landes sind.

Das Interview führte Alix Arnold im November 2018 in Berlin.

Dokumentarfilm La ciudad de los fotógrafos über die Fotografengruppe AFI: www.youtube.com/watch?v=ZRRltMH5biA