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Ein Tanz ist mehr als seine Schritte – er zieht dich in seinen Bann

Wie Bolivianerinnen und Ecuadorianerinnen in Bonn andine Tanztraditionen pflegen

Anfang 2018 kam Areola Fuentes (21) aus Lorca (Murcia, Spanien) nach Bonn zu ihrer Familie. Bolivien hatte sie bereits im Alter von fünf Jahren verlassen. Aus ihrer Heimat, die sie so lange nicht gesehen hat, brachte sie eine große Leidenschaft mit: den Salay. Sie weiß, dass jeder Tanz seinen Charme hat, aber als sie ihn entdeckte, „hat dieser Tanz mir praktisch das Herz gestohlen. Die Bewegungen des Kopfes und des Rockes sind für mich sind so anmutig, dass ich mich verliebt habe!“

Carolina Garay Doig

Der Salay ist ein bolivianischer Tanz, der erstmals vor über 30 Jahren in Erscheinung trat und heute auf der ganzen Welt getanzt wird. Obwohl dieser Tanz über keine lange Tradition verfügt, wurde er im Jahr 2018 von den Behörden der Region Cochabamba zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Cochabamba gilt gemeinsam mit den Regionen Potosí und Chuquisaca als Wiege des Salay. Die Bewegungen dieses Tanzes stellen den Flirt zwischen Männern und Frauen dar. Die Stärke und Geschicklichkeit des Flirts wird durch die Geschwindigkeit der Schrittfolge ausgedrückt, den instrumentellen Part übernehmen Charangos. Die Lieder des Salay erzählen von Liebesfreud und -leid. Wie viele andere Tänze in Lateinamerika nimmt der Salay eine zentrale Rolle bei religiösen Festivitäten ein, er wird insbesondere während des Festes zu Ehren der Jungfrau von Urkupiña getanzt, das jährlich am 15. August in Quillacollo, Cochabamba, gefeiert wird. Die Tänzer*innen nähern sich der Jungfrau, um sich von ihr unterschiedliche Gefallen zu erbitten, aber auch um ihr zu danken. Durch den Tanz verleihen sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck.

Als Areola in Bonn ankam, nahm sie sich vor, weiterhin Salay zu tanzen. Die erste Person, die sie schon vorher mit ihrer Begeisterung angesteckt hatte, war ihre Mutter María Elena Guzmán (40). Dieser fiel es allerdings zunächst aufgrund anderer traditionellerer Tänze schwer, sich auf den Salay einzulassen. Zur Freude ihrer Tochter erlag sie schließlich ebenfalls seinem Charme. Auf ihrer letzten Reise nach Bolivien im Jahr 2017 und in dem Wissen, dass ihre Tochter bald nach Deutschland kommen würde, kontaktierte sie daher die Tanzgemeinschaft „Fraternidad Salay Bolivia” mit Sitz in Cochabamba, um eine offizielle Genehmigung zur Gründung der deutschen Tochtergemeinschaft zu erhalten. Teil der Gemeinschaft zu sein bedeutet nicht nur, genau die gleichen Kostüme zu tragen, die gleichen Schritte zu tanzen und die gleichen Lieder zu verwenden, sondern auch, sich mit Partner*innen in anderen Teilen der Welt zu verbinden, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Aufführungen zu haben. So wird jedem Mitglied der Gemeinschaft die Möglichkeit geboten, in verschiedene Städte zu reisen. Areola schwärmt: „Wir sind wie eine Armee von Tänzer*innen.“ Es spiele keine Rolle, in welcher Stadt oder wohin man unterwegs sei, denn alle würden dasselbe tanzen. Die Gemeinschaft gibt ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit, da sie sich in jeder ihrer Zweigstellen willkommen fühlen. Weltweit gibt es bereits 59 Tochtergesellschaften, allein 20 in Europa.

Allerdings sei es auch schwierig, „hier eine Gemeinschaft um etwas zu bilden, von dem man bisher in Deutschland nicht viel gehört hat“, meint Areola. Darum schloss sie sich zunächst einer anderen bolivianischen Tanzgruppe an, die sich „Bolivia Unida“ nennt. Ivonne Checa (35) ist eine der Tänzer*innen und Schlüsselperson dieser Gruppe. Die Ecuadorianerin kam vor 15 Jahren nach Deutschland. Heute erinnert sie sich: „Als ich in diesem Land ankam, sagte ich mir: Das kann doch nicht wahr sein! Wie schrecklich, sie tanzen nicht!“ Aber bald wurde sie von ein paar lateinamerikanischen Freund*innen von der Gruppe „Chasqui“ eingeladen, Tinku zu tanzen. Der Tinku ist ebenfalls ein bolivianischer Tanz, der weltweit für die Schönheit seiner Kostüme, die Kraft seiner Bewegungen, die ansteckende Freude an seiner Musik und für die beeindruckende Darstellung seiner Tänzer*innen während des Karnevals von Oruro bekannt ist. Im Gegensatz zum Salay, der das Flirten oder Verlieben darstellt, stellt der Tinku einen Kampf zwischen zwei Körpern dar. Diese Art des Tanzens geht auf ein präinkaisches Ritual zurück.

Ivonne berichtet, dass sie schon bald nach ihrer Ankunft Tanzen lernte: „Aus diesem Grund trage ich den Tinku in meinem Herzen!“ Gemeinsam mit ein paar Freund*innen gründete sie vor etwa zehn Jahren die Gruppe „Bolivia Unida“. Heute tanzen sie nicht nur Tinku, sondern auch Morenada, Diablada, Caporales und Carnavalitos. In diesen zehn Jahren erging es Ivonne ähnlich wie vielen Migrant*innen aus dem Andenraum in Deutschland. Sie entdeckte die Schönheit und den Wert einiger Traditionen ihres Landes und Lateinamerikas für sich. Früher hatte sie keinen der traditionellen Tänze getanzt und niemals eine der typischen ecuadorianischen Trachten getragen: „Was du nicht hast, vermisst du. Nun suchst du nach deinen Wurzeln, nach deiner Identität.“ Den Bonner Karneval im Jahr 2003 nahm sie zum Anlass, sich erstmals in ein typisches, traditionelles ecuadorianisches Kleid zu hüllen. Ohne Zweifel verkörperte Ivonne den Anmut dieser Traditionen, weswegen sie bei einer weiteren Gelegenheit zur Karnevalsprinzessin gewählt wurde. Seit 2008 nimmt sie am Bonner Karneval mit ihren Freund*innen von „Bolivia Unida“ teil. Dafür haben sie ihre eigenen Choreografien entwickelt. Auch an anderen kulturellen Veranstaltungen, wie dem „Karneval der Kulturen“ in Berlin, haben sie mitgewirkt.

Bis vor Kurzem kannte Ivonne den Salay nur vom Hörensagen. Jetzt sieht sie in Areola ein wenig sich selbst vor zehn Jahren: „Sie ist wie ich: mit ganzem Herzen und jeder Menge Elan dabei!“ Mitgerissen von ihrer Begeisterung schloss sie sich dem Projekt an. Schließlich ist es auch eine Möglichkeit, „um Kontakt zwischen den Latin*as zu halten und weiterhin zu tanzen“. Vor Kurzem hat Ivonne die Gruppe „Bolivia Unida“ verlassen. Ivonne bringt jede Menge Erfahrung in die neue Gruppe mit. Areola wiederum übernimmt häufig die Rolle der Tanzlehrerin. Einiges an Lehrmaterial, diskret und vertraulich von der Muttergemeinschaft in Bolivien zur Verfügung gestellt, will durchgearbeitet werden: „Salay ist kein einfacher Tanz, er setzt viel Übung voraus. Haben wir einmal ein bestimmtes Niveau unter Beweis gestellt, können wir mit unseren Aufführungen den Salay bekannter machen.“ Einige Aufführungen von „Salay Bolivia“ konnten bereits in Bonn, Köln und Dortmund bewundert werden.

Eine Hürde für das Erreichen und Erhalten dieses Niveaus ist die starke Mitgliederfluktuation. „Viele sind Studierende, die ständig kommen und gehen.“ Außerdem sei es schwierig, Leute zu überzeugen, die keine Latin*as sind. Das liegt auch daran, dass Areola und ihre Mutter bisher nicht gut Deutsch sprechen. Eine Tanzgruppe braucht außerdem finanzielle Mittel, um die Aufführungen stemmen zu können, insbesondere die Ausgaben für die Kleidung schlagen zu Buche. Die Trachten werden jedes Jahr pünktlich zum Fest der Jungfrau von Urkupiña nach den Maßen jedes Mitglieds in Bolivien angefertigt.

Im Moment konzentriert sich die Gruppe darauf, den Salay bekannter zu machen. Jede lateinamerikanische Begegnung oder Feier bedeutet, die Musik erklingen zu lassen und im Vorfeld die sozialen Netzwerke und persönlichen Beziehungen zu nutzen, stets in der Hoffnung, mehr aktive Tänzer*innen für das Projekt gewinnen zu können. Ihr Traum: beim Karneval in Bonn mitzulaufen. Dafür müssen sie sich allerdings noch ein wenig anstrengen. Glücklicherweise können sie auf die Unterstützung der katholischen Kirchengemeinde Sankt Wilfried zählen, die ihnen einen Übungsraum für die wöchentlichen Proben zur Verfügung stellt. Auch für Deutsche, die einmal in Lateinamerika gewesen seien, biete die Teilnahme an einem solchen Projekt die Möglichkeit, mit den besuchten Ländern in Kontakt zu bleiben. Interessierte sind natürlich stets willkommen.

Aber warum ist dieser Tanz so faszinierend? Areola beschreibt es so: „Tanzen ist wie eine Freude, die Trauer überstrahlen kann. Wenn ich zum Beispiel niedergeschlagen bin oder viele Probleme auftauchen und ich alleine in meinem Zimmer zu tanzen anfange, ist es so, als würde sich alles klären. Oder ich stelle mir vor, dass ich auf der Bühne tanze, und allein damit bin ich dann sehr glücklich!“ María Elena ihrerseits empfindet Tanz als eine Möglichkeit, die Kultur ihres Heimatlandes Bolivien auszudrücken und zu verhindern, dass sie sich verirrt: „Überall, wo wir Bolivianer sind, tanzen wir auch. Wir tanzen von Kindesbeinen an.“ Diesem Motto entsprechend hat María Elena ihre Tochter Keyte (6) zum Salay gebracht. Sie ist die Kleinste der Salaquitas, wie die Salaytänzerinnen genannt werden.

Nach mehr als einem Jahrzehnt hat das Tanzen für Ivonne an Bedeutung hinzugewonnen. „Tanz ist für mich ein Raum der Befreiung. Dabei bist du ganz bei dir selbst. Du vergisst dich, du lässt dich treiben, es hilft dir. Selbst die Corta Venas1, wie man sie in meinem Land nennt, helfen dir. Das Lied befreit dich wie der Ring, der vom Finger rutscht“, sagt Ivonne lächelnd. Der Tanz lässt sie auch Heimweh überwinden. „Du bist so in deinem Alltag versunken, hörst um dich herum nur Deutsch, und brauchst doch dein Stückchen Heimat. Für mich bedeutet es wirklich, ein bisschen Heimat zu schaffen, obwohl eigentlich Ecuador mein Heimatland ist. Aber allein meine Sprache zu sprechen, meine Witze zu machen, mich mit den Leuten auszutauschen, wie es nur unter Latinos möglich ist, trägt dazu bei.“ Auch sie möchte ihrem Sohn Damián diese Kultur näherbringen. Er kommt immerhin zu den Proben mit. Sie glaubt fest daran, dass der Tanz Menschen über ihre Unterschiedlichkeiten hinaus miteinander verbindet: „Wenn du in einer Parade mitläufst und alle dieselbe Tracht tragen, ob aus Cochabamba oder Oruro, ob aus den besten Stoffen, ob nach Maß oder von der Stange, diese Details sind nicht wichtig, ist das ein  irgendwie beruhigendes, wohliges Gefühl.“

Mehr als bloß die individuelle Motivation für das Tanzen begreifen zu wollen, zählen die Erfahrungen und kleinen Anekdoten, von denen die Salaquitas berichten. Sie schätzen diesen Tanz, weil er mehr ist als eine körperliche Praxis, bei der man sich zum Rhythmus bewegt, gekleidet in eine schöne Tracht und begleitet von der typischen Musik. Tanzen bedeutet vor allem: die Gruppe zu spüren und sich mit ihr zu verbinden. Der Salay ist nicht zu entwurzeln, ihn zu tanzen macht Sinn, sowohl in Deutschland als auch in Bolivien.

  • 1. wörtlich: Venenschneider, Lieder zum Entlieben

Übersetzung: Simon Hirzel