ila

Dein Penis ist entbehrlich

Ein Gespräch mit Chocolate Remix, Pionierin des lesbischen Reggaetón aus Buenos Aires

Degenerar el género prangt es in dicken Lettern auf der Website von Chocolate Remix. Mal wieder so eine doppeldeutige Spitzfindigkeit, die nur erklärend aus dem Spanischen übersetzt werden kann. Schließlich bedeutet género sowohl Gender als auch Genre, in diesem Fall das musikalische Genre des Reggaetón, das es zu „degenieren“ gilt, neben dem Geschlechterverhältnis natürlich. Leuchtet ein. Das Ergebnis ist ein extrem tanzbarer, partytauglicher, zugleich hochpolitischer Sound. Das macht sehr viel Spaß und weckt Neugier: Wer kommt auf die kecke Idee, die Essenz des klassischen Reggaetón – nämlich plattesten Sexismus – mir nichts dir nichts zu pulverisieren und das Genre mit anders verteilten Rollen neu zu erfinden?

Britt Weyde

Chocolate Remix tritt zum ersten Mal im Mai 2013 öffentlich in Erscheinung, mit der Internetveröffentlichung des ersten Stücks Nos hagamos cargo („Wir kümmern uns drum“), eine explizite sexuelle Anmache in knapp drei Minuten, mit den für Reggaetón typischen Einwürfen wie duro! oder sabroso! Allerdings lädt hier eine Torta zum Sex ein, also eine Lesbe. Auch Romina Bernardo ist Torta. Kann sie uns erklären, woher diese Begrifflichkeit stammt? „Der Ursprung dieses Begriffs ist umstritten. In den 80er-/90er-Jahren wurden wir als Tortilleras bezeichnet; eine Erklärung dafür besteht darin, dass die Tortilla von beiden Seiten gebraten wird. Im Laufe der Zeit wurde daraus das kürzere Torta.“

Wussten wir doch: Sex und Essen gehören irgendwie zusammen. Da verwundert es auch nicht, dass sich die 31-jährige Romina Bernardo einen leckeren Künstlerinnennamen zugelegt hat, obwohl: „Den Spitznamen Chocolate hatte ich schon, bevor Chocolate Remix entstand. Das war ein Insiderwitz aus meiner Unizeit“, erzählt Romina. „Der größte Typ im Seminar mit seiner dröhnenden Stimme nannte mich – die neben ihm verschwindend klein war, immer Choco. Irgendwann kannten mich sogar die Dozenten und der Rektor nur noch unter diesem Namen. Daher dann auch Chocolate Remix für das Musikprojekt.“ Ursprünglich stammt Choco aus Tucumán, einer Provinz im Nordwesten Argentiniens; vor 13 Jahren zog sie nach Buenos Aires. Seit Kindheitstagen spielt sie Gitarre, Vater und Bruder machten es ihr vor. Des Weiteren spielt sie Bass „und noch ein paar andere Instrumente, aber nicht so gut. Das Komponieren mache ich meist digital. Dass ich professionell Musik mache, hat jetzt erst mit diesem Projekt begonnen. Musikalisch gesehen bin ich Chocolate Remix, das sind meine Lieder, ich singe und komponiere sie. Aber natürlich machen noch mehr Leute mit, bei Liveshows zum Beispiel die Tänzerinnen, die auch einen wichtigen Teil des Diskurses von Chocolate Remix repräsentieren. An der letzten Show waren etwa 15 Personen beteiligt. Ein Film wird ja auch nicht nur vom Regisseur gemacht.“ Romina ist also die künstlerische Leiterin oder vielleicht besser Herz, Kopf und Gesicht des Projekts. Und Körper natürlich.

Chocolate Remix wagt die Quadratur des Kreises. Sie krempelt ein Genre um, das zutiefst von sexistischen und heteronormativen Rollenvorstellungen geprägt ist: „Ich nenne die Musik lesbischen Reggaetón, weil ich mich als Lesbe identifiziere. Ich stimme auch mit vielen Elementen der queeren Theorie überein, aber bei mir sind es einfach lesbische Erzählungen. Lesbische Sexualität ist normalerweise sehr wenig sichtbar. Die Lesbe ist zwar schon immer eine feste Größe in sexuellen Vorstellungswelten gewesen, Pornos sind zum Beispiel voll mit Lesben, doch die Sichtweise ist sehr heterosexuell. Deshalb war es mir wichtig, aus einer lesbischen Perspektive zu berichten.“ Chocolate Remix thematisiert lesbische Lust, zeigt aktive Frauen, die Spaß an Sex und Sinnlichkeit haben. „Der Diskurs über die weibliche Lust ist noch recht neu, etwa das Konzept vom weiblichen Orgasmus. Seitdem die weibliche Lust Thema ist, sind aber auch immer und überall die männlichen Meinungen dazu stets viel lauter und präsenter.“

Warum dann ausgerechnet Reggaetón? „Reggaetón ist ein musikalisches Genre, in dem es schon immer viel um Sex ging, allerdings aus explizit männlicher, heterosexueller Perspektive. Das Genre zeigt sexuelle Lust, aber auch den höchst widersprüchlichen Umgang damit. Zum einen hast du die Mainstreammedien, wo der Körper der Frau als hypersexualisiertes Objekt dargestellt wird. Wenn du aber ein anständiges Mädchen sein willst, darfst du nicht zu sexy daherkommen oder über Sex reden, zumindest nicht auf die Art und Weise, wie es die Jungs machen. Reggaetón kann in der Hinsicht unsere Körper befreien, sodass jede von uns uneingeschränkt ihre Sexualität und ihre Sinnlichkeit ausleben kann. Das ist total empowernd. Wenn jetzt eine Frau davon singt, und dann auch noch eine Lesbe, ändert das komplett das Bild.“

Reggaetón ist nicht nur in Lateinamerika zum quasi hegemonialen Genre auf Tanzparties geworden. Der stampfende Rhythmus, die Bässe, die eingängigen Melodien und die meist recht platten, dafür umso anzüglicheren Texte heizen einfach jede Party an, auch in alternativen Kreisen. „Obwohl in Argentinien seit den 40er-/50er-Jahren die Cumbia unsere Partymusik war, hat auch hier der Reggaetón in den letzten Jahren viel Raum eingenommen, selbst auf alternativen Parties. Chocolate Remix ist eines der ersten Projekte, das sich des Reggaetón annimmt, um ihn mit anderen Inhalten zu füllen. Immer mehr Leute begeistern sich dafür und ziehen ähnliches auf. Der Rhythmus ist einfach super mitreißend, total tanzbar, also einfach ideal für eine Party! Selbst auf feministischen Events ist heute Reggaetón zu hören.“

Letztlich ist es eine Art kulturelle Aneignung, die Chocolate Remix betreibt. „Da dieses Genre schon immer von gewissen Künstlern beherrscht war, also überwiegend von Männern mit einer bestimmten Denkweise, hatte diese Musik bereits eine Form. Allein die Tatsache, dass ich nun als lesbische Frau diese Songs singe, ändert schon alles. Natürlich spiele ich damit!“ Das sieht man etwa im Musikvideo von Lo que las mujeres quieren („Was die Frauen mögen“). Romina spielt dabei den coolen Typen im Ghetto, der weiß, was läuft; sexy Ladies tanzen dazu lasziv vor Hochhauskulisse. „Ich nutze diesen humorvollen Ansatz aber auch, um gewisse Wahrheiten auszusprechen, Alternativen aufzuzeigen, auf Konflikte hinzuweisen. Ich nehme das alles sehr ernst, habe aber einen Riesenspaß dabei. Ironie und Spott sind wichtig, allerdings mit Respekt.“

Doch selbst respektvoller Spott kann hässliche Reaktionen hervorrufen. Wir wollten von Romina wissen, ob sie Anfeindungen aus der Welt der Supermachos und anderen Zurückgebliebenen ausgesetzt ist. „Die Idee dahinter ist es ja, solche Leute zu provozieren. Natürlich gibt es einen Sektor in der Gesellschaft, der sich von meinen Songs angegriffen fühlt. Wenn ich zum Beispiel davon singe, dass Penisse total entbehrlich sind, stell dir mal vor, was das für einige Typen bedeutet! Einige nehmen sich das sehr zu Herzen. Gepaart mit eigener Unsicherheit entstehen daraus gewaltsame Reaktionen. Vielen anderen wiederum ist das egal. Es ist ein Spiel. Ich versuche dort zu piksen, wo es weh tut, aber mit Humor. Es ist fast so, wie wenn du zu deinem kleinen Bruder sagst, dass Mami dich mehr lieb hat als ihn! Der kleine Bruder wird älter und irgendwann ist ihm das egal.“

Wie sieht es aus mit Shitstorms im Netz? „Einige Leute trauen sich am Computer sehr viel, aber wenn du dieser Person direkt gegenüberstehst, vermeiden sie die Konfrontation. Wenn ich ein Video einstelle, füllt sich die Kommentarspalte mit superbrutalen, total durchgeknallten Beiträgen, aber auf der Straße würden sie sich nie trauen, so etwas zu mir zu sagen. Ich nehme das nicht so ernst. Bis jetzt hatte ich noch keine Probleme, im Gegenteil, wenn ich an Orten aufgetreten bin, die nicht explizit feministisch oder queer sind, hatte ich zuvor meine Zweifel, bekam dann aber bei den Live-shows sehr positives Feedback. Das wirft einen dann auf die eigenen Vorurteile gegenüber den Leuten zurück. Zum Beispiel auf einem Straßenfest in einem Stadtteil von Madrid letztes Jahr, voll mit Familien, Pärchen, älteren Leuten, oder bei einem Konzert in einem kleinen baskischen Dorf, viele ältere Leute, um sechs Uhr nachmittags. Ihnen hat mein Konzert super Spaß gemacht. Bei Konzerten kannst du besser deine Inhalte rüberbringen. Da steht jemand auf der Bühne und sagt: ‚Ich bin Lesbe und ich singe jetzt über das und das aus ganz bestimmten Gründen.‘ Das Publikum kann sich dann viel besser in dich hineinversetzen.“

Eines von Chocolate Remix' Stücken auf ihrem gerade erschienenen ersten Album Sátira heißt Ni una menos („Nicht eine weniger“), bezieht sich also auf die lateinamerikaweite Kampagne gegen Frauenmorde. In Argentinien gab es vor zwei Jahren die erste große Demonstration unter diesem Motto. „Nach einer Reihe von Frauenmorden sagten die organisierten Frauen: ‚Es reicht‘ und eine Riesendemo prangerte das Problem an. Das war ein sehr bewegender Moment. Vor diesem Hintergrund komponierte ich das Stück und nahm ein Video dazu auf, lediglich mein Gesang und Percussion. Das geschah aus dem Bauch heraus und steht für meinen Protest.“ In dem Song, der auf dem Album in einer aufwändiger produzierten Reggaetónversion zu hören ist, heißt es: „Ihre Klamotten sind nicht das Problem. Selbst wenn sie von zu Hause weggelaufen ist. Selbst wenn sie sich einen Minirock angezogen und sich geschminkt hat. Wenn sie Reggaetón tanzt. Wenn sie dich wegen eines anderen verlassen hat. Wenn sie spät nach Hause gekommen ist. Nicht eine weniger. Frau, komm, wackel mit dem Arsch in deinem Minirock, zieh dir noch einen Tanga drunter, wenn du willst. Mach verdammt noch mal was du willst mit deinem Körper!“ Dank der Ni una menos-Bewegung gibt es mittlerweile ein größeres Bewusstsein in Argentinien für machistische Gewalt und Morde. Aber: „Leider wird machistische Gewalt in unserer Gesellschaft als normal angesehen“, beklagt Romina. „Mit diesem Stück wollte ich diese Gewalt anprangern und sie sichtbar machen. In konservativen Kreisen wird das Opfer oft für schuldig erklärt. Sie hat es nicht anders gewollt, weil sie bis spät feiern war. Mich persönlich hat zum Beispiel der Feminizid an Melina sehr aufgewühlt. Nachdem sie tot aufgefunden worden war, hetzten die Medien über sie. Sie sei ja bis tief in die Nacht ausgegangen, habe Reggaetón getanzt und aufreizende Klamotten getragen, um damit zu rechtfertigen, dass sie es nicht anders verdient habe.“

Unter den Kirchner-Regierungen hatte es für LGBTI in Argentinien einige Fortschritte gegeben, die Homoehe im Jahr 2010 oder das Gesetz zur Geschlechtsidentität, das für Transpersonen wichtig ist, doch nun ist mit Macri ein konservativer Backlash zu befürchten. Wie empfindet Romina die neuen Zeiten? „Das sind erkämpfte Rechte, die uns hoffentlich nicht so schnell wieder genommen werden“, meint sie. „Dass wir es aber mit einer rechten, konservativen Regierung zu tun haben, merkt man daran, dass bestimmte Programme, etwa zu sexueller Diversität oder auch zur Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt, gestrichen werden. Oder dass Transpersonen wieder verstärkt der Repression von Seiten bestimmter Polizeikräfte ausgesetzt sind, ein Problem, das Transpersonen schon immer hatten, aber zwischenzeitlich abgemildert war. Jetzt bekommen wir wieder um 3 Uhr morgens eine Nachricht, dass mehrere Transcompañeras festgenommen worden sind, und wir ziehen zur Polizeiwache, um Druck zu machen, damit sie wieder freigelassen werden.“

Zum Schluss wollten wir wissen, mit wem Chocolate Remix gerne mal gemeinsam auf der Bühne performen würde? „Ich fänd‘ es super, wenn meine Message so weit wie möglich verbreitet würde. Ein Mainstreampublikum würde ich auch gerne erobern, etwa als Opening Act von Daddy Yankee, sodass sein Publikum in den Genuss käme, lesbischen Reggaetón zu hören!“ Ein Angebot, als Vorband von La Mala Rodríguez zu spielen, würde Choco auch nicht ablehnen, von der spanischen Rapperin ist sie ein großer Fan. „Es wäre wirklich ein Erfolg für die Vielfalt und den Feminismus, wenn die Massen andere Musik mit anderen Inhalten konsumieren würden. Ich finde es unglaublich bereichernd, dass ich andere Optionen aufzeigen kann. Sexuelle Diversität sichtbar zu machen eröffnet für eine Menge Leute ein anderes Panorama. Du kommst zur Welt und bist als heterosexuell gesetzt, bis du merkst, dass es anders ist. Und wie geil ist es dann, wenn du siehst, dass es andere mögliche und auch angenehme Optionen gibt. Damit demontierst du ein ganzes System, nämlich das Patriarchat und die auferlegte Heterosexualität samt ihrer hierarchischen Rollen, die uns alle unterdrücken. Die Leute sollen sehen, dass man anders leben kann!“

Im Juni 2017 kommt Chocolate Remix zum zweiten Mal auf Tour nach Europa, in Deutschland kann sie live am 10. Juni 2017 in der Hamburger Roten Flora erlebt werden. Gozalo!

Mit Chocolate Remix sprach Britt Weyde per Skype am 21. April 2017.