ila

Als Personen verschieden, doch gleich vor dem Gesetz

Bolivien: Interview mit Martín Vidaurre von der Nichtregierungsorganisation CDC

Der bolivianische Präsident und die regierungstragenden Gewerkschaften und Bauernorganisa-tionen haben nicht den Ruf, in Geschlechterfragen besonders aufgeschlossen zu sein. Trotzdem hat Bolivien in den letzten Jahren eine sehr fortschrittliche Gesetzgebung bekommen. Die Alltagswirklichkeit hinkt dem jedoch ein gutes Stück hinterher. Darüber sprach Peter Strack mit Martin Vidaurre, Aktivist, Rechtsanwalt und Koordinator von „Gleich vor dem Gesetz“. Dieses Programm für LGBTI-Rechte wird von der Nichtregierungsorganisation Capacitación y Derechos Ciudadanos (CDC) seit dem Jahr 2004 umgesetzt.

Peter Strack

Worum geht es im Projekt Iguales ante la ley – „Gleich vor dem Gesetz“?

Neben der politischen und Lobbyarbeit bietet das CDC kostenlose Beratung für LGBTI an, etwa wenn sie verbal diskriminiert werden oder ihre Rechte in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie am Arbeitsplatz verletzt werden. In La Paz waren es im vergangenen Jahr 200 bis 300 Prozesse, in Oruro und Cochabamba jeweils die Hälfte. Wir machen aber auch online Rechtsberatung. Es kommt immer wieder vor, dass LGBTI belästigt werden, sobald ihre sexuelle Orientierung bekannt wird. Anspielungen bei Sitzungen, Zettel mit Beschimpfungen auf dem Schreibtisch oder man legt ihnen gar die Kündigung nahe. In den Schulen gibt es viel Homophobie, was häufig dazu führt, dass die Betroffenen die Schule verlassen. Suizidfälle wie in anderen Ländern sind in Bolivien zumindest nicht bekannt. Bevor das neue Schulgesetz und das Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet wurden, gab es auch Fälle, in denen homosexuelle Schüler vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Wenn so etwas heute vorkommt, erstatten wir Anzeige, damit die Verantwortlichen suspendiert werden und dies nicht mehr geschieht.

Wie häufig sind solche Vorfälle?

Dazu gibt es keine Studien. Aber in den ganzen Jahren haben wir mehr als 30 solcher Fälle begleitet. Es kommt leider immer wieder vor, auch weil sich andere Eltern organisieren und den Ausschluss fordern. Bei transsexuellen oder transgender-Schüler*innen werden wir ebenfalls aktiv. Wenn ich zum Beispiel im Körper einer Frau als Martina geboren bin, mich aber als Martin identifiziere, dann will ich auch Martin genannt werden. Doch in den Unterlagen und Zeugnissen steht Martina. Die Lehrer rufen eine Martina auf, obwohl die Person wie ein Martin aussieht. Das provoziert Gelächter. Um Mobbing zu vermeiden, reden wir in solchen Fällen mit der Schulleitung, damit sie diese Personen mit dem von ihnen gewählten oder zumindest nur dem Nachnamen anreden.

Und das trotz des neuen Genderidentitätsgesetzes vom Mai 2016, das den Namenswechsel erlaubt?

Leider nur ab dem Alter von 18 Jahren. Seit dem Jahr 2009 haben wir den Gesetzgebungsprozess aktiv begleitet, juristisch beraten, die internationale Gesetzeslage und Beispiele eingebracht, die LGBTI-Bewegung mit einbezogen und ihre Sichtweisen dargestellt. Und wir haben ganz eng mit dem Justizministerium zusammengearbeitet. Das war allerdings höchst kompliziert. Ansprechpersonen und Minister wurden immer wieder ausgewechselt. Manche haben uns mehr, andere weniger unterstützt. Es gab viele Veränderungen.

Letztendlich ist das Parlament für die Gesetzgebung zuständig und die dort massiv vertretenen sozialen Bewegungen gelten in solchen Fragen als nicht besonders progressiv.

Geholfen hat uns, dass die neue Verfassung die fünfte in der Welt ist, die Diskriminierung von LGBTI explizit untersagt. Auch das Antidiskriminierungsgesetz von 2010 stärkt die Rechte der LGBTI. Zunächst haben wir mit dem Justizministerium gearbeitet, wo es Mitarbeiter gibt, die die Problemlagen verstehen und sich gut im Thema auskennen. Sie haben uns dort verteidigt, wo wir keinen Zugang haben, wie in der UDAPE, der Abteilung zur Analyse der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Und im November 2015 hat der Präsident dann den Gesetzesentwurf bewilligt und an das Parlament überwiesen. Das ist nicht das übliche Vorgehen und dauert auch länger. Aber die Unterschrift des Präsidenten unter dem Entwurf hat später im Parlament sehr geholfen.

Wie stark ist die LGBTI-Bewegung in Bolivien?

Es gibt mehr als 60 organisierte Gruppen und fünf Zusammenschlüsse auf nationaler Ebene. Zwei sind in der Coalibol vereint, darunter die Koalition LGBT, die wichtigste von beiden. Es gibt zwei Trans-Dachverbände sowie einen Dachverband der Lesbenorganisationen. Und alle fünf bilden zusammen die Bewegung sexueller und Gendervielfalt. UN-Studien schätzen, dass überall auf der Welt etwa zehn Prozent der Bevölkerung LGBTI sind. Aber in der Bewegung aktiv sind in Bolivien vielleicht 1500, die meisten in den Metropolen Santa Cruz sowie La Paz/El Alto.

Und wie sieht es auf dem Land aus?

Da gibt es noch ein starkes Tabu. Es gibt ländliche Regionen, wo das Thema positiv besetzt ist, wo die Präsenz von Homosexuellen aufgrund der dortigen indigenen Weltsicht als Segen gesehen wird. Aber in anderen Regionen werden LGBTI abgelehnt und diskriminiert.

Politisch haben die LGBTI-Bewegungen eine Menge erreicht.

Das Gesetz 807 ist wohl das wichtigste Gesetz für die LGBTI. Tatsächlich ist es auch das Gesetz, das spezifisch auf diese Gruppe zugeschnitten ist. Aber es gibt insgesamt zwölf Normen, in denen Diskriminierung aufgrund der sexuellen oder Genderorientierung untersagt ist. Neben dem Antidiskriminierungsgesetz 045 und dem Schulgesetz, in das wir auch einen entsprechenden Paragraphen einfügen konnten, verbietet auch das Kinder- und Jugendgesetz Mobbing oder den Ausschluss von LGBTI-Kindern aus der Schule. Das neue Familienrecht sieht zwar keine Ehe vor, lässt aber doch erstmals die „diversen Familien“ zu. Es gibt darüber hinaus 14 kommunale Gesetze für LGBTI-Bevölkerung sowie sechs Regierungsdekrete, darunter das Dekret, das den 17. Mai als „Bolivianischen Tag gegen Homophobie und Transphobie“ und den 28. Juni zum Tag des „Stolzes auf die sexuelle und Genderdiversität“ erklärt. International hat Bolivien als einziger Staat alle Regelungen zugunsten der LGBTI-Bevölkerung unterschrieben, darunter acht Resolutionen der Organisation Amerikanischer Staaten, sowie vier Normen der Vereinten Nationen.

„Ich brauche weder Gesetze noch rhetorisches Recht. Wenn ich Misshandlung erleide, ist es die Wut und Rebellion, die mich rettet“, hat die lesbische Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin María Galindo im Juni 2014 in einem Kommentar in der Tageszeitung „Página Siete“ geschrieben.

Wenn es das Gesetz zur Genderidentität nicht gäbe, könnte heute ein Transsexueller keine Arbeit finden, ohne diskriminiert zu werden. So wenn man mir einen Arbeitsvertrag als Martina gibt, weil ich im Körper einer Frau geboren wurde, obwohl meine Identität die von Martin ist. Es gibt Hunderte von Fällen, wo man diese Menschen als Betrüger verhaften wollte, als sie zur Bank gingen und der Name auf dem Ausweis nicht dem Erscheinungsbild entsprach. Wenn es diese Gesetze nicht gäbe, könnte auch niemand wegen Diskriminierung Anzeige erstatten.

Eine Sache sind Gesetze, eine andere, wie Richter sie anwenden.

Die Justiz befindet sich insgesamt in einer großen Krise. Und die verschärft sich, wenn es um die Vielfalt sexueller Orientierungen geht. Viele verstehen die Problematik nicht, wissen nicht, was Homophobie bedeutet. Wenn eine Person verbal diskriminiert wird, ist das für sie ohne große Bedeutung. Ich sage nicht, dass die Richter oder auch Polizisten selbst homophob seien, aber sie kennen sich mit der Problematik nicht aus. Da haben wir noch ein hartes Stück Arbeit vor uns. Aber im letzten Jahr haben wir mit Sensibilisierungsmaßnahmen immerhin 400 Polizisten erreicht.

Auch politisch gibt es Gegenwind.

Tatsächlich gibt es fundamentalistische, extrem konservative Gruppen in Bolivien, in erster Linie die Oppositionsparteien. Für mich sind sie nicht „rechts“, sondern schlicht „gegen das Recht“ eingestellt. Vor allem die christdemokratische Partei hat sich gegen gesetzliche Verbesserungen gestellt und jetzt auch Verfassungsbeschwerde gegen einige Paragraphen des Genderidentitätsgesetzes 807 eingebracht. Als Bewegung haben wir beschlossen, nie die Konfrontation mit diesen fundamentalistischen Gruppen zu suchen. Als das Gesetz 807 vergangenes Jahr in Kraft trat, hat die „Plattform für die natürliche Familie“ (mit Sitz in Santa Cruz) eine Demonstration organisiert. Sie haben alle Schüler*innen der evangelischen und katholischen Schulen verpflichtet mitzumarschieren, ohne dass sie überhaupt wussten, wofür sie auf die Straße gehen. Wir haben uns darauf geeinigt, keine Gegendemonstration zu machen, sondern eine Twitter-Aktion. Wir suchen nicht die Konfrontation. Wenn sie allein ihre religiösen Überzeugungen zum Ausdruck bringen wollen, respektieren wir das. Nur wenn sie auch über Rechte reden wollen, sind wir zum Dialog bereit.

Und die katholische Kirche?

Die Amtskirche war immer gegen die Gesetzesentwürfe, hat deutliche Stellungnahmen abgegeben, war aber nie so aggressiv wie die evangelikalen Sekten. Nie haben sie zu Demonstrationen aufgerufen oder Hass geschürt.

Mitte Mai findet in La Paz eine internationale Tagung zum Thema statt. Was soll erreicht werden?

Es ist ein Treffen von mehr als 180 Menschenrechtsaktivist*innen LGBTI aus Bolivien, Peru und Ecuador gegen die Diskriminierung von Menschen mit sexuell unterschiedlicher Orientierung, finanziert aus Mitteln der EU. Wir wollen wissen, wie die konkrete Situation in den drei Ländern ist, und auf dieser Grundlage Empfehlungen an unsere Regierungen formulieren, wie Verletzungen der Rechte von LGBTI verhindert werden können.

Was ist in Bolivien in dieser Richtung noch offen?

In Bolivien nimmt leider die Zahl der Hassverbrechen gegen LGBTI zu. Im letzten Jahrzehnt hat es um die 80 dokumentierte Fälle gegeben. Die Dunkelziffer mag höher liegen, da es anders als bei Frauenmorden keine systematische Erfassung gibt. Ein weiterer offener Punkt ist das Recht, juristisch eine Familie zu gründen. Das ist im neuen Familiengesetz nur unzureichend geregelt und unter anderem bei Erbfragen wichtig, bei der Krankenversicherung oder bei Genehmigungen für Not-OPs.

Gibt es noch etwas, was du dem Publikum der ila in Deutschland mitteilen willst?

Sie sollen wissen, dass Bolivien ein Land ist, das gerade von der Zivilgesellschaft aus Homophobie und Transphobie zu überwinden sucht. All das, worüber ich berichtet habe, ist keine Errungenschaft der Regierung. Ohne das Engagement der Menschenrechtsverteidiger*innen und der Aktivist*innen wäre es nicht zustande gekommen. Manche haben dafür sogar mit dem Leben bezahlt. Ohne sie wäre Bolivien kein Land, in dem es vorangeht. Was uns in Deutschland interessiert und hier in Bolivien noch nicht ausreichend berücksichtigt wird, ist der Schutz der intersexuellen Personen. Da wollen wir von Deutschland lernen.

Das Interview führte Peter Strack im Mai 2017 in Bolivien.