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Eine christliche Art zu sterben

Endlich auf Deutsch: Horacio Verbitskys Buch über die Todesflüge der argentinischen Luftwaffe während der Diktatur
Klaus Jetz

Bis zu 30 000 Menschen wurden während der letzten argentinischen Militärdiktatur 1976 bis 1983 ermordet, viele verschwanden und tauchten nie wieder auf. Allein in der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) mitten in Buenos Aires wurden 5000 Menschen getötet. Sie wurden entführt, gefoltert, gefangen gehalten, schließlich betäubt und auf Flüge gebracht, die immer mittwochs stattfanden, dann über dem Río de la Plata oder dem offenen Meer nackt aus dem Flieger abgeworfen. Diese Geschichte war schon während der Diktatur bekannt, ebenso wie die Existenz der geheimen Folterstätten überall im Land. Davon hatten Überlebende berichtet, etwa Adolfo Pérez Esquivel, der 1980 den Friedensnobelpreis erhalten sollte, sich in einem der Todesflieger befunden und wie durch ein Wunder überlebt hatte.

Zudem hatte die von Ernesto Sábato geleitete Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (Nationale Kommission über das Verschwindenlassen von Personen), die Präsident Alfonsín 1983 eingesetzt hatte, in ihrem Abschlussbericht Nunca Más (Nie wieder) von 1984 ausführlich über viele Grausamkeiten des Videla-Regimes, auch die Todesflüge, berichtet. Auch im Prozess gegen Videla, Massera und andere hauptverantwortliche Mitglieder der Militärjunta war 1985 über diese Vorfälle berichtet worden. Damals verurteilte das Bundesgericht in Buenos Aires Videla und Massera zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, doch schon 1990 wurden beide von Präsident Carlos Menem begnadigt. Erst 1998 wurden Videla und Massera erneut angeklagt wegen des Raubes von Neugeborenen, die den gefolterten und später ermordeten Müttern in der Haft weggenommen und zur Adoption an Familien von Militärs überlassen wurden, Straftaten, die nicht unter das Schlusspunktgesetz und andere Gesetze zur Straffreiheit fielen. Videla starb 2013 im Gefängnis, Massera wurde nicht mehr der Prozess gemacht, da er wegen eines Schlaganfalls für verhandlungsunfähig erklärt wurde. Er starb im November 2010. Viele Einzelheiten der Repression waren also längst bekannt, als 1995 das Buch El Vuelo des argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky erschien. Erst jetzt, zum 40. Jahrestag des Militärputsches, erschien dieses Buch im Wiener Mandelbaum Verlag mit dem deutschen Titel „Der Flug. Wie die argentinische Militärdiktatur ihre Gegner im Meer verschwinden ließ“. In der argentinischen Originalausgabe berichtete vor über 20 Jahren erstmals einer der Täter, der Marineoffizier Adolfo Scilingo, ausführlich über die Verbrechen der Diktatur. Scilingo war in der ESMA eingesetzt und hatte an den Todesflügen teilgenommen. Er ärgerte sich, dass in der Menem-Zeit einige Offiziere befördert, andere aber bestraft werden sollten. Ihm ging es um die Verantwortlichkeit für die Verbrechen der Diktatur, nicht um die schweren Menschenrechtsverletzungen an sich. Und es wurmte ihn, dass er nie eine Antwort auf Briefe bekam, die er etwa an den begnadigten Videla schrieb, der immer jegliche Verantwortung von sich gewiesen hatte. Offiziere, die Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, hätten auch nur Befehle ausgeführt, so Scilingo. Deshalb kontaktierte er den ehemaligen Montonero (linksperonistische Guerillagruppe in den siebziger Jahren – die Red.) und bekannten Journalisten Horacio Verbitsky und führte mit ihm stundenlange Gespräche, die auch aufgezeichnet wurden.

Verbitskys Buch mit Scilingos Geständnissen und Enthüllungen löste 1995 ein gewaltiges Echo im Land aus, was bei den Überlebenden und Familienangehörigen der Verschwundenen zunächst für Verbitterung sorgte. Der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck ruft dies in seinem informativen Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe in Erinnerung: „Wir haben es euch seit über einer Dekade immer und immer wieder berichtet – warum bedarf es nun eines Täters, um die Wahrheit dieses Geschehens zu bestätigen?“

Doch das Buch sorgte wegen des gewaltigen Echos dafür, dass der Druck auf die argentinische Justiz zunahm. Der Anfang vom Ende der Straflosigkeit wurde eingeleitet, und 1996 erstattete ein transnationales Netzwerk progressiver JuristInnen Strafanzeige in Spanien gegen Täter der argentinischen Militärdiktatur. In Argentinien hatte sie damals noch keine Aussicht auf Erfolg gehabt wegen der noch geltenden Amnestiegesetze. Die sollten erst 2004 wahrend der Präsidentschaft von Néstor Kirchner aufgehoben werden. Die JuristInnen beriefen sich auf das Weltrechtsprinzip, nach dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit überall auf der Welt verfolgt werden können. Immer mehr Prozesse gegen argentinische Täter wurden auch in Spanien, Italien oder Deutschland angestrengt, auch weil viele Opfer der argentinischen Militärdiktatur familiäre Wurzeln in diesen Ländern hatten. In Deutschland wurde der Fall der ermordeten Studentin Elisabeth Käsemann bekannt. In Nürnberg gründete sich 1998 die „Koalition gegen Straflosigkeit in Argentinien“, die allein Strafanzeigen gegen 80 argentinische Militärs erstattete.

Doch zurück zu Verbitskys Buch. Welcher Art sind die Geständnisse Scilingos? Was genau beichtet er Verbitsky? Er spricht darüber, wie die Flüge vonstatten gingen, über die Opfer, die im Keller des ESMA-Kasinos mit einer Spritze betäubt wurden („man informierte sie, dass sie in den Süden verlegt und deshalb eine Impfung erhalten wurden“), von dort halbbetäubt („sie wirkten wie Zombies, waren völlig benommen“) einmal in der Woche („zwischen 15 und 20 Uhr, jeden Mittwoch“) per LKW („Lastwagen der Marine, ein grüner Lastwagen mit einer Plane“) zum Militärflughafen von Buenos Aires („zum Hintereingang“) und zu einem Flieger („einer Skyvan der Küstenwache“) gebracht wurden („man musste ihnen helfen“ beim Einsteigen ... „niemand ahnte, dass er sterben wurde“). Im Flieger wurde den Opfern eine weitere Spritze verabreicht („sie schliefen ganz und gar ein“), sie wurden entkleidet („ich werde das Bild der nackten Körper nicht mehr los, aufeinander gestapelt im Gang des Flugzeugs wie in einem Film über den Nationalsozialismus“), die Heckklappe („sie hatte eine Art Kippmechanismus“) wurde geöffnet, die Opfer lebendig ins Meer geworfen („dann haben wir begonnen, die Subversiven dort hinauszuschieben“).

Scilingo spricht auch über diejenigen, die die Befehle erteilten. Es war der Admiral Luis María Mendía, der den versammelten Offizieren auf dem größten Marinestützpunkt Puerto Belgrano befahl, die Gefangenen geheim und mittels Abwurf über dem Meer zu exekutieren. Es seien „spezielle militärische Operationen geplant“, um den Feind, dem „mit Standardoperationen nicht beizukommen“ sei, zu bekämpfen. Früher habe man im Kampf Uniform getragen, um sich vom Feind zu unterscheiden, jetzt würden sie Zivilkleidung tragen zwecks Tarnung. Die zu exekutierenden „Subversiven würden fliegen“, und so wie es immer Menschen gebe, „die Probleme haben, würden einige nicht an ihrem Ziel ankommen“. Dann berichtet Scilingo, Mendía habe gesagt, man habe „mit den kirchlichen Autoritäten Rücksprache gehalten“, um einen Weg zu finden, der „christlich und wenig gewaltsam sein würde“, und die Kirche habe die Methode als „eine christliche Art zu sterben“ bezeichnet. Scilingo selbst hatte nach einem Flug Gewissensbisse verspürt und sich einem Geistlichen der ESMA anvertraut, „der eine christliche Auslegung des Themas“ fand: „Er sagte, es sei ein christlicher Tod, weil sie nicht leiden mussten, weil es nicht traumatisch war, und dass man sie eliminieren musste, dass der Krieg eben der Krieg sei, und dass auch in der Bibel steht, dass die Spreu vom Weizen getrennt werden muss.“
Scilingo verbüßt heute in Spanien eine Haftstrafe. 2005 verurteilte ihn der Nationale Gerichtshof Spaniens zu 640 Jahren Haft wegen der Teilnahme an den Flügen, bei denen er 30 Menschen ins Meer geworfen hatte. Verbitsky ist seit 2000 Präsident der Menschenrechtsorganisation Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS), die sich dem „Schutz der Menschenrechte“ und der „Stärkung des demokratischen Systems in Argentinien“ widmet. 2014 besuchte Verbitsky Scilingo im Gefängnis von Alcalá, Scilingo scheine mit der Strafe, die er für seine Verbrechen gesucht habe, zufrieden zu sein, so Verbitsky im Epilog zur deutschsprachigen Ausgabe seines Buches, dem er auch einen informativen Anhang mit Kurzbiografien, Chronologie und Abkürzungsverzeichnis beigegeben hat. Darin finden sich unzählige Informationen zu wichtigen Akteuren und Ereignissen, zu Argentiniens Kehrtwende in der Strafverfolgung und der neuen Vergangenheitspolitik, die Néstor Kirchner einleitete, zum Wirken des Ermittlungsrichters Daniel Rafecas, der seit 2004 Ermittlungen zu den Verbrechen der Militärdiktatur durchführt oder zu den Taten gewöhnlicher Verbrecher wie Junta-Admiral Emilio Massera, der außer unzähligen Diktaturopfern auch den sehr begüterten Unternehmer Fernando Branca, den Gatten einer Geliebten, verschwinden ließ („der von einem gemeinsamen Segelausflug mit der Dienstyacht des Marineoberbefehlshabers nicht zurückgekommen war“), dessen Vermögen dann in kurzer Zeit verscherbelt wurde. Auch diese Geschichten „von Blut, Sperma und Tränen“, Mafia, Mord, Entführungen und Korruption sorgen dafür, dass sich „Der Flug“ in weiten Teilen wie ein spannender Krimi liest.

2001 erklärte die argentinische Justiz die Straflosigkeit, also das Schlusspunktgesetz von 1986 und das Gesetz über den pflichtgemäßen Gehorsam von 1987, für ungültig und verfassungswidrig. Bis heute wurden bei den im ganzen Land durchgeführten Prozessen rund 600 Menschen verurteilt, über 50 freigesprochen, in über 250 Fällen mussten die Verfahren mangels Beweisen eingestellt werden. Das Vorgehen der argentinischen Justiz in den vergangenen 15 Jahren ist vorbildlich und einmalig. Nirgendwo sonst, weder in Uruguay, Chile, Brasilien, Kambodscha, Liberia oder Indonesien wurde gegen die Straflosigkeit bei Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Ausmaß juristisch, politisch und durch Aktionen der Zivilgesellschaft vorgegangen wie in Argentinien, wo Familienangehörige, KünstlerInnen, Politik und JuristInnen an einem Strang zogen, um die Schuldigen an den Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur zu bestrafen. Dem argentinischen Modell ist Erfolg auch in anderen Ländern zu wünschen, denn Straflosigkeit konserviert Unrecht, verhindert die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und gebiert neue Gewalt.