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Chiles Richter in alter Tradition

Die Justiz zeigt Härte gegen Mapuche-Aktivisten und Milde für Mörder in Diensten der Großgrundbesitzer

Als Menschenrechtsbeobachter im Auftrag der GfbV (Gesellschaft für bedrohte Völker e.V.) und im Rahmen seiner Forschungsarbeit zur internationalen Solidarität mit den Mapuche war Sebastian Garbe acht Wochen in der Araucanía, dem Gebiet der Mapuche im Süden Chiles. Dabei erlebte er zwei verschiedene Gerichtsverfahren, die in erschreckender Weise deutlich machen, was das Leben eines Indígena für den chilenischen Staat wert ist.

Sebastian Garbe

Chile im Jahr 2016: auch mehr als 130 Jahre nach der sogenannten „Befriedung der Araucanía“, der gewaltsamen Eroberung der unabhängigen Mapuche-Nation durch den chilenischen Staat, kann von Befriedung keine Rede sein. Im Gegenteil: der Konflikt zwischen dem chilenischen Staat und der heterogenen Mapuche-Bewegung bedarf nach wie vor einer politischen Lösung, die allerdings vonseiten des Staates mit erstaunlicher historischer Konsequenz verweigert wird. Die aktuelle Konjunktur dieses Konfliktes lässt sich auf einen Bruch Ende der 1990er-Jahre zurückführen, als Teile der Mapuche-Bewegung ihre Forderungen nach Autonomie, Territorium und Selbstbestimmung nicht mehr innerhalb des staatlichen Regelwerks realisierbar sahen und neue Wege wie zum Beispiel Landbesetzungen als recuperación productiva de tierras (produktive Rückgewinnung von Ländereien) suchten. Während der chilenische Staat bis heute an seiner Repressions- und Kriminalisierungsstrategie festhält, diversifizierte sich die Mapuche-Bewegung in den vergangenen Jahren deutlich: Die Fronten sind längst nicht mehr nur die Zufahrtsstraßen der Forstunternehmen oder die Ländereien von Nachfahren europäischer SiedlerInnen, sondern auch in zunehmendem Maße die sozialen Medien, die internationalen Menschenrechtsarenen in Den Haag oder Genf, chilenische Botschaften in Europa, die politischen Institutionen in Chile selbst1 sowie gegenhegemoniale Kämpfe innerhalb der chilenischen Zivilgesellschaft um Interkulturalität. Während in diesem Kontext der chilenische Staat eine politische und soziokulturelle Antwort auf diesen Konflikt verwehrt, spricht das chilenische Rechtssystem eine unmissverständliche Sprache und verweist, gemäß dem Soziologen Pierre Bourdieu, auf die strukturelle Logik staatlicher Praxis. Diese Logik wird nun deutlich sichtbar, wenn man die Rechtsprechung bei zwei Fällen vergleicht, die ich während meines Aufenthalts in Chile als Menschenrechtsbeobachter aus nächster Nähe begleiten konnte.

Der erste Fall geht zurück auf die Ereignisse am Morgen des 1. Oktober 2014: An diesem Tag besuchte etwa ein Dutzend Mitglieder der Mapuche-Gemeinde Nilpe 2 den gleichnamigen Großgrundbesitz Nilpe einige Kilometer südlich der Stadt Galvarino in der Provinz Cautín. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Rückkaufaktion des Landstücks, das von dem Großgrundbesitzer Raúl Quintas landwirtschaftlich bearbeitet wird, durch die staatliche Indigenenbehörde CONADI für die Mapuche-Gemeinde Nilpe 2 verhandelt. Mit Besuchen dieser Art übte die Gemeinde Druck auf die CONADI aus, den Rückkauf und die Übergabe an die Gemeinde schneller abzuwickeln. Im Kontext dieser politischen Aktionen wurde am Morgen des 1. Oktober 2014 der 33-jährige José Quintriqueo Huaiquimil, comunero der Mapuche-Gemeinde Nilpe 2, von dem Landarbeiter José Cañete mit dem Traktor überfahren und erlag wenig später seinen Verletzungen. José Cañete wurde daraufhin im November letzten Jahres zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und einem Tag verurteilt sowie zu einer Entschädigungszahlung von umgerechnet 870 US-Dollar an die Familie des verstorbenen José Quintriqueo. Nachdem das Berufungsgericht von Temuco dem Antrag der Strafverteidigung von José Cañete auf Annullierung des Urteils im Dezember 2015 stattgegeben hatte, begann der Prozess, kurz nach meiner Ankunft in Temuco, von neuem. Dabei bat mich Mauricio Vergara, Generalsekretär der AMCAM, als Menschenrechtsbeobachter diesen zweiten Prozess zu begleiten. Nach eineinhalb Wochen Prozess fielen Urteil und Strafmaß zum Entsetzen der anwesenden Gemeinde- und Familienmitglieder jedoch nicht anders aus: Mord mit der kleinstmöglichen Freiheitsstrafe von fünf Jahren und einem Tag.

Wir wechseln die Szenerie: Am Neujahrstag 2015 wurde Guido Carihuentro, comunero der Mapuche-Gemeinde Carimán Sánchez, unter dem Verdacht verhaftet, an einem Brandanschlag am Morgen dieses Tages auf drei Forstfahrzeuge und zwei Landwirtschaftsgeräte auf dem Land des Großgrundbesitzers Alejo Vielma Palma bei Guiñimo in der Gemeinde Freire beteiligt gewesen zu sein. Bei seiner Verhaftung wurde Guido Carihuentro zunächst angeschossen, von Polizeibeamten zusammengeschlagen und später gefoltert. In einem kürzlich veröffentlichten Kommuniqué schreibt Guido Carihuentro dazu selbst Folgendes: „Am Tag meiner Ergreifung, dem 1. Januar 2015, wurde ich lebensgefährlich verletzt. Seitdem wurde ich immer wieder gequält; unter Folter und während des Verhörs wurden mir zunächst wiederholt Schmerzen in meinen Schusswunden an Hinterkopf, Augen, Hals und Thorax zugefügt. Die Gliedmaßen wurden mir verdreht und verrenkt, um eine Aussage zu erzwingen, die ich jedoch nie abgegeben habe, da ich nur noch halb bei Bewusstsein war.“2 In einem ersten Verfahren wurde Guido Carihuentro zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt, ein Urteil, das nun auf Druck der Staatsanwaltschaft annulliert wurde. In einem zweiten Prozess wurde Guido Carihuentro am 9. Februar 2016 der Brandstiftung schuldig gesprochen, wobei das Strafmaß allerdings auf eine Haftstrafe von acht Jahren angehoben wurde. In dem zweiten Prozess bot die Verteidigung nun an, eine Entschädigungsleistung für die zerstörten Fahrzeuge und Maschinen in Höhe von umgerechnet 1000 US-Dollar zu zahlen, was das Gericht jedoch ablehnte. Als ich Mitte Februar in Temuco ankam, wurde ich von einem Mitglied der Mapuche-Regionalgruppe der GfbV gebeten, Guido Carihuentro im Gefängnis von Temuco zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Carihuentro gemeinsam mit anderen Gefangenen im Trakt 1-3, allerdings ohne Berücksichtigung seiner immer noch gravierenden gesundheitlichen Lage. Nach mehreren Besuchen konnte ich erleben, wie sich die Lage von Guido Carihuentro zumindest dahingehend verbesserte, dass er in den Trakt für Mapuche-Gefangene verlegt wurde und somit längere Besuchszeiten sowie bessere hygienische Bedingungen und Gesundheitsversorgung erhält. Allerdings wurde ihm bis zu meiner Abreise das Recht verwehrt, seine Spiritualität und Religiosität frei auszuüben, was ihm gemäß der ILO-Konvention 169, die auch von Chile ratifiziert ist, zusteht. Als Ehemann einer Machi, spirituelle Autorität und Heilerin der Mapuche, übt er die Funktion des guillatufe und lleyipufe, eine Art Bindeglied zwischen HeilerIn und PatientIn, aus und ist dadurch unter anderem dazu verpflichtet, regelmäßig unter freiem Himmel und im Kontakt mit der Erde zu beten.

Während ich also in Temuco die Gerichtsverhandlung begleitete und im gleichen Zeitraum Zeuge der menschenverachtenden Behandlung von Guido Carihuentro wurde, zeigte sich zudem für alle Beteiligten die Unverhältnismäßigkeit im Strafmaß bei beiden Fällen. Nach der Urteilsverkündung von José Cañete brachte Sebastián Saavedra, in diesem Fall Nebenkläger und gleichsam Anwalt von Guido Carihuentro, dies folgendermaßen auf den Punkt: „Guido Carihuentro hat 700 000 (chilenische) Pesos hinterlegt, um seine Strafe wegen Angriff auf Privateigentum zu mildern, und Oscar Viñuela, Präsident des Gerichtshofes von Temuco, hat dies nicht akzeptiert. Im Gegenzug hat José Cañete 600 000 Pesos gezahlt, wobei es hier um das Leben einer Person ging. Anscheinend ist es in der 9. Region (der Araucanía) günstiger, einen Mapuche zu töten, als Lastwagen anzuzünden.“ 3 Die Gegenüberstellung beider Urteile macht in meinen Augen das Handeln einer chilenischen Justiz sichtbar, die dem Leben eines Mapuche weniger Wert einräumt als verkohlten Forstfahrzeugen. Die Praxis des chilenischen Rechtsstaats verfügt also über eine Logik, mit der die Entschädigungszahlung für den Mord an José Quintriqueo monetär geringer bemessen werden kann als ein Sachschaden. Diese Urteile und die ihr zugrundeliegende Logik sind in ihrer Unverhältnismäßigkeit zudem nur möglich, wenn das Leben einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe als weniger wert angesehen wird als das einer anderen. Dieses Leben wird von dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben als das „nackte Leben“ bezeichnet, das des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf. Im chilenischen Kontext macht die Kontinuität kolonialer und rassistischer Verhältnisse gegenüber den Mapuche diese Unterscheidung erst möglich und setzt sie gleichermaßen fort. Frieden kann in der Araucanía nicht herrschen, wenn ein Mapuche als homo sacer getötet werden kann. Erst wenn dies ein Ende hat, wäre auch eine politische Lösung des Konflikts wieder günstiger zu haben.