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Ein deutsches Verbrechen in Chile

Neues Buch zur Colonia Dignidad
Gert Eisenbürger

Seit fast vierzig Jahren haben wir immer wieder über die Colonia Dignidad berichtet, das „Mustergut“ einer obskuren deutschen Psychosekte in Chile, in der die BewohnerInnen gefangen gehalten und unterdrückt, Kinder sexuell missbraucht und in einem geheimen Folterlager der Geheimpolizei DINA politische GegnerInnen des Militärregimes Pinochets gequält und ermordet wurden.

Viele unserer Artikel zu diesem Thema stammten aus der Feder von Dieter Maier. Weil die Colonia Dignidad in Deutschland mächtige Freunde in Politik und (Waffen-)Industrie hatte, schrieb er seine Texte – darunter zwei Bücher – lange Zeit unter dem Pseudonym Friedrich Paul Heller.

Nun hat er eine weitere Buchpublikation vorgelegt, die seine bisherigen Recherchen zusammenfasst und die neueren Entwicklungen rekapituliert. Dieses Buch erschien unter seinem eigenen Namen. Im Vorwort erklärt er, das bisher zu seinem Schutz verwendete Pseudonym Friedrich Paul Heller sei nun nicht mehr nötig.

Mit der Flucht und Festnahme des inzwischen in Haft verstorbenen Sektengründers Paul Schäfer, der Verurteilung weiterer Täter aus der Führungsebene und der Strafverfolgung von für Folter und Mord verantwortlichen chilenischen Militärs ist der Apparat der Colonia Dignidad entscheidend geschwächt. Als die strafrechtliche Verfolgung der dort begangenen Verbrechen in Chile begann, gingen auch die deutschen Unterstützer auf Distanz zu der Kolonie.

Maiers Buch über die „Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile“, so der Untertitel, ist auch eine unendliche Geschichte von Strafvereitelungen, für die deutsche und chilenische Behörden gleichermaßen verantwortlich waren/sind. Das begann mit der Gründung der Siedlung. Bereits damals war der aus Troisdorf im Rheinland stammende Paul Schäfer Justizflüchtling. 1954 hatte er die „Private Sociale Mission“ gegründet, eine Sekte, die ihren Hauptsitz in Siegburg bei Bonn hatte. Dort begann die Staatsanwaltschaft 1960 gegen Schäfer wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbauchs von Jungen aus seinem Umfeld zu ermitteln. Um einem Verfahren zu entgehen, betrieb Schäfer die Auswanderung der Sektenmitglieder nach Chile.

Der Ermittlungsdruck der Staatsanwaltschaft scheint nicht sehr groß gewesen zu sein, denn die „Private Sociale Mission“ konnte geordnet ihre Übersiedlung vorbereiten und ihr Haus für 900 000 DM an die Bundeswehr (!) verkaufen. Mit diesem Startkapital und ihren der Sekte übertragenen Vermögenswerten reisten 1960/61 rund 200 Mitglieder nach Chile aus. Dieter Maier bezeichnet diese „Umsiedlung“ als größte Massenentführung der jüngeren deutschen Geschichte, denn zumindest die Kinder wurden faktisch nach Chile verschleppt, ohne dass Jugendämter zu ihrem Schutz eingeschritten wären.

Im Süden Chiles konnte die Sekte, die sich fortan Colonia Dignidad (Kolonie der Würde) nannte, mit dem mitgebrachten Kapital rund 18 500 Hektar unbebauten Landes erwerben, das die Mitglieder in den folgenden Jahren unter Einsatz härtester körperlicher Arbeit urbar machten und zu einem profitablen landwirtschaftlichen Gut ausbauten. Gleichzeitig ließen Schäfer und die engere Führung Sicherheitsanlagen und Zäune installieren und verschärften sukzessive die Überwachung der Mitglieder, die teilweise auch unter Medikamente gesetzt wurden.

Neben dem rigiden Arbeitsregime, das durchaus als Zwangsarbeit bezeichnet werden kann, versuchte die Führung der Colonia durch strikte Geschlechtertrennung sowie die Separation der Kinder von ihren Eltern, das Entstehen familiärer Widerstandszellen in der Kolonie zu verhindern. Gleichzeitig erleichterte das Schäfer, seine pädophilen Bedürfnisse auszuleben.

Allerdings bedeutete die Geschlechtertrennung und die starke Einschränkung von Eheschließungen, die nur Mitgliedern der Führungsebene gestattet wurden, dass es der Colonia Dignidad, in der in Spitzenzeiten bis zu 350 Menschen lebten, bald an Nachwuchs mangelte, weil kaum Kinder geboren wurden. Um das zu kompensieren, begann die Colonia Dignidad Kinder von armen chilenischen Kleinbauernfamilien zu „adoptieren“, die fortan ohne Kontakt zu ihren leiblichen Eltern auf dem Gut leben mussten.

Während innerhalb der Colonia das „Deutschtum“ gepflegt wurde, knüpfte Schäfer bald Kontakte zu rechten Militärkreisen in Chile. Auf Basis des gemeinsamen Antikommunismus kam man sich näher und begann Geschäfte zu machen. Dabei ging es sowohl um die Vermarktung der in der Colonia produzierten Agrarprodukte als auch um Waffen. Schäfer und seine Führungscrew verfügten offensichtlich über beste Kontakte zu deutschen Waffenproduzenten und -händlern. Erleichtert wurden solche Deals am Rande der deutschen und chilenischen Legalität dadurch, dass in der Kolonie eine eigene Landebahn für Flugzeuge gebaut wurde, über die die „Ware“ diskret eingeführt werden konnte.

Zu den Geschäften mit Waffen und Agrarprodukten kam nach dem Wahlsieg der Unidad Popular im September 1970 eine politische Kooperation. Die Colonia stellte der rechtsterroristischen Gruppe Patria y Libertad, die mit Sabotageakten und Attentaten eine Destabilisierung der Regierung Allende betrieb, ihre Infrastruktur zur Verfügung. Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 wurde die Colonia Teil des Repressionsapparates der Diktatur. Die Geheimpolizei DINA errichtete auf dem Gelände ein geheimes Folterlager. Wie in den meisten inoffiziellen Gefängnissen, wurde ein großer Teil der dorthin verbrachten Häftlinge getötet und gilt größtenteils bis heute als „verschwunden“. Durch die Auswertung der nach dem Ende des Militärregimes zugänglichen Dokumente kann es als sicher gelten, dass Angehörige der Colonia zumindest an der Beseitigung der Leichen beteiligt waren. Wahrscheinlich waren auch MitarbeiterInnen des Krankenhauses der Kolonie bei Folterungen anwesend und haben Gefangene zwischendurch medizinisch versorgt, damit sie nicht zu früh starben.

Mit dem Ende der Militärdiktatur und dem Amtsantritt der zivilen Regierung des Christdemokraten Patricio Aylwin im März 1990 war die Möglichkeit gegeben, gegen Schäfer und die anderen Führungsmitglieder vorzugehen, sowohl wegen des sexuellen Missbrauchs als auch wegen der während der Diktatur begangenen Verbrechen. Außerdem hätte man die wirtschaftlichen Aktivitäten der Siedlung unter die Lupe nehmen können. Doch Schäfer und seine Kumpane hatten aus Diktaturzeiten gute Verbindungen in den chilenischen Justizapparat, wo Ermittlungen verzögert wurden und Akten „verschwanden“. Als Präsident Aylwin 1991 die Auflösung der Colonia Dignidad dekretierte, ging Schäfer dagegen juristisch vor und organisierte – unterstützt von mächtigen konservativen Medien – eine PR-Kampagne, zu der auch ein Hungerstreik der Sektenmitglieder gehörte.

Schäfer hatte schon in der Endphase der Diktatur seine Siedlung in Villa Baviera umbenannt. In Südamerika wird Deutschland gerne mit Bayern, Bier und lustigen Menschen in Dirndl und Lederhosen assoziiert. Genau mit diesem populären Klischee versuchte die Colonia, in der außer Unterstützern aus der CSU nichts bayrisch war und ist, zu punkten und begann Oktoberfeste und bayrische Abende zu organisieren.

Ein wesentlicher Grund dafür, warum die Colonia so lange relativ unbehelligt blieb, war, dass sie von den chilenischen Behörden ganz offensichtlich als „Sache der Deutschen“ betrachtet wurde. Bereits vor der Diktatur hatte die deutsche Botschaft in Santiago ihre Hand über die Siedlung gehalten. Menschen, denen es trotz der Sperranlagen gelang, aus der Siedlung zu fliehen und in der Botschaft Hilfe zu suchen, wurden (bis auf einen Fall) nicht konsularisch betreut, wie es das Gesetz verlangt, sondern Männern der Colonia-Führung überlassen, die sie mit Versprechungen dazu überredeten zurückzukommen. Maier weist auf eine Aufstellung hin, die von bis zu 30 solcher Fälle ausgeht. Auch während der Diktatur und in den ersten Jahren danach blieb das Verhältnis von Botschaft und Colonia eng. MitarbeiterInnen waren dort regelmäßig zu Gast und Schäfer hatte seine Verbindungsleute in der Botschaft. Was bewog deutsche DiplomatInnen eine von einem Pädophilen geleitete dubiose Siedlung noch in den 80er-Jahren zu schützen, als in der bundesdeutschen Öffentlichkeit sehr kritisch über „Jugend- und Psychosekten“ berichtet wurde und es Programme gab, den Mitgliedern solcher pseudoreligiöser Gruppen den Ausstieg zu ermöglichen?

Maier weist auf das von Schäfer gespannte Netz von Unterstützern hin, zu dem vor allem Waffenschieber, rechtskonservative Wissenschaftler und (zweitrangige) Politiker aus der CSU gehörten. Sicher spielten der Antikommunismus und die Genugtuung, dass in Chile der Sozialismus durch den Putsch besiegt worden war, eine wesentliche Rolle, aber es muss auch um sehr wichtige und lukrative Geschäfte gegangen sein. Gerade das von Genscher geführte Auswärtige Amt war weniger an Menschenrechten als an guten Abschlüssen für deutsche Unternehmen aus jedweder Branche interessiert.

Dass es in Chile dann ab 1995/96 doch zu ernsthaften Ermittlungen gegen die Verantwortlichen der Colonia Dignidad kam, geht vor allem auf die Aktivitäten der Angehörigen der dort Gefolterten und Ermordeten sowie der Eltern der von der Colonia „adoptierten“ chilenischen Kinder zurück.

Bereits 1990 gab es die ersten Demonstrationen von Angehörigen der Verschwundenen vor dem Tor der Colonia. Die in der Folgezeit immer wieder durchgeführten Mahnwachen hatten zunächst wenig Resonanz. Erst als der Einfluss der Diktaturschergen schwächer wurde, wurden die Ermittlungsbehörden mutiger. 1995 gab es eine erste Razzia auf dem Gelände, der noch weitere folgen sollten. 1996 reichten chilenische Eltern Klage wegen des sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder in der Colonia ein. Hinweise für systematischen Missbrauch in der Siedlung hatte es schon in den 60er Jahren aufgrund der Aussagen geflohener Sektenmitglieder gegeben. Doch auch in diesem Fall verfuhr die chilenische Justiz so, dass sie das, was innerhalb der Siedlung geschah, als „Sache der Deutschen“ betrachtete. Den Missbrauch chilenischer Kinder konnte sie 1996 nicht mehr ignorieren und nahm deshalb auch Ermittlungen gegen Schäfer auf.

Doch es sollte noch bis 2005 dauern, ehe dieser in Argentinien festgenommen und nach Chile ausgeliefert wurde. Schäfer starb 2010 88jährig im Gefängnis in Santiago. Einige Führungsmitglieder sind in Chile in Haft, andere wie der Arzt Hartmut Hopp haben sich bisher ihrer Strafe durch Flucht nach Deutschland entzogen.

Viele der 1960/61 mit Schäfer nach Chile übergesiedelten Mitglieder der Colonia sind inzwischen verstorben oder gebrechlich. Die Villa Baviera ist überaltert und musste ihre ökonomischen Aktivitäten stark zurückfahren. Sie wäre vermutlich längst insolvent, wenn sie nicht durch deutsche Entwicklungshilfegelder in Millionenhöhe am Leben gehalten würde.

Obwohl es unter den verbliebenen Mitgliedern auch „Reformer“ gibt, geht das Bestreben der heute Verantwortlichen weiterhin dahin, einen Mantel des Schweigens über die Verbrechen der Colonia Dignidad zu breiten. Dass das, was dort geschah, zumindest in Deutschland seit 1977 immer wieder thematisiert wurde, ist Menschen wie Dieter Maier oder Jürgen Karwelat (siehe den nachfolgenden Beitrag) zu verdanken. Maier und Karwelat hatten bereits 1977 die erste, von Amnesty International herausgegebene Broschüre verfasst. Maier hat seitdem – stets mit Unterstützung seines kürzlich verstorbenen chilenischen Kollegen Carlos Liberona – kontinuierlich zur Colonia Dignidad recherchiert und publiziert. Dabei hat er immer wieder den Blick auf die Opfer von Schäfer und den chilenischen Folterern gelenkt. Deshalb möchte diese Rezension nicht nur auf sein neues Buch hinweisen, sondern auch das Engagement eines beharrlichen Aktivisten und Intellektuellen würdigen!